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Michel Leiris
Spiegel der Tauromachie
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Aus dem Französischen von Verena von der Heyden-Rynsch;
Zweisprachig, mit Zeichnungen von André Masson; Broschiert, 141
Seiten; € 19,80 / 34,80; ISBN 3-88221-217-9
Der Torero Auge in Auge mit dem
Stier, angesichts eines bösen Spiegels. - Die Capa beschwört
die Bestie (ruft sie herbei) und verabschiedet sie (weist sie ab) wie
das kultische Opfer die Gottheit beschwört und wieder entläßt.
Aufgeblähtes Tuch, systematische Entfesselung der Kräfte. Entscheidend
ist, daß der Mensch sich ausreichend beherrscht, damit der Sturm
sich in der Schwebe hält.
Michel Leiris, Spiegel der Tauromachie (S.11)
Michel Leiris - Ethnologe und Surrealist - nahm in seinem
Denken zahlreiche Elemente vorweg, die Georges Bataille in seiner Theorie
der Verschwendung (u.a. "Der verfehmte Teil") zur Anwendung
brachte. Schlüssel zu diesem Bild des Energieüberschusses, der
verschendet werden muss, um sich nicht destruktiv auf den Menschen auszuwirken,
ist das rituelle Opfer, und somit die Huldigung des Heiligen, das mit
diesem Opfer geehrt werden soll. Bereits in seinem Aufsatz "Le Sacré
dans la vie quotidienne" in der Nouvelle
Revue Francaise schrieb Leiris über seine Idee des persönlich
definierten Heiligen (mon sacré):
"Welches sind die Gegenstände, Orte und Umstände,
die in mir diese Mischung aus Furcht und Zuneigung erwecken, diese zweideutige
Haltung, die sich einstellt beim Herannahen einer zugleich anziehenden
und gefährlichen, wertvollen und verworfenen Sache, diese Mischung
aus Ehrfurcht, Begierde und Schrecken, die als das psychologische Anzeichen
des Heiligen gelten kann?"
Die hier beschriebene Ambivalenzerfahrung, die zugleich
gefürchtet und ersehnt wird, umschreibt, die Grundvoraussetzungen
für die Idee des Heiligen und des Opfers zugleich: "Halten wir
zunächst fest, daß das Heilige hier durch die Gefühlsambivalenz
dessen beschrieben wird, der mit ihm umgeht. Es flößt Begierde
und Zuneigung ein, aber zugleich auch Furcht und Schrecken. Die Erfahrung
des Heiligen wäre mithin eine, die außerhalb der Welt des Rationalen
steht, in der die Gegensätze klar voneinander geschieden sind,"
schreibt Peter Bürger in "Der Ursprung des postmodernen Denkens"
(2000) dazu. Der französische Philosoph Georges Bataille sah diese
Ambivalenzerfahrung des Heiligen zunächst in der Erotik ("L'èrotisme",
1956, deutsch ursprünglich bezeichnend übersetzt als "Der
heilige Eros", später "Die Erotik"), die er mit der
Erfahrung der Grenzüberschreitung (Transgression) koppelte.
Georges Batailles Zeitgenosse Michel Leiris wurde 1901 in
Paris geboren und gehörte von 1924 bis 1929 der Gruppe der Surrealisten
um André Bréton an. Er arbeitete zunächst als Ethnologe
und zählt heute zu den wichtigsten französischen Schriftstellern
seiner Zeit. 1990, nach Vollendung seines vierbändigen literarischen
Hauptwerks, seiner Autobiographie "Die Spielregel", starb er.
Seine zentrale literarische Maxime lautet: „Keine schöne Lüge
produzieren, sondern eine Wahrheit, die ebenso schön wäre wie
die schönste Lüge." Die permanente Mischung aus Essay,
wissenschaftlichem Traktat und Poesie wurde für sein Werk ebenso
bezeichnend wie für andere französische Zeitgenossen jener Jahre
(Sartre, Camus).
Der Berliner (vormals Münchner) Verlag Matthes
& Seitz bringt nun eines von Leiris' schönsten und schillerndsten
Werken neu heraus: In "Spiegel der Tauromachie" (1980, dt. 1982),
einer Mischung aus Aphorismensammlung und Essay, gleitet Leiris' Beschreibung
der Corrida,
des spanischen Stierkampfes, immer wieder in eine Schilderung nahezu heiliger
Zeremonien über, "in die Beschwörung der mit Verderbnis
sich paarenden Schönheit, in einen Versuch über den Tod und
die Liebe" (Verena von der Heyden-Rynsch).
In einer einleitenden Vorrede fabuliert Leiris aphoristisch
und lyrisch über das blutige Ritual in der Arena, lässt zugleich
bereits hier immer wieder erotische Motive und Analogien einfließen.
Die ebenfalls vom Surrealismus beeinflussten Zeichnungen André
Massons, die dazu zu sehen sind, bringen diese Gleichung Tauromachie/èrotisme
auf den Punkt. Im essayistischen Haupttext entwickelt Leiris dann diese
Gedanken noch einmal schrittweise, beginnt bei der Sehnsucht des Menschen
nach der Erfahrung des Göttlichen und Heiligen und zielt von hieraus
driekt auf das kathartische Ritual der Feier des Heiligen, das er in der
Corrida sieht: Sie sei "mehr als
Sport" (S.41ff.) und "mehr als eine Kunst" (S.51ff.). Schönheit,
Tod und Erotik gehen hier vielmehr eine heilige Allianz ein.
Jahre später werden zwei Filme diese Ideen direkt aufgreifen:
Nagisa Oshimas AI NO CORRIDA (IM REICH DER SINNE, 1976) und Pedro Almodòvars
MATADOR (1987), die im ersten Fall implizit, im zweiten Fall explizit
das erotische Ritual mit der Corrida koppeln.
In beiden Werken endet diese sexuelle Selbstverschwendung programmatisch
im freiwilligen Tod der Liebenden.
Michel Leiris ebenso kleines wie schmuckes Büchlein
ist der Schlüssel zum Verständnis einer für das moderne
Denken befremdlichen Welt "jenseits von Gut und Böse",
ein philosophisch-transgressiver Essay über die 'letzten Dinge' menschlicher
Erfahrung: die Begegnung mit dem Heiligen selbst.
Marcus Stiglegger
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