OPFER

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Originaltitel: OFFRET, LE SACRIFICE
Special Effects: Lars Höglund
Regie: Andrej Tarkowskij
Buch: Andrej Tarkowskij
Kamera: Sven Nykvist
Schnitt: Andrej Tarkowskij, Michal Leszczylowski
Produktion: Schwedisches Filminstitut, Argos Films, Film Four International, Josephson & Nykvist HB, Sveriges Television, SVT 2, Sandrew Film & Theater AB, Französisches Kulturministerium
Produktions-Land+Jahr: Schweden, Frankreich, 1985
Musik: Johann Sebastian Bach, schwedische und japanische Volksmusik
Darsteller: Erland Josephson, Susan Fleetwood, Valérie Mairesse, Allan Edwall, Gudrún Gisladóttir, Sven Wollter
2 DVD im Digipak, DVD 9+ DVD 5, codefree, 4:3 letterbox, Dolby 2.0, Farbe und Schwarz-Weiß, 142 + 97 Min., Schwedische OF/Deutsche Synchronfassung, Untertitel in Deutsch/Englisch

Ein Essay von Oliver Keutzer anlässlich der DVD-Veröffentlichung des Film OPFER

Die Frage, was mich am Thema des Opfers – oder der Opferung – so nachdrücklich fasziniere, lässt sich ohne Umschweife beantworten: Mich als religiösen Menschen interessiert vor allem jemand, der fähig ist, sich als Opfer hinzugeben, sei es um eines geistigen Prinzips willen, sei es um sich selbst zu retten, oder aus beiden Motiven zugleich. Ein solcher Schritt setzt selbstverständlich die totale Abkehr von allen vordergründig-egoistischen Belangen voraus, das heißt, der Betreffende handelt in einem existenziellen Zustand jenseits jeder ´normalen` Geschehenslogik, er ist der materiellen Welt und ihrer Gesetze enthoben. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – bewirkt seine Tat spürbare Veränderungen. Der Raum, in dem sich derjenige bewegt, der bereit ist, alles zu opfern, ja sich selbst als Opfer darzubringen, stellt eine Art Gegenbild dar zu unseren empirischen Erfahrungsräumen, ist deshalb aber nicht weniger wirklich. Andrej Tarkowskij

In Andrej Tarkowskijs letztem Spielfilm vor seinem Tod im Dezember 1986 kulminieren zahlreiche inszenatorische Strategien und philosophische Diskurse, die in seinen früheren Filmen rudimentär, in seinem Spätwerk hingegen deutlicher auf die Idee des Opfers, speziell des Selbstopfers rekurrieren. Die Protagonisten in STALKER (1979), NOSTALGHIA (1983) und OFFRET / OPFER (1986) erleben existenzielle Krisensituationen, auf die sie scheinbar nur mit Akten der radikalen Selbsthingabe, der „kathartischen Entindividuation“ reagieren können. Alle drei männlichen Figuren sind, wie Gerhard Larcher richtig bemerkt, „Sonderlinge, vom Unverständnis der anderen ausgesondert, treten aber dafür ein, dass eine Suche offengehalten, eine geistige Botschaft vermittelt wird bis hin zur Bereitschaft zum Selbstopfer“ . Der Stalker (Aleksandr Kaidanowskij), ein gleichsam konkreter wie spiritueller Führer in die geheimnisvolle und gefährliche „Zone“, reibt sich in altruistischem Einsatz stets aufs Neue physisch wie emotional auf, um Menschen den Zugang zu jenem sagenhaften Raum zu verschaffen, der angeblich ihre geheimsten Wünsche zu erfüllen vermag, und stets aufs Neue leidet er an der Unfähigkeit der ihm Anvertrauten, mit diesem Geschenk angemessen umzugehen. Der alternde Mathematiker und Philosoph Domenico (Erland Josephson) verbrennt sich selbst, um auf den angeblichen Irrweg hinzuweisen, den die Menschheit in ihrer Technik- und Fortschrittshörigkeit beschreitet; der ehemalige Theaterschauspieler und -kritiker Alexander (erneut Erland Josephson) in OPFER verbrennt sein Haus, verlässt seine Familie und verstummt, um die Welt vor einer nuklearen Apokalypse zu bewahren. Vor allem in den letzten drei Filmen Tarkowskijs erfüllen seine männlichen Protagonisten eine doppelte Funktion: Sie treten einerseits als Handlungsträger auf und andererseits als „symbolic doubles“ , filmische Inkorporationen wichtiger Eckpfeiler seiner „Vision du Monde“. Der Stalker stellt noch eine Art Gegenpol zu den Intellektuellen dar, die er in die „Zone“ führt (obwohl er als musisch inspirierter Mensch selbst emphatisch Gedichte rezitiert). Der Schriftsteller Andrej Gortschakow (Oleg Jankowskij) hingegen teilt mit Tarkowskij Melancholie und Leiden am Exil (NOSTALGHIA stellt den ersten Film dar, den Tarkowskij außerhalb Russlands realisierte) sowie dessen Begeisterung für Kunst. Während sich Domenico als öffentliches Mahnmal verbrennt, findet Gortschakow bei einem einsamen Akt des Glaubens den Tod. Alexander schließlich kann nicht nur hinsichtlich seiner Anlage als Künstler und Gläubiger als Inkorporation Tarkowskijs gelten, er steht auch mit Blick auf die entfaltete Thematik des Selbstopfers im Zentrum des filmischen Diskurses.

Von „Handlung“ im Sinne eines klassischen, narrativen Kinos kann hier nämlich nicht die Rede sein. Tarkowskij zeigt die Vorbereitungen zum Geburtstag des alternden Schauspielers und Kritikers Alexander, der sich mit seiner Frau in ein altes Landhaus am Meer zurückgezogen hat. In die Besuche der Kinder und Freunde platzt die ominöse Nachricht einer globalen Katastrophe, vielleicht eines Atomkrieges, der die gesamte Menschheit zu vernichten droht. Inmitten der Panik und Erschütterung greift Alexander zum – für ihn – letzten Mittel und bietet sich Gott als Opfer an, falls dieser die Apokalypse verhindere. Angesichts der ambivalenten Verwebung von Traum-, Halluzinations- und Erinnerungs-sequenzen verweigert der Film häufig jegliche Orientierung, wessen Realitäts- bzw. Bewusstseinsebene man gerade beiwohnt. Maja Turowskaja beschreibt eine Entwicklungs-linie in Tarkowskijs Werk als sukzessives „Abrücken von jeder äußeren Handlung unter gleichzeitiger Vermehrung des Gehalts“, was sie mit Blick auf die religiösen Implikationen seines Kunstverständnisses als „Streben nach Harmonie“ bzw. „Streben zum Absoluten“ präzisiert. Gleichzeitig entziehen sich seine letzten drei Filme mehr und mehr einer (von Tarkowskij so verabscheuten) rationalistischen, auf Logik und Kausalität beruhenden Dramaturgie und avancieren zu ausschweifenden, filmischen Meditationen: über Wesen und Funktion der Kunst bzw. des Künstlers; über den Glaubensverlust der Moderne; schließlich über Möglichkeit und Notwendigkeit individueller Akte der Umkehr und Wiedergewinnung eines mystischen bzw. mythologischen Einheitszustandes im Selbstopfer. Ablesbar wäre dies z.B. an der Behandlung der Levitationsszenen in SOLARIS (1972), ZERKALO / DER SPIEGEL (1974) und OPFER (1986): Wo die Schwerelosigkeit im Rahmen des Science-Fiction-Genres erklärt (und angekündigt) wird, legitimiert sich der den Gesetzen der Schwerkraft widersprechende Akt in DER SPIEGEL durch die transzendierende, Vergangen-heit und Gegenwart synthetisierende Einheitserfahrung der Erinnerung. In OPFER schließlich motiviert Tarkowskij die Levitation des Paares nicht mehr, so dass in der Eskamotierung der Naturge-setze wohl die Evokation einer übernatürlichen Kraft zu sehen ist, in die beide Protagonisten in diesem Moment eingebettet sind. Diesen rituellen kaíros als Emanation einer pantheistischen Gottesvorstellung zu verstehen, würde mit der ausgiebigen Inszenierung der vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft korrespondieren. Schließlich wird im russisch-orthodoxen Glauben der Schöpfer unmittelbar in seiner Schöpfung verehrt. Chris Marker beweist in seinem filmischem Essay über Tarkowskij in einer langen Serie unter-schiedlichster Einstellungen aus beinahe allen Filmen des Russen, welche exponierte Rolle vor allem Wasser und Feuer im dessen ästhetischem Universum spielen: die rettenden Fluten des Flusses, in den sich die junge Frau in ANDREJ RUBLJOW (1966) rettet; die mal friedlich tröpfelnden, mal energetisch prasselnden Regenschauer in SOLARIS oder NOSTALGHIA; schließlich die virtuosen Kombinationen von Feuer und Wasser in einer der ersten Erinnerungssequenzen aus DER SPIEGEL oder in der Schlusssequenz aus OPFER, die das brennende Haus mit der Weite des Ozeans und der von weitläufigen Wasserflächen durchzogenen Wiesenlandschaft Gotlands kontrastiert.

Mit dem Sujet des Wassers korrespondiert das Thema des (fernen, fremden) Ufers, das Tarkowskijs Protagonisten physisch und spirituell zu erreichen suchen: In IWANOWO DETSTWO / IWANS KINDHEIT (1962) bricht Iwan zu einer letzten Spähermission zum von deutschen Truppen kontrollierten Ufer des Flusses auf; in DER SPIEGEL fährt die Kamera auf einen ebensolchen zu und erkundet die Reflexionen des Raumes und des Jungen, der vor dem Spiegel sitzt, wie eine eigenständige, autonome Realität; in OPFER schließlich muss Alexander auf die andere Seite der Bucht gelangen, um die „gute Hexe“ Maria zu finden. Obwohl selbstverständlich noch weitere Motive und Sujets zu identifizieren wären (so z.B. das Haus, der Spiegel), beschränke ich mich an dieser Stelle auf die Behandlung der Traumsequenzen: Vor allem in OPFER erschwert es Tarkowskij seinem Publikum, die Wahrnehmung seines Protagonisten Wach- oder Traumzuständen zuzuordnen. Im Zentrum der Narration steht eine traumartige Sequenz, deren Beginn jedoch nicht eindeutig zu definieren ist. Durch die zentrale Position der Traumsequenz, so Marius Schmatloch, wird das „Geschehen im träumenden Subjekt fokussiert“, was Alexander zu einer Art Demiurgen erhebt, um den die „filmisch aufgearbeiteten Episoden, Situationen, Imaginationen und Visionen rotieren“ . Der Traum könnte innerhalb der zweiten Sequenz beginnen, in der Alexander ohnmächtig zusammenbricht, als ihn Jungchen von hinten anspringt. In diesem Moment imaginiert er zum ersten Mal einen Platz mit Treppen, ein umgestürztes Auto, einen Zebrastreifen. Die Kamera kippt dabei langsam nach vorne und präsentiert den seltsamen Ort in Schwarzweiß und Zeitlupe, ein stürzender Blick, der sich nach Ausbruch der nuklearen Katastrophe wiederholen wird. Dann jedoch ist die Szenerie belebt, Hunderte Menschen rennen panisch, aber immer noch in Slow-Motion durch den Bildkader. Des weiteren wird der Vertikalschwenk beim zweiten Mal länger durchgehalten, die Blutspur auf der Glasscheibe führt zu Jungchen, der auf dem Glas zu schlafen scheint. Neben den ominösen Hirtenrufen und der japanischen Flötenmusik, die trotz ihrer Fremdartigkeit keine eindeutigen Traumsig-nale darstellen, weil sie auch im Wachzustand Alexanders ertönen, sind vor allem das Klirren eines Löffels und Alexanders weinende Stimme zu hören. Auch über diese asynchrone Bild-Ton-Verklammerung etabliert der Film eine autonome, irrationale und subjektive Raumlogik, die primär an Alexanders Wahrnehmung andockt und so die verschiedenen „Chronotope“ als „ontologische Seelenlandschaften“ strukturiert. Eine zweite Möglichkeit, den Beginn der Traumsequenz anzusetzen, wäre der Moment, in dem die Düsenjäger über das Haus donnern, in dem nach einer auffälligen Links-Rechts-Links-Fahrt der Kamera sowie einer Heranfahrt an den Schrank ein Milchglas herunterfällt und dann auf Alexander geschnitten wird: In diesem Moment werden auch die Farben extrem entsättigt, was auf eine radikal veränderte Realitätswahrnehmung verweisen könnte. Allerdings folgt Tarkowskijs Farbdra-maturgie diesem relativ simplen Schema – Realität in satten, Träume in entsättigten Farben zu zeigen – nicht sehr konsequent. Das Ende der Traumsequenz ist hingegen recht präzise zu bestimmen: Nach einer weiteren Imagination – die nackte Martha scheucht Hühner durch den Flur des Hauses – fährt die Kamera aus einer Halbtotalen nach rechts, fängt Alexanders Frau Adelaide halbnah ein, begleitet sie nach rechts und gleitet dann in Alexanders Zimmer, wo dieser (halbtotal photographiert) auf der Couch liegt. Dabei erhöhen Tarkowskij und sein Kameramann Sven Nykvist sukzessive Intensität und Temperatur der Beleuchtung, bis der Schläfer plötzlich aufschreckt. Innerhalb einer einzigen Einstellung markieren Fahrt und Lichtwechsel den fließenden Übergang vom Träumen zum Wachen. OPFER legt es auf eine irritierende Nähe beider Bewusstseinszustände an.

Tarkowskij spricht in der „Versiegelten Zeit“, dem ästhetisch-philosophischen Manifest seines Kunstverständnisses, vom Film als einem besonderen Zeitmedium. Damit ist nicht nur gemeint, dass sich Filmhandlung in der Zeit erstreckt, das trifft auch auf musikalische oder theatrale Darbietungsformen zu, sondern dass jede Einstellung ihre Poesie aus der Beobachtung und Aufzeichnung ihres je eigenen und autonomen Zeitverlaufs bezieht. Für Tarkowskij meint filmische Ästhetik die Evokation von Zeitlichkeit in ihrer „realen und unauflöslichen Verknüpfung mit der Materie der uns täglich umgebenden Wirklichkeit“ . Wenn z.B. die erste Einstellung in OPFER mit einer langen Linksfahrt Alexander, Jungchen und den Postboten Otto unmerklich näher und näher zeigt, bis sich die anfängliche Totale in eine halbnahe Einstellung verwandelt hat, könnte man von einem behutsamen Versuch sprechen, die Zeit dieser Annäherung subtil erfahrbar zu machen. Allerdings scheint es Tarkowskij dabei lediglich auf die spezifische Phänomenalität und „Wahrheit“ des Beobachteten anzukommen und nicht auf den filmpraktischen Einwand, dass manche seiner Einstellungen gerade extreme Eingriffe in die abzufilmende Wirklichkeit voraussetzen: vom Einleuchten des Sets bis hin zur mechanischen Erzeugung jener Phänomene, an denen dann „die in ihren faktischen Formen und Phänomenen festgehaltene Zeit“ angeblich spürbar werden soll: Die eben beschriebene Einstellung z.B. wurde, wie der Cutter Michal Leszczylowskij in seiner Dokumentation DIRECTED BY ANDREJ TARKOWSKIJ (1988, auch auf der DVD) beschreibt, intensiv besprochen und geprobt.

Tarkowskijs Verständnis von Film als Zeitkunst ist demnach ein metaphysisches. Die Konstituenten seines Universums, die über die Kategorie des Autorenkinos, in dem einzelne Regisseure ihre persönliche Sicht auf die Welt ästhetisch verschlüsseln, bis zum Geniebegriff des Sturm und Drang zurückverweisen, reflektieren vor allem eine tiefreligiöse Haltung zu Gesellschaft und Zivilisation, zu Kultur und Natur. Tarkowskijs „Vision du Monde“ ist insofern antimodern, als sie sich gegen den differenzierenden Gestus des wissenschaftlich-rationalistischen Logos der Moderne richtet und stattdessen von mythologischen „Identitäts- und Kontinuitätshypothesen“ ausgeht. Diese Einheitsvorstellun-gen integrieren nicht nur Vorstellungen einer göttlichen Weltordnung oder einer Einbettung des Menschen in die Natur, sondern greifen in einem weiteren Rahmen auch den paradoxen Gedanken einer Einheit von Vergangenheit und Gegenwart im kulturstiftenden Akt des Erinnerns auf. In diesem Sinne ist Hans-Dieter Jüngers Begriff der „poietischen Mnemesis“ zu verstehen, der Tarkowskijs Filmkunst von mimetischen Abbildungsfunktionen befreien und als „Emanation eines im poietischen Vollzug unmittelbar erfahrenen Seins“ rehabilitieren will. Für die Rezeption dieses evokativen Einheitsdenkens fordert Jünger denn auch ein „außerordentliches Sehen“ , das mehr an meditative Versenkung als an kritische Analyse erinnert. Dabei kommt es Tarkowskij eben nicht auf Plausibilität an – dementsprechend lässt OPFER einige problematische Fragen offen: Da Alexander z.B. nicht wissen konnte, dass ihn der Postbote Otto besuchen würde, um ihn zu Maria zu schicken, hätte er eigentlich Otto gegenüber schweigen müssen, denn sein Ange-bot an Gott erfolgte bereits vorher. Wenn er derjenige sein will, der sich selbst zum Opfer bringt, warum bittet er dann Maria, ihn und alle anderen zu retten? Wie kann, wenige Minu-ten nach Ausbruch des Feuers, bereits eine Ambulanz zur Stelle sein? Wenn, wie Mark Le Fanu Tarkowskij unterstellt, „sacrifice is the overriding human quality which separates man from the beasts“ , erscheint es zumindest irritierend, dass Alexanders Familie unter seinem Opfer leiden muss, denn durch sein Handeln verliert auch seine Frau Adelaide ihr Heim.

Tarkowskijs christliche Metaphorik in OPFER erfuhr enorme Kritik, wurde als „Abstieg in die Niederungen der Metaphysik“ beschimpft und als „Tod jener erregenden Spannung zwischen Diesseitigkeit und Eschatologie, Humanismus und Erlösungsmystik, Realismus und Hieroglyphik“ . OPFER vereine „alle repressiven Wesenszüge der Religion“ , sei eine „Hymne auf jenen patriarchalen, lebensfeindlichen Größenwahn“, ein Zeugnis „hypostasierter Erlösungsphantasie“ sowie die „Revision der Aufklärung und der Moderne“ . Jenseits der Frage, ob Tarkowskijs Opferverständnis aus westlicher Sicht dogmatisch oder rückwärtsgewandt ist, scheint jedoch die Tatsache beachtenswert, dass es im Kontext seines eigenen Weltbildes konsequent formuliert und visualisiert ist. OPFER erzählt – wie die meisten Filme Tarkowskijs, aber auch Dreyers, Bressons oder Bergmans – in mannigfaltiger Form von Gottesbefragungen. Doch wo z.B. bei Bergman Gott stets schweigend, abwesend, die große Leerstelle ist (sieht man von der monströsen Wahnerscheinung Gottes als Spinne in SÅSOM I EN SPEGEL / WIE IN EINEM SPIEGEL, 1961, ab), was der Gottessuche Züge von Existenzverwünschung beimischt, zeigt Tarkowskijs Werk menschliche Tragik anders: nicht als existenzialistische Antwort auf eine entdivinisierte Welt, sondern immer wieder integriert in die schwierige Suche nach (Spuren von) Transzendenz. Tarkowskij stellt sich damit explizit auf die Seite des Mythos, was in den anklagenden Monologen der Protagonisten Alexander, Domenico und Stalker gegen den angeblichen Glaubensverlust der Moderne sicherlich häufig Manifestcharakter erhält. Ihre Selbstopferhandlungen können als dionysische „Syntheseerfahrung“ und „Selbsttranzendierung“ gelesen werden. Das Selbstopfer erscheint durchaus im Sinne Nietzsches als ultimatives „Mittel der Erfahrung der metaphysischen Ureinheit im weltlichen Sein“ durch ekstatische Körperaktivierung. Unter dem Zeichen des Eros, im Liebesritual, verschmelzen nicht nur die Körper Marias und Alexanders, sondern verschwinden auch die Gesetze der Physik oder, wie Jürgen Habermas es formuliert: „Erst wenn das Subjekt sich verliert, wenn es aus den pragmatischen Raum-Zeit-Erfahrungen ausschert (...); erst wenn die Kategorien des verständigen Tuns und Denkens eingestürzt, die Normen des täglichen Lebens zerbrochen, die Illusionen der eingeübten Normalität zerfallen sind – erst dann öffnet sich die Welt des Unvorhergesehenen und schlechthin Überraschenden.“ Eine Welt, so wäre zu ergänzen, die nicht mehr mit herkömmlichen, d.h. vernunftorientierten Mitteln (selbst)kritischer Realitätsprüfung vermessen sein will, dafür aber in der Rückkehr zum Heiligen, zum Göttlichen eine „verlorengegangene Solidarität“ behauptet. Als Alexander zur Tat schreitet, ziert seinen Kimono das asiatische Yin-Yang-Symbol, Zeichen der Ureinheit und Überwindung aller gegensätzlichen Prinzipien. Doch selbst innerhalb des christlichen Glaubenssystems, dessen „lebensverneinende metaphysische Grundtendenz“ explizit gegen Nietzsches Verständnis des Dionysischen als ekstatische Feier des unzerstörbaren Lebens opponiert (und deshalb seiner ästhetisch inspirierten Fundamentalkritik anheim fiel), bliebe das Selbstopfer Alexanders intelligibel: als Evokation der „synthetisierenden, den atomistischen Individuationsprozess umkehrenden Liebe“ Gottes, die ihre Nacheiferer „das Göttliche im irdischen Bereich“ erfahren lassen soll. Durch die filmische Kontemplation über die Macht der Intuition und des Glaubens wird die Verzichtsleistung des Selbstopfers gegen die Allgegenwart verfügender Konsumhaltungen mobilisiert .

Schließlich hinterlassen auch konkrete, zeitgeschichtliche Katastrophenerfahrungen ihre Spuren in Tarkowskijs apokalyptischen Szenarien: 1986 befand sich der antagonistische Ost-West-Konflikt in einer Phase der Remilitarisierung, im gleichen Jahr erschütterten die Bilder des Reaktorunfalls von Tschernobyl die Welt. Bei Regisseuren wie Konstantin Lopuschanskij (PISMA MERTWOGO CELOWEKA / BRIEFE EINES TOTEN, 1986) oder Béla Tarr (KARHOZAT / VERDAMMNIS, 1988 bzw. WERCKMEISTER HARMONIÁK / DIE WERCKMEISTERSCHEN HARMONIEN, 2001) sind ähnliche Szenarien zu beobachten. Johnson und Petrie beobachten richtig, „that the overriding theme” in Tarkowskijs Werk „is a conflict between ´two worlds`: one external, materialistic, historical, violent, destructive, ´real`; the other internal, spiritual, atemporal, peaceful, hopeful, and usually given a transcendent quality by means of dream, hallucination, or inner vision” . Die Krise eines drohenden Atomkrieges und der daraus resultierenden, thermonuklearen Verseuchung der Welt konfrontiert beide Welten mit ihrer bevorstehenden Vernichtung. Das rettende Opfer, auf das Tarkowskij im Eingangszitat dieses Subkapitels anspielt, vermag für ihn nicht nur das eigene Selbst zu transzendieren und die Welt zu retten, es bietet den Schlüssel zu einer Sphäre jenseits der „empirischen Erfahrungsräume“, zu einer Heilsordnung. Die Evokation dieser Heilsordnung rangiert in Tarkowskijs Künstlerbild an prominenter Stelle: „Der Künstler“, per definitionem auf der Suche nach dem Absoluten, „ist ein Diener, der sozusagen seinen Zoll für die Gabe entrich-ten muss, die ihm wie durch ein Wunder verliehen wurde. Der moderne Mensch aber will sich nicht opfern, obwohl wahre Individualität doch nur durch Opfer erreicht werden kann.“

Was Tarkowskijs Film allen Vorwürfen der Komplexitätsreduktion zum Trotz evoziert, ist ein zutiefst ambivalentes Verhältnis von Hoffnung und Skepsis: Anfangs lebt Alexander in einem Zustand der Zurückgezogenheit, des Exils. Sein Haus befindet sich bezeichnenderweise am Meeresufer, am Rand der Zivilisation, an der metaphysischen Grenze zum seit jeher mit Unendlichkeit und Ewigkeit konnotierten Ozean. Mit seinem Selbstopfer findet er zu einer – zweifellos problematischen – Handlungsethik zurück, sein „bargain with God“, fungiert in dieser Hinsicht als „the discovery of a destiny“ . Selbsterkenntnis und Selbstopfer begründen allerdings keine bessere Existenz, die evozierte Heilsordnung äußert sich im Gegenteil in tiefer Isolation und Einsamkeit, im Verlust des Heims und der Familie. Die überlange Sequenz, in der Alexanders Haus in Flammen aufgeht, enthüllt in ihren insgesamt zwölf, immer wieder gegenläufigen Kamerafahrten die tiefe seelische Aufwühlung, die alle Charaktere in diesem Augenblick erfasst hat. Auf der anderen Seite steht Jungchen, der das Werk seines Vaters – die Pflege des japanischen Baums – fortsetzt. Das letzte Insert, in dem Tarkowskij den Film seinem Sohn Andriusha widmet, projiziert das diegetische Hoffnungsprinzip auf ein außerfilmisches: den Wunsch, in der bewahrenden Erinnerung der Nachkommen weiterzuleben.

Was Tarkowskij an seinen Sohn weiterreichen will, korrespondiert mit einer auffälligen Hinwendung seines Werks zur Kindheit: KATOK I SKRYPKA / DIE STRAßENWALZE UND DIE GEIGE (1961) und IWANS KINDHEIT (1962) beweisen in der Wahl kindlicher Protagonisten eine profunde Nähe zu juveniler Welt- und Selbstwahrnehmung; in ANDREJ RUBLJOW findet der verbitterte Ikonenmaler erst durch den Glaubensakt eines Kindes zu seiner Berufung zurück; in der komplexen Traum- und Erinnerungsstruktur von DER SPIEGEL dient die Figur des jungen Aleksej immer wieder als narrativer Dreh- und Angelpunkt; die Schlusseinstellung von STALKER präsentiert die telekinetischen Fähigkeiten der jungen Tochter als eine Art Wunder; OPFER schließt mit einer Einstellung auf Jungchen, der, nachdem er den gesamten Film schwieg, seine Sprache wiederfindet. So steht am Ende des Films – schließlich und retrospektiv – Alexanders anfängliche Vermutung, die er durch Jungchens Worte ans Publikum weiterreicht: Vielleicht kann nur ein Akt des Glaubens die Welt retten.

Die DVD im Digipak von absolut medien enthält neben dem Film in ansprechender Aufmachung und Qualität ein sehr persönliches Filmporträt von OPFER-Cutter Michal Leszczylowski mit vielen Impressionen von den Dreharbeiten zu OPFER, Filmausschnitten, Interviews mit Tarkowskij und Weggefährten sowie ausgewählten Zitaten aus DIE VERSIEGELTE ZEIT. Es gewährt seltene Einblicke in die Arbeitsweise eines Ausnahmeregisseurs. Eine angemessenere Präsentation für diesen modernen Klassiker kann man sich kaum wünschen. Ein absoluter Tip!

Oliver Keutzer

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