Georges Bataille

Nietzsche und der Wille zur Chance
Atheologische Summe III

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Batterien 74. Aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von Gerd Bergfleth. 320 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, ISBN 3-88221-858-4

„Der Wille zur Macht ist der Löwe, aber ist das Kind nicht ein Wille zur Chance?“

Wer sich mit Georges Batailles Denken beschäftigen will, kommt um dessen Rezeption von Friedrich Nietzsches Werken nicht herum. Batailles spezifische Nietzsche-Interpretationen, auf der u.a. sein Souveränitäts- und Freiheitsbegriff basiert, erwies sich als prägend für einige komplette Werke, u.a. die Wiedergutmachung an Nietzsche (Berlin 1999). Mit Nietzsche und der Wille zur Chance liegt das dreibändige philosophische Hauptwerk Georges Batailles, die „Atheologische Summe“, erstmals vollständig auf Deutsch vor. Vorangehende Bände sind Die Innere Erfahrung und Die Freundschaft (beide ebenfalls bei Matthes & Seitz Berlin erhältlich).

Georges Bataille setzt sich in Nietzsche und der Wille zur Chance also explizit mit dem Denken Nietzsches auseinander. „Mein Leben in der Begleitung Nietzsches ist eine Gemeinschaft, mein Buch ist diese Gemeinschaft.“ Im Unterschied zur 'wissenschaftlichen‘ Lesart Nietzsches, die sich darum bemüht, kühl und distanziert zu bleiben, wagt es Bataille, Nietzsche ganz in sich aufzunehmen und Konsequenzen aus ihm zu ziehen: „Nietzsche schrieb 'mit seinem Blut‘: wer ihn kritisiert, oder besser, ihn erprobt, kann es nur, indem er auch seinerseits blutet.“ So schafft Bataille einen neuen Raum für das Nachdenken – nicht existentialistisch, sondern existentiell. Von Nietzsche ausgehend geht er über ihn hinaus und fesselt den Leser mit Fragen, die Wunden aufreißen. Im Zentrum steht die Frage nach der Möglichkeit von Spiritualität jenseits aller Religionen. Bataille bleibt Metaphysiker, verweist aber auf eine umgekehrte Transzendenz, eine Transzendenz, die nicht ins Jenseits, sondern mitten ins Irdische hineinführt (dazu schreibt auch Gerd Bergfleth in seinem Nachwort).

Bataille

Literarisch bricht Bataille in diesem erstmals 1945 erschienenen Buch die klassische Form, um, Foucault zufolge, „auszudrücken, was vor ihm noch niemandem auszudrücken gelungen ist.“ Er reiht Aphorismen assoziativ aneinander, lässt sie korrespondieren, und immer wieder in einzelnen Denkanstößen kulminieren: „Die Fragen, die ich aufwerfe, betreffen das Gute und das Böse in ihrem Verhältnis zum Wesen und zu den Wesen.“ Das Böse also taucht immer wieder auf als ein Bezugspunkt auf der Suche nach einem Begriff der „Freiheit“: „Der Entschluß zum Bösen ist der zur Freiheit, 'der Freiheit als Befreiung von jeder Fessel.“ Zerrissen bleiben Text und Denkfluss in diesem Buch, das einem Strom der Gedanken folgt und weit mehr über Bataille offenbart, als dass es eine Auseinandersetzung mit dem deutschen Vorbild ermöglicht. Und natürlich kommt er auf seine großen Themen zu sprechen: das Opfer, das Heilige, die Gewalt, die Verschwendung, das Martyrium – die Parallele von Christus und Zarathustra. Formal konsequent münden Batailles Reflexionen schließlich in ein Tagebuch, das die Gedanken des Frühjahrs 1944 dokumentiert – Kriegsgedanken sind das, Krisengedanken zumal, die sich an Wiedersprüchen zerquälen. „Ich bin an diesem Morgen in heiterer Stimmung erwacht. Niemand offensichtlich, der irreligiöser, fröhlicher wäre als ich.“ Dabei kommt er auch auf die „Chance“ zu sprechen: „Chance ist das, was vorfällt, was fällt (ursprünglich glückliche oder unglückliche Chance). Es ist der Zufall, der Fall eines Würfels.“ Batailles Religion ist die bewusste Hingabe an diesen Fall, der „Wille zur Chance“ (mehr noch als der „Wille zur Macht“).

Aber der Autor lässt uns auch an seinen Ängsten teilhaben, an jenen Tagen, an denen die fernen Bombeneinschläge „zur Gewohnheit“ geworden sind. An seinen Erlebnissen selbstgewählter Einsamkeit. „Dann endlich die Chance. Aber meine Situation bleibt verworren.“ Im Kriegssommer 1944 begreift er: „Amor fati bedeutet die Chance wollen, abweichen von dem, was war. Das Unbekannte gewinnen und spielen.“ Als der Krieg im Inferno verebbt, beschließt der Autor sein Werk mit einem eindrucksvollen Epilog, der in seiner scharfsinnigen Beobachtung der Umwelt an Ernst Jüngers Tagebücher erinnert.
Im Brief an Sartre schreibt Bataille, warum die Kritik an seinem Denken so schwierig sei: „Was man auch sagen mag, meine Antwort ist schon im Voraus gegeben: ich werde aus einer gelungenen Kritik, wie sie vorkommt, nur ein neues Mittel der Angst und folglich der Trunkenheit entnehmen können.“ (S. 242) Der Wille zur Chance, der hier in einem umfassend ergänzten, gelungen übersetzten Buch vorliegt, bleibt ein großes intellektuelles Abenteuer, eine Herausforderung des (post)modernen, aufgeklärten Denkens, eine riskante Erfahrung. Und „der Rest ist Schweigen.“

Marcus Stiglegger

Weiterführende Links:

Bataille in :Ikonen:

Michel Leiris in :Ikonen:

Matthes & Seitz Berlin