Michel Houellebecq

Plattform

DuMont 2002, ISBN 3-8321-5630-5. 370 S.

Michel Houellebecqs neuer Roman Plattform gerät erneut zur deprimierenden Diagnose menschlicher Beziehungsunfähigkeit: Liebe als „Kampfzone“, Sexualität als Ware – keine seltenen Vergleiche, doch kaum jemand operiert mit ihnen so zynisch und zugleich tieftraurig wie Houellebecq. Sein neuester Roman Plattform, den das französische enfant terrible jüngst im Rahmen einer Deutschland-Tour vorstellte, nimmt sich den weltweiten Sextourismus zur Brust.

In einem Essay hat der in Irland lebende Autor die moderne Welt einmal als „Supermarkt“ bezeichnet, als exklusives Warenparadies, das für die einen unerreichbare Verlockung, für die anderen hingegen exzessiven Genuss bereithält. So bucht auch sein Protagonist in Plattform – der 40jährige Erotomane Michel – bei einem bekannten französischen Reiseveranstalter eine Pauschalreise nach Thailand, wo er die Tourismusmanagerin Valérie kennen lernt. Houellebecqs Beobachtungen in der ersten Person sind von chirurgischer Präzision, seine Sprache bleibt dabei jedoch stets neutral, präsentiert belanglose Tischgespräche ebenso wie Sexkontakte mit thailändischen Mädchen in sezierend detaillierter Offenheit. Michel und Valérie finden nach der Heimkehr zueinander und entwickeln ein neues, revolutionäres Tourismus-Konzept: Clubferienreisen, „bei denen die Leute vögeln können“. Eine makabre Antwort auf den von Erich Fromm diagnostizierten „Verfall der Liebe in der westlichen Gesellschaft“: Wenn Millionen Menschen alles besitzen bis auf sexuelle Erfüllung, und mehrere Milliarden Menschen nichts haben außer ihrem Körper, so sei dies eine Plattform „des idealen Tausches“. Ein Denkanstoß für die Tourismusindustrie im Zeitalter des Turbokapitalismus? Sex als attraktives Zugpferd im globalen Spiel von Angebot und Nachfrage, pauschal und mit Geld-zurück-Garantie? – Die Idee erweist sich als äußerst erfolgreich: die Gäste strömen, die Gewinnkurve zeigt steil nach oben. Doch Michels und Valéries geschäftliches wie privates Glück, das in durchaus sinnlichen und zarten Passagen aufschimmert, findet ein jähes Ende: Valérie kommt bei einem Attentat islamischer Terroristen ums Leben, Michel kehrt traumatisiert nach Frankreich zurück: „Jetzt habe ich den Tod verstanden; ich glaube nicht, dass er mir sehr weh tun wird. Ich habe den Hass, die Verachtung, den Verfall und verschiedene andere Dinge kennengelernt. Ich habe sogar Momente der Liebe kennengelernt. Nichts von mir wird mich überleben, und ich verdiene auch nicht, dass mich etwas überlebt, ich bin mein ganzes Leben lang in jeder Hinsicht ein mittelmäßiger Mensch gewesen. [...] Man wird mich vergessen. Man wird mich schnell vergessen.“

Schon in seinem ersten Roman Ausweitung der Kampfzone (1999) entwirft Michel Houellebecq ein desillusioniertes Weltbild, in dem narzisstischer Individualismus und resignativer Zynismus menschliches Miteinander verkümmern und in trostloser Vereinsamung erstarren lassen. In Plattform nimmt diese klinisch-kalte Diagnose menschlichen Scheiterns gerade deshalb Phänomene wie Wohlstandsgefälle und Sextourismus ins Visier, weil sich in ihnen jene spießbürgerliche Unfähigkeit entlarvt, sich in der Fremde wirklich auf Fremdes einzulassen, ohne es mittels übermächtiger Finanzkraft verfügbar zu machen.
Doch Houellebecqs provokante Strategie, über die scheinbare Personalunion mit seiner Romanfigur (ebenfalls: Michel) eine Verteidigung des Sextourismus‘ zu suggerieren, ist problematisch: Wer sich wie er bei der Lesung im ausverkauften Frankfurter TAT lässig posierend selbst als Sextourist outet, entlarvt zwar jenen scheinheiligen Konsens über die Ablehnung internationaler Prostitution als stillschweigende Bestätigung bzw. Verschärfung des Status Quo, muss sich jedoch vorwerfen lassen, nicht über die reine Beschreibung frauenverachtender Machtverhältnisse und Ressentiments („geile Säue“, „Milchkühe“) hinauszukommen. Andererseits beweist gerade die überwiegend kritiklose Reaktion des Frankfurter Publikums, dass die weitgehende Verabschiedung eines humanistischen Werte- und Sprachkanons in Houellebecqs Werk ebenfalls reale gesellschaftliche Entwicklungen dokumentiert. Und das erst verleiht seinem Roman eine wirklich deprimierende Dimension. Zweifelhaft ist Houellebecqs Strategie auch bei der Darstellung des Terrorismus: Selbst die bisweilen grelle Überzeichnung seiner Hauptfigur kann kaum deren plumpe, antiislamische Angriffe rechtfertigen, denen sie sich in der Rekonvaleszenz ergibt – Hass? „Mann kann so leben“, philosophiert Michel. Houellebecq, der in Frankreich tatsächlich wegen Beleidigung des Islam vor Gericht steht, scheint in Plattform selbst in die Pauschal-Falle gelaufen zu sein: Pauschal-Sextourismus gehört bestimmt ebenso wie das Pauschal-Vorurteil zum kleinsten gemeinsamen Nenner bürgerlicher Ignoranz, doch wer sich so wenig Mühe gibt, diese Stereotype zu transzendieren, hat vielleicht selbst in Wahrheit nicht viel mehr hinzuzufügen.

Oliver Keutzer