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Katarina Nikiforos
Pfad der Freiheit
Notizen zu einer Philosophie der Schwere bei Friedrich
Nietzsche, Georges Bataille und Michel Foucault
Was ist das Schwerste, ihr Helden? So fragt der tragsame
Geist, dass ich es auf mich nehme und meiner Stärke froh werde.
Friedrich Nietzsche
Vorbemerkung
Hier finden sich Anmerkungen zu einem Lebensstil, der in bewußter
Abgrenzung zu passiver Konsumhaltung eine zeitgemäße Form der
Individualität und der damit verbundenen Verantwortung entwickeln
möchte. Die gewählten Stichworte verkörpern Schlüsselbegriffe
des bewußten Denkens und Handelns und lassen sich weniger lexikalisch
als komplex verflochten verstehen. Die kurzen Essays ergeben ein sich
gegenseitig bedingendes Geflecht – wenn man so will eine Philosophie
der Schwere –, das den Pfad der Freiheit in all seinen Konsequenzen
und seinem Nutzen verdeutlicht.
Respekt
Respekt vor allem Leben – menschlichem und anderem – ist die
wesentliche Basis des Zusammenlebens. Respekt ist das Resultat einer tiefen
Einsicht in die potentielle Einzigartigkeit eines anderen Wesens. Er bedingt,
nicht den Lebensraum eines anderen Wesens unnötig zu stören,
seine Lebensform anzuerkennen und keinen mutwilligen Schaden anzurichten.
So haben sich zahlreiche – heute größtenteils überkommene
– Rituale etabliert, die Respekt erweisen: etwa die Begrüßung
mit Körperkontakt, die auf eine gutartige Gesinnung schließen
lässt, ebenso das Dankesritual eines Jägers beim Erlegen seiner
Beute. Mit der Anonymität der Massengesellschaft sowie der Automatisierung
von Tierschlachtung zum Konsum – sowie Massentierhaltung –
sind diese Riten des Respekts scheinbar unwichtig geworden. Mitmenschen
sind zu konsumierbaren Medien der Zerstreuung geworden, jederzeit austauschbar,
Nahrungstiere wurden zu bequem konsumierbarem Fleisch, das im Verlauf
seines Produktionsprozesses selbstverständlich getötet werden
muß. Die Achtung vor der Existenz ist in beiden Fällen verschwunden.
Mit der prinzipiellen Überwindung jeglicher Naivität wird die
rein konsumierende Lebenshaltung zur Qual. Der Weg der Schwere hält
sich die Grenzen des parallel existierenden Lebens permanent vor Augen,
wägt ab und entscheidet sich. Blinder Konsum ist keine Entscheidung
sondern eine Ausblendung der Realität sowie eine verachtenswerte
Form unreflektierter menschlicher Egozentrik.
Konsumgesellschaft
Die materialistische Konsumgesellschaft hat nach eigenen Begriffen das
konkrete Bedürfnis nach Krieg überwunden und empfindet sich
selbst als friedfertig. Tatsächlich wird der nach außen projizierte
Konflikt früherer Gesellschaften, die Krisenzeiten oft im Krieg überwinden
und verdrängen wollten, umgewandelt in einen umfassenden, latenten
Kriegszustand. Was als ein funktionierendes System heterogener Koexistenz
gedeutet wird, entspricht dabei einem Geflecht stiller Kämpfe, motiviert
durch berufliche Konkurrenz, Sexismus und unterschwelligen Rassismus.
Die Selbsterhöhung bestimmter Klassen fungiert als geheime Richtgröße,
die nur eine systematische Gegenwehr der Übervorteilten erzeugt und
das Vorurteil zum destruktiven Leitsatz erhebt. Unbedingter Konkurrenzkampf
beginnt mit dem Eintritt des Kindes ins öffentliche Leben (Kindergarten,
Schule) und wird in Ausbildung, Studium und Beruf besiegelt. Einen selbstbestimmten,
wachen Menschen kann diese Gesellschaft nicht gebrauchen, vielmehr fördert
sie alle Prozesse, die ihn zu einem funktionierende, konformen Teil des
Systems machen. Der lächerliche Lohn des Wettbewerbs fungiert als
Anreiz, sich auszuliefern, Reflexion, Werte und Hinterfragung bleiben
auf der Strecke. Selbstbestimmt zu Denken und zu Handeln ist der größtmögliche
Widerstand gegen die Konsumgesellschaft und zugleich deren geheimes Feinbild.
Nicht umsonst werden auch geisteswissenschaftliche Studiengänge immer
berufsbezogener gestaltet: Sie dienen nicht mehr der Ausbildung verantwortungsbewußter
Vordenker einer Gesellschaft, sie produzieren schlicht Arbeiter auf intellektueller
Ebene.
Jede Ausbildung eines reflektierten Geistes, der den Weg der Schwere auf
sich nimmt, um sich dem Konkurrenzkampf der materialistischen Konsumgesellschaft
zu entziehen, ist deshalb wertvoll. Der Ansatz für eine Veränderung
der Basis wäre also, wie eh und je, in der schulischen Sozialisation
der Menschen zu suchen. Bewußtes Denken und Handeln ist konstruktiver
Widerstand. Voraussetzung für die Ausbildung ist der unbeschränkte
Zugang zu jeder gewünschten Information. Es geht jedoch nicht um
Ausprägung der sogenannten „Informationsgesellschaft“,
die den Medienrezipienten mit eine kaum zu bewältigenden Anzahl ungewünschter
Informationen überfüttert; vielmehr sollte es möglich sein,
Informationen zu einen bestimmten Thema zu selektieren. „Der totale
Krieg ist zu einem Krieg um Informationen geworden, und wir befinden uns
in Mitten dieser Entwicklung... Information ist der Schlüssel zur
Veränderung, der Schlüssel zur Erkenntnis, überhaupt der
Schlüssel zur Entfaltung auf allen Ebenen. Die Macht über diese
Welt liegt im Grunde in den Händen derjenigen, die Zugang zu größtmöglichen
Informationen haben und diese Informationen kontrollieren,“ schreibt
Genesis P. Orridge in seinem Essay Einsturz des Kontrollsystems. Informationsbeschaffung
und -auswertung darf jedoch in keinem Fall zur Denunziation eines bestimmten
Individuums mißbraucht werden.
Angriffe ad personam sind ein übliches Mittel totalitärer Systeme,
die die Freiheit des Gedankens nicht tolerieren können. „Die
Kritik durch Richtspruch langweilt mich,“ sagte Michel Foucault
dazu 1980, „ich möchte eine Kritik mit Funken der Phantasie.
Sie wäre nicht souverän, noch in roter Robe. Sie wäre geladen
mit Blitzen aller Gewitter des Denkbaren.“ Diskutieren läßt
sich lediglich über Resultate und Taten, nicht über Träume
und Emotionen. Der „Richtspruch“ ist der Komplexität
der Existenz niemals angemessen. „Frei verdient ein Geist genannt
zu werden, der sich fern hält von Richtern und Henkern,“ sagte
Georges Bataille in seinem Aufsatz Nietzsche und die Moral.
Erwachen
„Nie entschläft, wer einmal wach gelebt“ ist eine Spruchweisheit,
die das Dilemma des Erkenntnisprozesses schonungslos formuliert. Wach
zu leben bedeutet nicht, angenehm zu leben, sondern ehrlich – zu
sich selbst und der eigenen Umwelt gegenüber. Die Bemühung zur
Wachheit trachtet nach einer radikalen Eindämmung jeglicher Verdrängung
– die nur in Krisensituationen sinnvoll sein kann; vielmehr geht
es um eine geistesgegenwärtige, umfassend informierte Wahrnehmung
des alltäglichen und außeralltäglichen Geschehens.
Nie wird man als wacher Betrachter seiner Umwelt die Kontrolle auf- oder
abgeben, wie es der unreflektierte Drogenkonsument oder uninformierte
Zeitgenosse vorzieht. Die Kontrolle auf- oder abzugeben ist bequem und
deshalb naheliegend für den unreflektierten Charakter. Wach zu leben
erfordert äußerste Disziplin und zugleich innere Festigkeit,
da die Einsicht in die Schattenseiten des Geschehens bei labilen Charakteren
Depressionen und Verunsicherung schüren kann.
Disziplin ist wichtig, um das Maß und die Balance des Handelns zu
bewahren. Jede Bemühung um Selbstausdruck gleitet unweigerlich ins
Lächerliche ab, wenn dieser nicht mit der notwendigen Ausgewogenheit
von Körperbewegungen und verbaler Artikulation erfolgt. Die Grenze
zwischen dem Erhabenen und dem Lächerlichen ist hier besonders labil.
Unreflektierter Drogenkonsum (speziell von Alkohol) verurteilt jede Bemühung
um Stil und wache Erhabenheit zum Scheitern.
Innere Festigkeit basiert zunächst auf dem permanenten Bemühen
um Selbsterkenntnis.
Auch der minimalste Fortschritt in diesem Feld fördert diese Festigkeit.
Zudem ist umfassende Ehrlichkeit sich selbst und den eigenen Bedürfnissen
– im Konstruktiven wie im Destruktiven – notwendig, um die
innere Festigkeit zu begünstigen. Die Auflösung dieses mentalen
Gefüges gefährdet die Individualität eines Charakters und
erzeugt augenblicklich Depression bzw. Verzweiflung. Hilfe besteht nur
in der offenen und bewußten Begegnung mit sich selbst, eine Begegnung,
die nur aufgrund unserer gesellschaftlichen Sozialisation als beängstigend
empfunden wird. Tatsächlich sind Talente ebenso wie Abgründe
gleichberechtigter Teil der gesuchten Individualität.
Erst wenn Disziplin und innere Festigkeit des Charakters gewährleistet
sind, kann das Individuum an eine Transgression, an die bewußt praktizierte,
temporäre Selbstauflösung, denken. Um bis zum letzten Moment
die Grenze, die es zu überschreiten gilt, überhaupt zu erkennen,
bedarf es umfassender Wachheit, die erst im Moment der Transgression aufgegeben
wird. Die temporäre Selbstauflösung kann nur aus sich selbst
heraus erfolgen (durch physische Manipulation, in der Sexualität,
im Sport, durch rituelle Übungen), um an dieser absoluten Aufgabe
der Kontrolle nicht auf unbestimmte Zeit ausgeliefert zu sein. Drogen
sind für diesen Zweck eher ungeeignet, da sie nur als einfaches Einwegticket
funktionieren, ein bewußtes Erleben bzw. Umkehren schwer möglich
machen.
Ein bewußtes Arbeiten mit bewußtseinserweiternden bzw. –fokussierenden
Substanzen kann u.U. sinnvoll sein – abhängig von der individuellen
Veranlagung bzw. Reaktion auf diese Substanzen –, erfordert jedoch
ebenfalls Disziplin und Konzentration. Drogen würden in einem solchen
Fall nicht zur Verdrängung oder Betäubung eingesetzt. Folgt
man hier jedoch Georges Bataille, stößt man in dessen philosophischem
Hauptwerk Die Innere Erfahrung (1943) auf die These, das wahre Erleben,
eben jene „Innere Erfahrung“, lasse sich nur jenseits eines
drogenbeeinflußten Geistes, nämlich durch „Fieber“
und „Angst“ machen. Erst mit der Annäherung an die 'absoluten
Grenzen‘, die mit diesen beiden Symptomen einher geht, können
auch Religion, Philosophie und natürlich Politik überwunden
werden.
„Wer durch die Naivität beschränkt wird, steht im Gegensatz
zum wachen Bewußtsein,“ schreibt Georges Bataille über
Jean Genet. Wach zu leben, bedeutet den Weg der Schwere zu beschreiten.
Die Leichtigkeit des Lebens wird nur noch für Momente aufscheinen,
charakterliche Unbeschwertheit wäre nur noch durch absolute Verdrängung
erreichbar. Doch der Weg der Schwere belohnt den Wachen mit den Früchten
einer tiefen Einsicht in Prozesse, die das eigentliche Geheimnis der Existenz
ausbreiten – nicht unmittelbar, aber beständig. Der Weg der
Schwere ist der Weg der Selbsterkenntnis und somit der Schlüssel
zur Balance und inneren Festigkeit.
Stil
In seinem Credo zum Imagismus fordert Ezra Pound bereits 1913 eine Entwicklung
bedingungslosen Stils in der Kunst, die sich jedoch direkt auch auf jene
des persönlichen Stils übertragen liesse: „Ich glaube
an den Stil als Bewährungsprobe für die Aufrichtigkeit eines
Menschen; an Regeln, wenn diese ermittelbar sind; an das Umstoßen
jeder Konvention, die sich der Ermittlung von Regeln oder der präzisen
Übersetzung der Eingebung entgegenstellt.“ Für ihn ist
bereits das Kultivieren von Stil ein Akt des Querdenkens.
Persönlicher Stil ist das Ergebnis eines permanenten Selbsterkennungsprozesses.
Er zeigt sich sowohl im kreativen Werk als auch in der physischen Erscheinung
eines Individuums. Deshalb kann die äußere Erscheinung, die
vermeintliche Oberfläche eines Menschen, letztlich nur zweierlei
sein: ein offenes Buch, in dem der aufmerksame Betrachter die Feinheiten
des Charakters gespiegelt findet, oder eine Maske, die in ihrer spezifischen
Beschaffenheit ebenfalls Rückschlüsse auf den Charakter zuläßt
und nicht selten ein noch verzweifelterer Versuch ist, die eigene Individualität
zu behaupten.
Stil ist also ein zutiefst persönliches Phänomen und zugleich
unabdingbar für Selbstbehauptung eines Menschen. Er kann insofern
nicht erkauft werden – und schon gar nicht von anderen Menschen
geschaffen oder ersetzt werden (etwa durch Imageberater). In der gegenwärtigen
Gesellschaft werden Marken als Surrogat für Stil benutzt, was in
dieser Vereinfachung einer Kapitulation vor sich selbst gleichkommt. Welche
Marke bin ich? Keine. Es ist unmöglich, den Stil einer anderen Person
zu imitieren. Diese Orientierung kann höchstens in Form einer vorsichtigen
Adaption als Akt des Experimentierens, des Suchens, erfolgen. Im Vordergrund
muß Nietzsches Forderung „zu werden, was man ist“ stehen.
Die größte Herausforderung besteht dann in der Balance zwischen
dem „Erhabenen“ und dem „Lächerlichen“. Ein
sich selbst als extrem und notwendigerweise nonkonform definierender Charakter
wird nach einer möglichst auffälligen Form für sich selbst
suchen. Da diese Form unmittelbar von den Mitmenschen wahrgenommen und
– bewußt oder instinktiv – gelesen wird, ist unbedingte
Ehrlichkeit bei der Re-Konstruktion der äußeren Form (sowohl
seiner selbst als auch eines Werkes) erforderlich, denn zu oft kommt es
zu Miß- oder Unverständnis. Für den unreflektierten Betrachter
ist die Grenze zwischen dem Erhabenen und dem Lächerlichen kaum zu
differenzieren, da dieser seinen Blick nie an sich oder seiner Umwelt
geschult hat. Eine unreflektierte Betrachtung ist damit weitgehend irrelevant.
Jegliches laut und ungefragt geäußerte Urteil ist überflüssig
und kann als hilfloses Zeichen für einen völlig ungefestigten
Charakter gedeutet werden, der von sich weg deutet, um als Umkehr völlig
unangemessene Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Auf diese Weise verbündet
sich allenfalls das gleichartig Undifferenzierte.
Selbsterkenntnis und Stilfindung ist ein permanenter, oft mühsamer
Prozeß, der nicht selten nach Revision und Korrektur verlangt. Schon
dieses mühsame Element macht ihn für den unreflektierten und
trägen Charakter unattraktiv. Zumal er jene Ehrlichkeit erfordert,
die mitunter in der beängstigenden Begegnung mit dem eigenen Schatten
gipfelt. Um „zu werden, was man ist“, ist diese Konfrontation
mit den eigenen Abgründen essentiell, ebenso wie das Erkennen der
eigenen Wünsche, Utopien und Bedürfnisse. Stil kann also nie
auf Verdrängung basieren. Eine Verdrängungskultur hat keinen
Stil, keine Selbsterkenntnis und keinen Charakter.
Disziplin
Diszipliniertes Verhalten setzt die Kontrolle der eigenen Bedürfnisse
voraus. Die Einsicht in die eigenen Bedürfnisse ist demnach der Beginn
jedes öffentlichen (interagierenden) Handelns. Durch die selbst gesteuerte
Disziplinierung des eigenen Verhaltens werden die Momente der bewußten
Entscheidung erst möglich, die auf ein funktionierendes Zusammenleben
ausgerichtet sind. Disziplin ist jedoch kein Automatismus, vielmehr muß
sie in langen Prozessen geübt werden, um eine individuell entsprechende
Annäherung den spezifischen eigenen Charakter zu ermöglichen.
Unreflektiertes Handeln, das die selbstdisziplinierende Instanz umgeht,
schwebt in der Freiheit der Naivität. Es gilt, für sich diesen
Zustand so weit möglich auszuschließen, statt dessen nach der
Freiheit des Bewußtseins zu streben. Naivität ist ein gefährlicher,
leicht auszubeutender Zustand, zumal in der materialistischen Gesellschaft.
Disziplin bedeutet jedoch keinesfalls der unbedingte Gehorsam gegenüber
einem konkreten oder abstrakten Anderen, sei es ein Mitmensch oder eine
Institution, es sei denn, diese Unterordnung wird als die dem Charakter
entsprechende gewünscht. Diese Form selbst bestimmter Disziplin jedoch
muß aus einem eigenen Erkenntnisprozeß erwachsen und ist am
Ende die freie Entscheidung zur Unterordnung. Keinesfalls darf sie als
Ergebnis einer passiven gesellschaftlichen Sozialisation von Kindheit
an entstehen, wie das in totalitären bzw. militaristischen Systemen
der Fall ist. Dort ist die Freiheit individueller Entscheidung zunächst
umgangen, um schließlich ganz eliminiert zu werden.
Disziplin als Form des freien, selbst bestimmten Handelns entspricht dem
Weg der Schwere, da sie einen hedonistischen Lebensstil ausschließt;
zu deutlich treten im reflektierten Abwägen die verheerenden Auswirkungen
der Egozentrik vor Augen.
Das Absehen von destruktiven Lastern, also einer Maßlosigkeit, die
jede Form von Umwelt in Mitleidenschaft zieht, kostet oft Mühe, ist
aber das Gebot eines funktionierenden Lebens- und Gesellschaftssystems.
Insofern muß die menschliche Gesellschaft unbedingt als Biotop im
ökologischen Sinne betrachtet werden, selbst wenn sie sich in ihrer
momentanen Form weit davon entfernt haben mag. Wer die Balance des Systems
stört, schädigt die Gemeinschaft; doch so weit ist das Bewußtsein
dieser Balance schon geschwunden, daß derartiges nicht einmal bemerkt
– geschweige denn geahndet – wird. Statt dessen bilden sich
auf der Grundlage selbst erzeugter Katastrophen unreflektierte und völlig
nutzlose mystische Verklärungen, die lediglich einen weiteren Schritt
der Verdrängung tätigen.
Treue
Die Treue setzt zu allererst ein Gefühl für Verantwortung voraus,
das Bewußtsein, mitunter Konsequenzen und Einschränkungen tragen
zu müssen, die vornehmlich das eigene Leben, die eigene Entfaltung
betreffen. Treue bedeutet mitunter also bewußten Verzicht, die Entscheidung
für das Eine und gegen das Andere.
Romantisch behaftet ist die Treue zu einer geliebten Person. So sollte
sie tatsächlich dem subjektiv Besonderen vorbehalten sein, dem nächsten
Menschen der Wahl, ohne Rücksicht auf die Gegenseitigkeit dieses
Treueverhältnisses. Das schließt nicht nur emotional/sexuelle
Treue ein, sondern auch das rückhaltlose Bekenntnis zu der Individualität
der Partnerin oder des Partners. So ist auch die Treue im Zusammenhang
mit der Freundschaft der partnerschaftlichen Treue ähnlich. Was als
Loyalität bekannt ist, bedeutet in der Tat Zur-Seite-Stehen, Verteidigen
und niemals Bloßstellen. Liebesbindung, Partnerschaft und Freundschaft
sind bedingungslose, oft hermetische Kosmen, Schutzwelten gegen ein parallel-existentes
Außen. Sich zu Öffnen nach diesem Außen hin oder die
Gesetze der Treue zu transformieren bleibt der instinktiven Prüfung
überlassen.
Die individuelle Position durch die Treue zu einer Idee zu festigen bleibt
dem persönlichen Lebensstil überlassen. Immer jedoch sollte
die Leitidee eigenen Überlegungen entsprechen, mit dem Risiko individueller
Schwächen oder Fehler, nie sollte eine fremdgedachte Idee übernommen
werden – obwohl diese Übernahme im Rahmen der subjektiven Transformation
natürlich einen persönlichen Akt darstellt. Fremde Leitideen
können allenfalls der Maßstab eigener Konzepte sein.
Treue zu Organisationen ist dagegen äußerst risikobehaftet
und strebt nach einer Form von Verallgemeinerbarkeit, die man permanent
neu durchdenken sollte. Treue gegenüber übergeordneten Organisationen
ist schon deshalb abzulehnen, da sie den Transformationen eines Geflechts
unterworfen ist, das sich gegen das Individuum richten kann – und
vermutlich früher oder später richten wird.
Maske
Die soziale bzw. die physische Maske sind zunächst Medien der Transformation:
Sie verwandeln den Träger in eine gewünschte, durch die Maske
beschworene andere Daseinsform. Sie kann den Menschen zum Tier, den Zivilisten
zum Militaristen machen.
Mit dem Ritual des An- bzw. Ablegens der Maske erfolgt die Beschwörung
und entsprechend die Auflösung der gewünschten Daseinsform,
d.h. die Maske entfaltet ihre Kraft und Wirkung nur, in dem sie 'getragen‘
wird. Im Rahmen des sexuellen Spiels kann durch die Maske sowohl ein animalisches
als auch ein anonymes Element eingeführt werden, im gesellschaftlichen
Kontext kann der Träger einer sozialen Maske sowohl seriöser
und konformer wie auch provokativ wirken. In jedem Fall jedoch ist der
Akt der Maskierung ein Form des uneigentlichen Handelns: Ein Teil der
Verantwortung für spezielle Handlungen wird bewußt aufgegeben.
Die Maskierung als gesellschaftliches Ritual drückt sich z.B. in
den sog. Maskenzeiten, also Karneval etc., aus, wo das Tragen einer Maske
Handlungen ermöglicht, die dem Maskenträger in seiner alltäglichen
Gestalt nicht gestattet wären. Insofern bedeutet die Maske ursprünglich
ein Element der Freiheit, das in der gesellschaftlichen Realität
jedoch leider völlig banalisiert wird. Auch hier ist die reflektierte
Verwendung der Maske Voraussetzung für die Verwirklichung der individuellen
Vorstellung. Angetrunkene Karnevalsnarren widersprechen dem Konzept fundamental.
Speziell die soziale Maske eignet sich – fast im Gegenteil dazu
– auch als Mittel zur gesellschaftlichen Subversion, da sie von
der eigentlichen Person ablenkt und den Anschein des Konformen –
oder 'Uniformen‘ – suggeriert. Die soziale Maske fungiert
hier als Tarnung und somit Schutz vor restriktiven Übergriffen der
Gesellschaft, die sich erwartungsgemäß vor Subversion fürchtet.
Deshalb ist die 'Entlarvung‘, die Aufdeckung der Maskierung, eine
bedeutende Gefahr. Die offensichtliche Täuschung ist ein Element
der massiven Verunsicherung: Nichts ist, was es scheint. Für den
wachen Geist ist es sowohl wichtig, soziale Masken zu durchschauen, um
nicht einer Täuschung zum Opfer zu fallen, als auch, sich deren um
so geschickter selbst zu bedienen, um in Kreise der Konsumgesellschaft
vordringen zu können, die seinem wahren Wesen sonst verschlossen
wären. Dabei gilt es, stets persönlichen Stil zu bewahren: Die
soziale Maske birgt das Risiko der Untreue gegenüber eigenen Prinzipien,
sie ist insofern eine Gratwanderung, unabdingbar jedoch für sozial
relevante Handlungen.
Die physische Maske als Medium der veräußerlichten Persönlichkeitstransformation
sollte der Entfaltung persönlicher Bedürfnisse dienen, und den
Erfahrungsschatz erweitern: z.B. durch bewußte Konfrontation mit
unterbewußten Wünschen und Ängsten, der unmittelbaren
Konfrontation mit dem eigenen 'Schatten‘.
Liebe
Liebe im Sinne der „Schwere“ überschreitet die Grenze
zur spontan empfundenen Leidenschaft, sprengt gar mitunter die Vorstellung
ihrer Limitierung auf das zweisame Universum. Liebe ist ganz umfassend
das Gefühl der Immanenz, das durchaus die Heiligkeit, die Erhabenheit
dieses Ereignisses bezeugt. Insofern ist die Liebe heilig, bezieht sie
sich nun auf einen frei gewählten Partner oder ein anderes Wesen,
einen anderen Menschen – in Freundschaft verbunden. Und in dieser
Heiligkeit ist die Liebe eng verbunden mit den Begriffen Respekt und Treue
sowie Verantwortung.
Liebe ist schließlich die letzte große Utopie – und
zugleich die große schwer greifbare Wahrheit neben der einzigen
unleugbaren Wahrheit, dem Tod. Als solche Utopie sollte sie gewahrt bleiben
und niemals mißbraucht für den alltäglichen Gebrauch vergänglicher
Schwärmerei. Liebe existiert jenseits der Banalität alltäglicher
Rituale und Gewohnheiten. Sie erfordert eine ungeheure Anstrengung, will
geschützt und gepflegt sein. Eine letzte Hoffnung, jeder Mühe
wert...
Sexualität
Sexualität ist der wohl schwierigste aber auch fruchtbarste Bereich
individueller Selbstentfaltung. Zunächst ist Sexualität in ihrer
Ausformung als partnerschaftliche Erotik aus dem biologisch definierten
Kontext herauszulösen, der zwar nicht abgelehnt werden sollte, aber
auch nicht das Ziel menschlicher Sexualität darstellt. Fortpflanzung
sollte selbstkontrolliert, nach eigenen Möglichkeiten und Wünschen
erfolgen; verstoßenen, unerwünschten Nachwuchs gibt bereits
im Übermaß. Statt dessen ist die Sexualität – oder
in diesem Sinne: Erotik – ein Bereich absoluter Freiheit, der mangelnde
Balance in anderen Lebensbereichen in gewissem Maße auffangen kann,
prinzipiell jedoch als zutiefst persönliche Ausdrucksform gesehen
werden muß.
Über Sexualität kann also niemand von außen urteilen,
solange dadurch kein unerwünschter Schaden an Mitmenschen entsteht.
Zudem ist das sexuelle 'Spiel‘ ein Spiegel der alltäglichen
Realität, es ist also so naheliegend wie ratsam, alle eigenen Bedürfnisse
sich selbst zu vergegenwärtigen, sie sich in aller Offenheit einzugestehen,
um nicht unter selbst auferlegten – damit letztlich gesellschaftlich
bedingten – Repressionen zu leiden. Rollenspiele jeder Art können
einen wichtigen Teil der Sexualität ausmachen – sie setzen
jedoch den permanenten Versuch voraus, den/die Sexualpartner/in in den
jeweiligen Bedürfnissen und Bemühungen zu verstehen.
Eine ausgeprägte, verfeinerte Sexualität, die unbedingt anzustreben
ist, setzt also ein tiefgehendes Vertrauen und Einfühlen in das Gegenüber
voraus. Nie werden sich zwei individuelle Sexualitäten so sehr entsprechen,
daß die Arbeit des Verstehenlernens aufgegeben werden kann. Georges
Bataille definiert die Sexualpartner als diskontinuierliche Wesen, die
zwar zur relativen Einsamkeit verdammt sind, jedoch nach einem Ideal der
gemeinsamen Kontinuität streben (das sie nach Bataille im Tod ohnehin
erlangen werden). Mit der Annäherung an diese ersehnte Kontinuität
gerät das Paar schließlich in die Diskontinuität zur Gesellschaft,
eine Instanz, von der kein Verständnis zu erwarten ist, da gerade
die zutiefst persönlichen Vorstellung von der Sexualität zu
komplex und damit gefährlich für die Eingliederung in ein gesellschaftliches
System sind. Nicht umsonst hat die gesellschaftliche Exekutive komplexe
Kontroll- und Zensurinstanzen entworfen, die immer wieder nach einer Limitierung
individueller sexueller Freiheit trachten. Michel Foucault weist in diesem
Kontext darauf hin, daß gerade im europäischen Gesellschaftssystem
keine ars amandi, eine Liebeskunst, sondern tatsächlich eine Sexualwissenschaft
entwickelt wurde, die rational faßbar machen möchte, was niemals
rational faßbar sein darf und wird.
Wiederum Bataille betont in seinem Modell der sexuellen Transgression,
das eine unmittelbare Voraussetzung seines Begriffs vom „heiligen
Eros“ ist, wie wesentlich die Präsenz des Todes für die
Sexualität ist: „Erotik ist die Zustimmung zum Leben bis in
den Tod hinein. Das psychologische Bestreben, das die Erotik ausmacht,
ist unabhängig von der Funktion, die mit ihr verbunden ist: ein Bestreben,
dem die paradoxe Anziehung, die der Tod auf Lebewesen ausübt, nicht
fremd ist,“ stellte er in einem Vortrag 1957 fest. Die Verarbeitung
der latenten Präsenz des Todes ist also unterschwellig oder bewußt
Teil des erotischen Spiels.
In der Annäherung an die jeweils völlig unterschiedliche Grenze,
die dem Individuum oder auch dem Paar die ersehnte Kontinuität bescheren
könnte, ist gerade die bewußte Einbeziehung des symbolischen
Todes ins 'Fest des Lebens‘ notwendig. Auch hier kann das Rollenspiel,
das sexualpsychologische Psychodrama, dienlich sein. Daß dabei Respekt,
Stil, Nähe und Distanz berücksichtigt werden müssen, ist
selbstverständlich. Doch gilt dieser Respekt nur dem hermetischen
Universum der Liebenden, nicht dem der Außenstehenden. Eine Kritik
der Außenwelt an der Form des Liebesspiels ist unangebracht. In
der Erstrebung der Transgression, der lustvollen Grenzüberschreitung,
ist jede Maske legitim, kann jeder Verhaltenskodex überschritten
werden. Nur muß eine Rückkehr zum kontrollierten Handeln möglich
sein. Es ist also ratsam, sich langsam der Grenze zu näher, zu experimentieren
– zu spielen. Sexualität ist das Fest des Lebens angesichts
des Todes. Der „heilige Eros“ ist der ritualisierte 'Krieg‘
– nicht der Geschlechter, sondern um die individuelle Freiheit.
Distanz und Ironie
Sowohl körperliche als auch mentale Distanz zum gegenwärtigen
Geschehen ist wichtig, um immer Freiraum und Freiheit zur individuellen
Entscheidung zu wahren. Es ist also wenig ratsam, die eigene Kontrolle
im gesellschaftlichen Alltag aufzugeben und eine Einschätzung der
Distanz zu verhindern. Die bewußte Aufgabe der Distanz kann und
sollte nur aufgrund von positiver Erfahrung, Experiment und Vertrauen
erfolgen. Im sozialen Alltag, also im Kontakt mit meist unbekannten Menschen,
ist es dagegen ratsam, auf die Einhaltung der Distanz zu bestehen. In
früheren Gesellschaften wurde die körperliche Unterschreitung
der Schutzzone (also unter Armeslänge) als Angriff gewertet und geahndet.
Dieser Selbstschutzmechanismus hat noch heute – auch auf der abstrakten,
mentalen Ebene – seine Funktion: Man liefert sich nicht seinen Mitmenschen
aus – weder physisch noch psychisch – und bewahrt stets das
Selbst/Bewußtsein. Ein wacher, kontrollierter und angemessen distanzierter
Charakter wird immer in einer überlegenen und – was wichtig
ist – verantwortungsbewußten Position sein.
Bewußtseinsverändernde Substanzen und Rauschzustände machen
eine Einschätzung der nötigen Distanz unmöglich und sollten
daher nicht im unvertrauten Umfeld konsumiert werden. Auch promiskuitive
Sexualität birgt in ihrer radikal hedonistischen Form ausschließlich
Gefahren, die den billigen Kitzel des Moments nicht wert sind. Die Einhaltung
der angemessenen Distanz bewahrt zudem den Respekt der Individuen voreinander.
Ein von Individuen, die nach Bewußtsein streben, häufig benutztes
Mittel ist die Ironie, eine Form der uneigentlichen Rede, die eine intellektuelle
Distanz zum Geschehen sucht. Dieses Mittel kann hilfreich sein, schließt
es doch das Verständnis seitens eines nicht bewußten Zuhörers
aus – er wird den ironischen Dreh, die Überspitzung, nicht
zuordnen können und verwirrt sein –, doch führt die ironische
Position, sofern sie zu einer Lebenshaltung wird, zu einem Leben im Uneigentlichen.
Die ironische Lebenshaltung schließt durch ihre permanente Distanz
tiefes emotionales Empfinden und den Akt der Transgression letztlich aus.
Symbol und Ritual
Symbole sind prinzipiell 'unschuldig‘. Kein Symbol kann an eine
spezifische Konnotation gekettet werden. Das gilt insbesondere für
sehr alte Symbole, die in zahlreichen Kulturen auftauchen – oft
in unterschiedlichster Bedeutung –, z.B. der Blitz, das Herz, der
Kelch, die Sonne, das Auge, das Ei, das Schwert usw. All diese Symbole
können in Form ihrer diversen Pictogramme individuelle Bedeutung
erlangen. Sie können also – gleich dem magischen Sigill –
immer wieder mit spezifischer Energie aufgeladen werden oder immer neue
Assoziationen binden. Es scheint naheliegend, sich aus dem Symbolsystem
des eigenen kulturellen Erbes zu bedienen; diese Entscheidung setzt natürlich
eine eingehende Beschäftigung mit dem auseinander, was 'kulturelles
Erbe‘ für das jeweilige Individuum bedeutet. Gleiches gilt
für bewußt entworfene Rituale, die dem Aufladen der spirituellen
und körperlichen Energien dienen. Diese Rituale, also Handlungsweisen,
die nach festgelegten, wiederholbaren Mustern erfolgen, müssen nicht
notwendigerweise okkulte Form annehmen – ebenso kann ein Waldspaziergang
zum nützlichen Ritual werden. Wichtig ist es, Symbole und Rituale
zu entwickeln, die den persönlichen Bedürfnissen entsprechen
und nicht gesellschaftlich determiniert sind. Es ist sehr schwierig, Menschen
zu finden, deren rituelle Bedürfnisse den eigenen Vorstellung nahe
genug kommen. Das Gemeinschaftsritual ist deshalb im Rahmen unserer Konsumgesellschaft
eine Utopie und bleibt allenfalls kleinen Lebensgemeinschaften vorbehalten.
Wie der Bereich der Sexualität gehört auch der Bereich des rituellen
Agierens strikt der persönlichen Entfaltungsfreiheit an und wird
oft von der gesellschaftlichen Exekutive als suspekt und bedrohlich betrachtet,
da zumindest eine Einsicht in die Kraft von Symbol und Ritual verbreitet
ist. Insofern ist das Ritual wie die Sexualität ein wesentliches
Element des Widerstandes gegen die entindividualisierende Konsumgesellschaft.
Beide Elemente sind zudem derartig eng mit dem Ausübenden verknüpft,
daß sie ihm selbst in der Extremsituation der Gefangenschaft nicht
genommen werden könne. Da sich die individuelle Entfaltung im Zustand
umfassender Repression jedoch im Leerlauf befindet, kann sie nur zu einem
führen: in den Wahnsinn der absoluten Einsamkeit (wobei ich mit Foucault
und Bataille davon ausgehe, daß das Phänomen des Wahnsinns
nur aus der Sicht des verständnislosen 'Außen‘ zu definieren
ist). Es bleibt also der Kampf um die absolute Freiheit in einer Gesellschaft,
die auf banale Bedürfnisbefriedigung, eine Simulation der 'Leichtigkeit‘,
und das Funktionieren ihrer Vertreter ausgerichtet ist.
Einsamkeit
„Jeder auserlesene Mensch trachtet instinktiv nach seiner Burg und
Heimlichkeit, wo er von der Menge, den Vielen, den Allermeisten erlöst
ist, wo er die Regel 'Mensch‘ vergessen darf, als deren Ausnahme,“
schreibt Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse. Die Kapitulation
vor der sozialen Realität ist sicher nicht das Ziel dieser Überlegungen,
und doch ist die Einsamkeit des „freien Geistes“ bedenkenswert.
Nie sollte diese selbst gewählte und gewünschte Einsamkeit mit
dem schlichten Alleinsein eines sozial nicht kompatiblen Neurotikers verwechselt
werden, dessen tragische Egozentrik jeder Bemühung um Entfaltung
im Wege steht. Um Nietzsches Begriff des „auserlesenen Menschen“
hier nicht mißverständlich erscheinen zu lassen: Diese „Auslese“
ist wertfrei zu begreifen, erhöht weder den Einsamen, noch degradiert
sie seine Mitmenschen. Vielmehr ergibt sich aus dem fortschreitenden Streben
nach Tiefe notwendig eine Isolation, ein Potential zum Mißverständnis,
das die Kommunikation erschwert. Es ist insofern wichtig, immer auch einen
kleinen Bereich der Intimität zu sichern, der die selbst gewählte
Einsamkeit nicht in der Isolation erschöpft. Dieser Hort der Freiheit
ist jenseits der Moral, jenseits der Zeitgenossenschaft anzusiedeln, wo
man „die Regel 'Mensch‘ vergessen kann“. Egozentrik
ist im Gegensatz zur Einsamkeit ein Negativ-Definition des 'Ichs‘:
Durch die Fixierung auf die eigene Person wird die Position innerhalb
der Gesellschaft behauptet und demonstriert, zugleich aber auch die Gesellschaft
bestätigt in ihrer Degradierung zur 'Masse der Anderen‘. Die
Einsamkeit des „freien Geistes“ dagegen ruht ganz in sich,
bietet die Basis zur Meditation und Konzentration, schafft eine Selbst-Sicherheit,
die nicht in egozentrische Arroganz und Eitelkeit münden muß.
Um selbst zu sein, bedarf es letztlich nicht der Bestätigung. Die
'Heimlichkeit‘ der 'einsamen Burg‘ ist nichts weiter als das
Zuhause in Toleranz, Akzeptanz, Vertrauen, Freundschaft und Liebe.
Paranoia
Die fatalste Eigenschaft von Paranoia und Verschwörungstheorien ist,
dass es sich bei diesem Phänomenen um selbsterfüllende Prophezeiungen
handelt: Je tiefer sich der Paranoiker in seine Theorien verstrickt, um
so mehr scheinen sie sich zu bestätigen, um so überzeugender
werden sie für ihn. Das ergibt sich aus der immer selektiver werdenden
Wahrnehmung des Paranoikers, der sich aus seiner Alltagswahrnehmung nur
die Elemente herausfiltert, die in sein Bild einer von Verschwörungen
fremder, undurchschaubarer Mächte gelenkten Welt passen.
Tatsächlich konnte sich die Popularität von Verschwörungstheorien
in den letzten Jahrzehnten noch steigern, da sie für viele an die
Stelle einer politischen Weltsicht getreten ist. In der gegenwärtigen
Gesellschaft ist Politik nahezu ersetzt worden durch höchst variable
Vorstellungen von Moral. Jede Gruppierung kann die eigene Moral für
das „erhaltenswerte Gute“ erklären und sich letztlich
über die sich selbst ergebenden Feindbilder definieren. Dabei ist
jede Moral zunächst gleichwertig, sei sie nun religiös, ethisch
oder politisch konnotiert. Doch letztlich bleibt Moral immer behauptet,
ein Dogma. Sich selbst für das „Gute“, das „Erstrebenswerte“
zu erklären, heißt jedoch am Ende nichts weiter, als die Macht
an sich zu reißen, dominieren zu wollen, den eigenen Begriff der
Moral allgemeingültig machen zu wollen.
Jede Gruppierung, die sich über ihr Feindbild definiert ist totalitär,
gewaltbereit und somit äußerst gefährlich. Da unterscheiden
sich rassistische Nationalisten und fundamentalistische Moslems nicht
von der linksextremen Aktion: Alle haben ein polares Denken angenommen,
das ihnen die Sicht der Welt vereinfacht, alle denken im abstrakten Sinne
„rassistisch“. Auf dem Weg der Schwere stellen alle polarisierenden,
totalitären Gruppierungen eine Gefahr, mitunter sogar eine physische
Bedrohung dar, denn sie können in keinem Fall die Freiheit individueller
Gedanken und Entfaltung tolerieren. Durchschaubar wird das vor allem im
reaktionären Gedankengut von Neonazi-Gruppierungen: Ihr erklärtes,
wenn auch diffuses, Ideal sehnt sich nach einer Welt der Einfachheit durch
Annäherung an eine Gleichschaltung: Alle störenden Elemente
müssten dann entweder domestiziert (sprich: ghettoisiert), vertrieben
oder im schlimmsten Falle ausgerottet werden.
Dabei bewegen sich die Anhänger dieser Gruppierungen in einer Welt,
die tatsächlich nicht mit ihnen gleichgeschaltet werden will. Neonazistisches
Gedankengut, das sich angesichts seiner völlig irrealen, im Endeffekt
auf Genozid ausgerichteten Programmatik kaum als „Utopie“
bezeichnen läßt, trägt der gesellschaftlichen Gegenwart,
die in ihrer kosmopolitischen, multikulturellen Mixtur auf diese Weise
nicht polar begreifbar ist, niemals Rechnung. Auch die gewaltbereite linksextreme
Aktion strebt eine Gleichschaltung an, nur dass ihr tatsächlich eine
multikulturelle, im Endeffekt wohl friedliche, „Utopie“ vorschwebt.
„Rassismus“ im Sinne der Neonazis spielt hier auf den ersten
Blick keine Rolle, im Gegenteil... Diese „Befriedung“ der
multikulturellen Gesellschaft kann jedoch – und hier ist die Gleichung
– nur in der Ausschaltung nicht konformer Gedanken und Gruppierungen
stattfinden, und zwar in einem präventiven Akt. Auch diese totalitär
ausgerichtete Gruppierung kann also „querdenkende“ Individuen
nicht akzeptieren, würde sich gar durch diese bedroht fühlen,
wie ihr jede Unberechenbarkeit suspekt ist.
Paranoia gründet also auf Angst und tiefem Mißtrauen: Angst
vor einer undurchschaubaren, heterogenen Welt voller „blinder Flecken“,
Angst vor einem Entzug an Information, Angst letztlich vor den Gedanken
anderer Individuen. Tatsächlich ist diese Paranoia ein Resultat des
Materialismus, der ein umfassendes Konsumsystem an die Stelle praktizierbarer
Politik gesetzt hat. Politiker erscheinen in diesem System als Marionetten,
die allenfalls hinter den Kulissen der Weltpolitik undurchschaubare Ziele
verfolgen. Wird ein solches Komplott aufgedeckt, entlarvt sich das Handeln
der betroffenen Politiker nicht selten als ein banaler Spiegel des Konsumsystems:
Wer die Macht hat, möchte vor allem das Geld.
In diesem Kontext sollte man sich Jean Baudrillards Kritik an Michel Foucaults
Machttheorie ins Gedächtnis rufen: Die Macht ist nach Baudrillard
nicht wirklich existent, sondern existiert nur dort, wo an sie „geglaubt“
wird. Die Macht sei ein „Simulacrum“, das jederzeit zusammenstürzt,
wenn sich die selbsterklärten Sklaven dem System entziehen. Die totalitäre
Macht, die von den Neonazis und im Endeffekt auch von den Linksextremisten
angestrebt wird, ist nach Friedrich Nietzsche dagegen die „Macht
der Sklaven, die zu den Waffen gegriffen haben“. „Der Wille
zur Macht“, den Nietzsche umschreibt, ist jedoch nie von Waffengewalt
abhängig, sondern von der wahren Freiheit des „freien Geistes“,
also des vor allem spirituell souveränen Menschen. „Jeder Mensch
von einer geringeren Freiheit ist für die Freiheit der anderen eine
Gefahr, denn er ordnet die Lösung der materiellen Schwierigkeiten
moralischen Fesseln unter,“ schreibt Bataille 1944 dazu in seinem
„Nietzsche-Memorandum“. – Insofern ist ein Leben in
Angst, wie es dem Paranoiker entspricht, nichts weiter als ein Hindernis
auf dem Weg der Schwere.
Der Verschwörungsparanoiker ist weit jenseits einer gedanklichen
Freiheit, er ist der Sklave seiner Angst: Er würde dem Nichtparanoiker
jederzeit vorhalten: Dem Verschwörer ist es egal, ob Du an ihn glaubst
oder nicht, er wird trotzdem hinter Dir lauern. Dies ist die Angst des
selbst-eingestandenen „Sklaven“ in Nietzsches Sinn, eines
Menschen, der sich grundsätzlich unterlegen fühlt, den Mächten
ausgeliefert. Auf dieser Basis ist ein „waches Leben“ mit
„freiem Geist“ unmöglich.
Macht
Für den „freien Geist“ ist die Macht im politischen Sinne
entweder Gewaltmacht oder Simulation. Michel Foucault hat im Rahmen seiner
Machtanalyse versucht, aufgrund strukturalistischer Prinzipien eine Ordnung
des menschlichen Wirkens zu analysieren. „Sein gesamtes Werk, von
der Geschichte des Wahnsinns über die Ordnung der Dinge bis hin zur
Archäologie des Wissens und der Geschichte der Sexualität, erscheint
[...] als der groß angelegte Versuch, das menschliche Subjekt in
seiner historischen Praxis in den allmächtigen, alles steuernden,
alles regulierenden Strukturen völlig aufzulösen, alle Subjektivität
und somit jegliche Subjekt-Objekt-Dialektik auszuscheiden, die sich angeblich
aus ihrem eigenen wissenschaftlichen Grundlagen selbst konstituieren,
gelten zu lassen und als Objekt, losgelöst vom historischen Prozeß,
der Übermacht des Systems auszuliefern. Eine durch nichts erschütterbare
Ordnung, deren Mechanismus einer von außen unbeeinflußbaren
Selbstregulierung unterworfen sind, hält alles zusammen.
Wie bekannt ist, hat Foucault später selbst diesen Irrtum durch die
eigene engagierte Praxis korrigiert,“ schreibt Arno Münster
in Pariser philosphisches Journal (Frankfurt am Main 1987, S. 34-35).
Man musste nicht erst auf Jean Baudrillards Vortrag Oublier Foucault (1977,
dt. 1978/1983) warten, wo er Foucaults Omnipräsenz der Macht letztlich
als sich gegenseitig bedingendes Simulakrum beschreibt: „Die Macht
hat sich nicht immer für die Macht gehalten, und das Geheimnis der
großen Politiker war zu wissen, daß es die Macht nicht gibt,
daß sie nur ein Simulationsraum ist wie der perspektivische Raum
in der Renaissancemalerei“ (S. 72f.). Natürlich ist Baudrillards
Ausschließlichkeit ebenfalls zu einfach gedacht, allenfalls als
belebende Provokation tauglich – wie die meisten seiner Thesen –,
denn – ob simuliert oder nicht –, die körperlichen Auswirkung
der Machtausübung – die Gewaltmacht der Exekutive – sind
mitunter unbestreitbar.
Foucaults Einsicht in die Fehlbarkeit seines ursprünglichen Machtmodells
– so einleuchtend es zunächst sein mag, vor allem was Überwachen
und Strafen betrifft – führte zu anderweitigen Überlegungen,
die er in im ersten Band von Sexualität und Wahrheit entfaltete.
Diesen Überlegungen zufolge kann die Macht am effektivsten an der
Sexualität ansetzten: Basierend auf seinen früheren Aufzeichnungen
zu George Batailles entwickelte Foucault im ersten Band die These, daß
die westliche Kultur die Sexualität nicht kontinuierlich befreit
habe, sondern durch ihren „Willen zum Wissen“ – daher
der Titel – ein vor allem verbalisiertes Objekt hervorgebracht hätten,
das sich zur Überprüfung der eigenen Existenz eignet. Er setzt
sich in diesem Zusammenhang mit der Repressionshypothese auseinander,
wie sie von Wilhelm Reich und Herbert Marcuse vertreten wird, bestreitet
dabei jedoch, dass es über die Jahrhunderte zu einer einseitigen
Unterdrückung der Sexualität gekommen sein. Vielmehr habe der
„Wille zum Wissen“, eine Art professionalisierte Neugier,
auf den unterschiedlichsten Ebenen das oft erzwungene Geständnis
oder die Beichte bedingt, in der Sexualität in Wort gebannt und aufgezeichnet
wurde.
Die Text gewordene Sexualität entwickelte sich so zu einer „scientia
sexualis“, einer Sexualwissenschaft, die im Gegensatz zu der „ars
erotica“ anderer Kulturen steht, jedoch eine ähnliche Funktion
erfüllt, nämlich die Kanalisierung sexueller Energien (Der Wille
zum Wissen, S. 90ff). Foucault geht bei diesem Ansatz so weit, eine „Alleinherrschaft
des Sexes“ in unserer Kultur zu entdecken, die sich jedoch weniger
in der Tat als im Wort äußert. Er bestreitet nicht, dass Politik
und Religion die Absicht gehabt hätten, die Sexualität zu unterdrücken
– immerhin ist sie im Idealfall der zutiefst persönliche und
somit unkontrollierbare Bereich menschlichen Wirkens –, doch die
Institutionen seien dabei vom „Willen zum Wissen“ gebannt
worden. Dieses Wissen sollte den Institutionen jedoch letztlich die ersehnte
Macht auch über den Intimbereich bringen. Foucaults deutlichster
Verweis zeigt, wie die christliche Seelsorge durch Moralunterricht und
Beichte ausführliche Beschreibungen sexueller Phantasien und Erlebnisse
provozierte. Bereits im 18. Jahrhundert wurde das Interesse auf pädagogischer,
ökonomischer, politischer und juristischer Ebene professionalisiert,
um im 19. Jahrhundert das Entstehen der „Geständniswissenschaften“
wie Psychiatrie, Pädagogik und Medizin zu begünstigen. Die „Lust
an der Wahrheit“ wurde zur Motivation der Forschenden. In der Mediengesellschaft
hat diese „Lust an der Wahrheit“ längst exhibitionistische
Züge angenommen, die jede Intimität ins Licht der Öffentlichkeit
rücken. Die 'Lust am Outing‘ simuliert die Alltäglichkeit
jeder Randerscheinung und zerstört letztlich George Batailles Forderung
nach einer 'Grenzsetzung‘, die eine lustvolle Transgression erst
möglich macht. Wenn es keinen Bereich des sinnlich Diffusen, des
Unbekannten und Unheimlichen, mehr gibt, muss Batailles Modell letztlich
scheitern.
Michel Foucault zeigt schließlich das Entstehen einer neuen Machtform
auf Basis der scientia sexualis: die „Bio-Macht“. Sie macht
sich die Familie nutzbar, um über diese 'Schaltstelle‘ Sexualität
zu steuern, zu unterdrücken, aber auch zu motivieren. Intimität
und eigentlich unkontrollierbare Lebensmechanismen werden über die
Familie verwaltet und beobachtet. Über dieses Mechanismen von Geburtenkontrolle
und Körperpolitik erklärt Foucault dann den Weg zum biologistischen
Rassenwahn seit der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert. – Macht
kann also tatsächlich physisch wirksam werden, und es ist ratsam,
sich dieses erdrückenden Simulacrums immer bewußt zu sein,
um nicht verschlungen zu werden in der Bemühung, das Gesonderte zu
leben.
Nischengesellschaft und soziale Konsensdemokratie
Eine Philosophie der Schwere auf dem Pfad der Freiheit ist der Weg des
reflektierten Widerstandes – zunächst gegen eine rein materielle
Konsumgesellschaft sowie gegen Intoleranz, Dogmatismus und Totalitarismus.
Das Ziel dieses Weges ist ein System der friedlichen Koexistenz, der unbedingten
Toleranz gegenüber anderen Positionen und Emotionen, sofern sie nicht
aktiv auf den Bruch dieser Toleranz ausgerichtet sind. Einzig mögliche
Verwaltungsform der angestrebten Nischengesellschaft ist eine soziale
Konsensdemokratie, die notwendig den Kompromiß zwischen u.U. polarisierten
Positionen vermittelt, jedoch auch Splittergruppen anteilig berücksichtigt.
Es geht nicht um das Versprechen umfassenden Glücks, sondern eher
um die unbedingte Vermeidung des individuellen Unglücks. Ein Konsens
ist erreichbar, wenn er an sorgfältig ermitteltem Maß gemessen
wird und auf umfassender Aufgeklärtheit und Information basiert.
Nimmt man Theodor W. Adornos Anmerkung, es gäbe „kein richtiges
Leben im falschen“, ernst, ist es also wichtig, mit der persönlichen
Entwicklung auch die gesellschaftliche Entwicklung im Blick zu behalten
und voran zu treiben. Am Ende jedoch muß wohl Montaigne stehen mit
seiner tiefen Einsicht in die 'Differenz‘, in die gleichberechtigte
Verschiedenartigkeit der Menschen.
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