Wenn die Gondeln Trauer tragen

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Blu-ray Digipak 1er
Label: Arthaus
Genre: Horror, Thriller
Produktionsjahr: 1973
Produktionsland: Italien, Großbritannien
FSK 16
Lauflänge: ca. 111 Minuten
Bild: 1,85:1 1080/24p Full HD
Sprachen/Ton: Deutsch, Englisch (Mono PCM)
Untertitel: Deutsch
Extras: Audiokommentar von Nicolas Roeg; Featurette "Ein Blick zurück"; Komprimierte Fassung von "Don't Look Now", erstellt von Danny Boyle; Interviews; Trailer
Blu-ray im Verkauf ab 17.11.2011

Nicolas Roegs Filme sind mythische Werke. Mit radikal persönlichem Blick und einem sicheren Gespür für den unterbewußten Affekt nähert er sich klassischen (literarischen) Themen mit Hilfe seines modernen Mediums. Er geht dabei nicht per se mythisch vor, wie das die Poeten des Kinos, v. a. Jean Cocteau, versuchen, sondern er sucht nach einer Adaption, einem modernen Blick.

In Nicolas Roegs wohl berühmtestem Film WENN DIE GONDELN TRAUER TRAGEN ist der Mythos von Orpheus, dessen Reise in die Unterwelt und dem Verbot, sich "nicht umzusehen", bereits im Originaltitel verborgen: DON'T LOOK NOW - "Sieh Dich nicht um!" Doch dieser Mythos vom Blick auf das Verbotene, der hier wie sonst tödliche Folgen hat, ist nicht nur klassischer Natur, sondern verweist auf den Kern von literarischer Gothic Fiction und Horrorfilm allgemein, den "letalen", den tödlichen Blick. Zu Beginn des Films verliert das britische Intellektuellen-Ehepaar Baxter seine Tochter, die beim Spielen in einem Teich ertrinkt. Roeg zelebriert den Moment der Bergung der kleinen Leiche in mehrfacher Zeitlupenüberblendung und erreicht bereits hier die mythische Ebene. Wie Orpheus Eurydike verliert John Baxter (Donald Sutherland) seine Tochter, deren roter Regenmantel von nun an als Leitmotiv durch den Film führen wird. Wie jener, ist er nicht in der Lage, den geliebten Menschen zu retten. In dem Motiv des zerlaufenden Dias wird bereits seine Gabe des "zweiten Gesichts" vorweggenommen, die er bis zum Ende jedoch nicht richtig zu nutzen versteht - zu sehr ist er als Wissenschaftler der Skepsis verbunden. Dem mythischen Orpheus werden ebenfalls seherische Gaben zuerkannt; er gilt als Vermittler zwischen Diesseits und Unterwelt, eine schamanistische Funktion, derer sich Baxter radikal verweigert. Als er mit seiner Frau Laura (Julie Christie) später Venedig besucht, begegnet sie dort zwei alten Damen, von denen die eine, eine Blinde, ebenfalls visionäre Fähigkeiten zeigt. Auch hier zeigt sich Baxter ablehnend; eine offenbare Affinität zu der Seherin, die er stets in seiner Gegenwart spürt, streitet er vor sich ab. Er weigert sich zudem, die Hellsichtigkeit der bilden Heather anzuerkennen, obwohl sie Laura in der Toilette die tote Tochter genau beschreiben konnte, ohne sie je gesehen zu haben. Selbst als er eine Vision hat, welche ihm, wie sich später zeigen wird, sein eigenes Begräbnis zeigt, begreift John Baxter nicht, daß er über die Gabe des "zweiten Gesichts" verfügt: Auch als er nach einem Telefonat sicher weiß, daß Laura wirklich in England angekommen ist, sucht er noch nach rationalen Erklärungen für ihre gespenstische Anwesenheit.

Wie viele Nicolas-Roeg-Filme ist DON'T LOOK NOW auch ein Diskurs über das Sehen. Wenn Baxter zum ersten Mal zu sehen ist, studiert er gerade ein Dia, das ein Kirchenfenster zeigt. Zunächst betrachtet er die Leinwandprojektion des Dia entspannt, als er die Figur im roten Kaputzenmantel entdeckt, die auf der rechten Bildseite zu sehen ist, nimmt er das Dia aus dem Projektor, um es mit einem Sichtgerät zu untersuchen. Dabei fixiert sich sein Blick auf das rote Detail. Nicht einmal Laura kann diese gebannte Betrachtung unterbrechen. John Baxter wird als ein Mensch etabliert, der ganz von seinem Sehsinn dominiert wird. Dieser Aspekt wird durch das filmische Mittel der subjektiven Kamera akzentuiert (Baxter/ Dia), das die Thematisierung des Blicks nicht nur inhaltlich, sondern auch mit Hilfe filmästhetischer Mittel reflektiert. Baxters "kalter", prüfender, kontrollierender Blick ergänzt sich mit seinem Bedürfnis, seine Umwelt in pragmatischen, positivistischen Kategorien wahrzunehmen. Er begreift folglich das Sehen als rein rationales Erfassen der Welt, er sagt: "Sehen heißt glauben." Das "zweite Gesicht", die Vision, entzieht sich seinem kontrollierenden Blick und erscheint daher irreal. Tatsächlich wählt Roeg für die visuelle Umsetzung der Visionen keine optischen Effekte, sie erscheinen als gleichwertige Realität, in der sich die Charaktere bewegen. Der Film legt nahe, daß sich Baxter in seinem Positivismus irrt. Sein finaler Tod ist als Konsequenz seiner Verweigerung gegenüber dem Paranormalen zu verstehen: Er folgt einer kleinen Gestalt im roten Umhang in einem verlassenen Turm; als er sich dem vermeintlichen Kind nähert, entpuppt es sich als entstellter Zwerg, der ihn mit einem Fleischermesser attackiert. Objektive und subjektive Realität vermischen sich auf irritierende Weise. Auch in alltäglichen Situationen kommt es zu Mißverständnissen, vor allem zwischen John und Laura, die auf John unkonzentrierte Vernachlässigung des Gehörsinns zurückzuführen sind. Diese Unfähigkeit, zu hören, wird ihm auch in der letzten Szene zum Verhängnis: Er hört nicht die Warnrufe von Laura, die ihn retten könnten.

Ebenso wie seine Tochter zu Beginn, die in einem Gartenteich ertrinkt, wird John zum Opfer seiner aus den Fugen geratenen Sinneswelt. Die geheimnisvolle Stadt Venedig bricht die Macht des kontrollierenden Blicks mit einem unüberschaubaren Labyrinth an Gäßchen und Brücken, Säulengängen und Kanälen. In Roegs Blick verdoppelt sich die Stadt noch in ihrem Spiegelbild auf der Wasseroberfläche. Schein und Wirklichkeit sind nicht mehr zu trennen. John Baxter als Restaurator wird mit diesem Faktum bereits auf fachlicher Ebene konfrontiert, als er eine Kirchenfassade bearbeitet: "Oh Gott, es wird immer byzantinischer, je tiefer wir kommen. Ich restauriere eine Fälschung!" Venedig ist die Stadt der Masken, die auch ihre Bewohner tragen: Der übertrieben freundliche Hotelier, der kooperative Polizist, der John letztlich beschatten läßt, die beiden alten Damen, die sich so aufopfernd um Laura bemühen, und später boshaft lachend eingeblendet werden... Sein und Schein fließen auf tödliche Weise ineinander: Die geliebte tote Tochter wird ihrerseits zur Todesbringerin, zu dem mörderischen Zwergwesen. Auch Orpheus hatte mit seinem kontrollierenden Blick bereits Eurydike den Tod gebracht, indem er sich beim Weg aus der Unterwelt nach ihr umschaute. DON'T LOOK NOW ist Nicolas Roegs Forderung nach einer Relativierung dieser ‘Tyrannei des Blicks', die nicht zuletzt die Erfindung des Kinos begünstigte. Ist PERFORMANCE sein sexuelles und WALKABOUT sein ethnologisches, so ist DON'T LOOK NOW Roegs filmphilosophisches Manifest.

Es ist ein eindrucksvoller Glückfalls, diesen Film nun auf Blu-ray neu erleben zu dürfen: Mit zeitgemäßer Filmkörnung, aber kontrastreich und in der intendierten Farbigkeit, mit deutschem und englischem Ton ausgestattet, erhält man ein authentisches Filmerlebnis, das durch teilweise ungewöhnliches Bonusmaterial aufgewertet wird: So erzählt Roeg-Fan Danny Boyle (SUNSHINE), wie ihn der Film inspirierte und bekam die Chance, diesen zu einem Musikvideo neu zu montieren. Auch andere Teammitglieder kommen teilweise erstmals zur Sprache (Kameramann, Drehbuchautor). Das bekannte Making-Of zeigt Roeg selbst in bester Laune. Leider gilt das nicht für die karge Kommentarspur, wo es dem Regisseur sichtlich schwer fällt, die Umstände des Films angemessen zu erinnern.

So oder so: WENN DIE GONDELN TRAUER TRAGEN ist ein unsterblicher Klassiker der europäischen Filmgeschichte und ist in dieser Version einfach atemberaubend.

Marcus Stiglegger