Peter Sloterdijk

Im Weltinnenraum des Kapitals

Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, ISBN 3-518-41676-6, 415 S.

Nach dem Ende der welthistorischen Erzählungen sind nur mehr zwei Kurzgeschichten im Umlauf. Die eine trägt den Titel "Globalisierung" und schildert, wie die Finanzzentren zusammenrücken, wie Bilder und Nachrichten durch den Äther huschen und die Kultur von Sony und Coca-Cola die Sinne der Menschheit besetzt. Die andere Geschichte erzählt von Chaos und Anarchie, von Kriegen des Zerfalls, von Wasserknappheit und Malaria, von Hunger und Überbevölkerung.
Wolfgang Sofsky, Zeiten des Schreckens (2002)

Peter Sloterdijk, der wortgewandteste der zeitgenössischen Bilderdenker, beschert uns einen langen Essay über eine alternative Geschichte der wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung: Im Weltinnenraum des Kapitals zeichnet die Geschichte der unaufhaltsamen Ausbreitung des Kapitalismus nach als eine Geschichte der christlichen Seefahrt.

Ausgehend von den Entdeckungsfahrten des Christoph Columbus schildert er die langsame „Entstehung des Weltsystems“, das auf einem endlos verästelten Geflecht von Handelsbeziehungen basiere. Mit der endgültigen Umrundung des Planeten etablierte sich ein neues, ein „globales“ Weltbild, das die Erde letztgültig als 'Ganzes’ denken lehrte. Aus den 'Risikohandlungen’ der frühen Entdecker wurde allmählich die Idee der 'Sicherheit’, aus Eroberern wurden Geschäftsleute. „Stetig benutze Routen bezeugen die Verwandlung früherer Entdeckungsfahrten zu regelmäßigem Verkehr; eingeschliffene Disziplinen sorgen für die Einbettung von Einfällen und Hypothesen in den Wissenschaftsbetrieb. Wenn das Zeitalter der Globalisierung durch Erkundungen und Bahnungen bestimmt war, so das Global Age durch Fahrpläne und steigendes Verkehrsaufkommen [...]“ (S.245). Mit dieser Ära des Welthandels schien auch die 'Nachgeschichte’ (posthistoire) angebrochen zu sein.

Inspiriert von Fjodor Dostojewskis Novelle Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (Paul Schraders Vorlage für TAXI DRIVER) bezieht er die Metapher des „Kristallpalasts“, der auch das Titelbild ziert, stellvertretend für die westliche Zivilisation (S.265). Dieses komplett industriell gefertigte Glasbauwerk wurde 1850 im Londoner Hydepark errichtet und galt als „Triumph der generalstabsmäßigen seriellen Fertigung“ (S. 266). Der Kristallpalast erschien da noch als Utopie, als Versprechen, das Glück unter einem Dach zu vereinen, aber, so Sloterdijk zynisch: „Die Biopolitik setzt als Gehege-Bau ein“ (S. 267). Die Welt im Handel endgültig zu vereinen wurde zur globalen Utopie. Der Kristallpalast erscheint somit als Emblem für die finalen Ambitionen der Moderne (S. 276).

In Grunde aber zielt dieser publizistische Kraftakt auf einübergeordnetes Projekt: eine umfassende und geistreiche Amerika-Kritik, die von der Idee ausgeht, das Land unter Bushs Regierung habe sich nach einer Phase der Nachgeschichtlichkeit, in die es nach der Unabhängigkeitserklärung eingetreten sei, 'rehistorisiert’, „indem es vor der Weltöffentlichkeit die Insignien der zu machenden Geschichte für sich in Anspruch nimmt. [...]: der Primat der Kraft, die Vornehmheit der Motive, das Privileg der Einseitigkeit, die Selbstamnesie für begangene und zu begehende Gewalt und die Kontrolle über die Worte (und Bilder), die den Taten folgen“ (S. 375). Dabei habe die Verbreitung von democracy (Sloterdijk benutzt den amerikanischen Begriff im Gegensatz zum deutschen 'Demokratie’ offenbar, um den Unterschied zu betonen) dem Ansehen dieser Idee eher geschadet: „Merken wir an, dass im modernen Arabisch jüngst die Vokabel damakrata in Umlauf kommt, die ungefähr soviel bedeutet wie 'westlicher Überfall auf ein Land zu dem Zweck, eine Marktwirtschaft aus ihm zu machen’“ (S.376). „In keinem Land der Erde, in keiner Population, keiner Kultur betreiben die Menschen so viel biologische, psychotechnische und religioide Selbstsorge bei gleichzeitig wachsender Abstinenz von politischen Engagements“ (S. 240). Dennoch: das amerikanische Unternehmen funktioniere, obwohl allen Beteiligten bewusst sei, „dass der amerikanische Militarismus seit längerem dazu verurteilt ist, in der posthistorischen Welt als Parasit von gestern aufzufallen“(S. 377). Ungeachtet offensichtlicher Depressionsvertuschung und innerer Bilanzfälschung (S. 389) halten die USA an ihrem Projekt der Kapitalisierung der Welt fest, einer Art einseitig kontrollierter Globalisierung. Sloterdijk nennt das prägnant: „die Wende des Weltsystems in den autoritären Kapitalismus“ (S.260).

Wie die meisten und stärksten Bücher Peter Slotderdijks ist auch das vorliegende voll von inspirierenden Geistesblitzen, spannenden Exkursen und kuriosen Details. Und wie viele seiner Werke lässt es ungeachtet seiner Dichte manchmal die Konzentration auf die Hauptthese missen. Vielleicht hätte das einer seiner reduzierten 100-Seiten-Essays auch vermitteln können, denn die entwickelten Gedankenbilder sind von bestechender Klarheit: der Kristallpalast, der Weltinnenraum, die amerikanische Rehistorisierung etc. Zugleich ist Im Weltinnenraum des Kapitals aber auch Sloterdijks seit Jahren zugänglichstes und zeitgenössischstes Buch. In jedem Fall ein intellektuelles Abenteuer.

Marcus Stiglegger