Kultur & Kritik:

neue Bücher Mai-September 2010

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Rafal Kochan

Encyclopedia of Industrial Music Volume I A-C

Impulsy Stetoskopu 2010. 100 pages, A-4 format, 350 g soft cover in full-colour, over 260 entries (only A-C) with black-white photos, index and double CD-R with recordings (most of them previously unreleased)

Nach längerer Vorbereitungszeit präsentiert Rafal Kochan den ersten Band seiner "Encyclopedia of Industrial Music".

Dieses notwendige und grundsätzlich lobenswerte Unterfangen versammelt alle relevanten Strömung der Industrial Culture: von den frühen Pionieren (COUM) über die wesentlichen Einflüsse aus anderen Künsten (David Cronenberg, J.G. Ballard) und poppigen Ausformungen (Autechre) bis hin zu den neuen Generationen seit den 1990er Jahren (Bands auf CMI, Tesco, Malignant usw.). Die einzelnen sehr dichten Beiträge sind ergänzt durch Fotos und eine meist recht detaillierte Discographie. In vielen Fällen wurde zumindest bis 2009 auf Aktualität geachtet.

Der vorliegende Band umfasst lediglich die Einträge A-C, ein umfassendes namesnregister sowie zwei ergänzende CD-Rs, auf denen einige der thematisierten Bands beispielhaft vertreten sind. Die großen Namen wird man dabei vergebens suchen, doch mit BARDOSENETICCUBE, BEEQUEEN, BLACK LEATHER JESUS, CHAOS AS SHELTER, COSTES u.a. hat man zumindest zwei randvolle und sehr hörbare Experiemental/Ambient/Noise-CDs vorliegen.

Das in klarem Englisch formulierte Buch ist über diverse Musikmailorders erhältlich und meist nicht gerade günstig - für Fans des Genres dürfte es jedoch momentan den Charakter eines Standardwerkes besitzen.

:ms:

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Linda Simonis (Hg.)

Geopolitische Fiktionen. Beobachtungen in Moderne und Gegenwart

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broschiert, 172 Seiten. ISBN 978-3-941030-05-3. forum texte + projekte, Bd. 2

In den letzten Jahren ist die Untersuchung geografischer Kulturaspekte populär geworden, und die aktuelle Essay-Sammlung "Geopolitische Fiktionen" - herausgegeben von der Bochumer Literaturwissenschaftlerin Linda Simonis - liefert interessante Ergänzungen zu dieser Ausrichtung einer 'Raumwissenschaft'. Baisis ist die alteuropäische Idee, Machtpolitik immer in Bezug ein spezifisches Territorium zu denken. Um eine Theorie der geopolitik geht es jedoch ausdrücklich nicht, sondern - wie der Titel besagt - um künstlerische "Betrachtungen in Moderne und Gegenwart". Als Barometer dienen dazu Tendenzen aus Literatur und Film.

Einige teile des Buchen sollen besondere Beachtung finden. Es beginnt mit einer oft verfemten Keimzelle moderner Literatur: Solvejg Nitzke untersucht in " Die neue Welt(un)ordnung" den Asüekt der 'reisenden Welterfahrung' in Louis Ferdinand Célines großartigem Roman "Voyage au bout de la nuit", der vor wenigen jahren erstmals vollständig in deutscher Übersetzung erschien. Mark Schmitt zeigt in "Redneck Apocalypse", wie der nordamerikanische Süden als Raum des Anderen in Literatur und Film erschlossen wird. Namentlich erläutert er die vielgesichtigen 'Backwood'-Mythen, aus denen Filme wie THE TEXAS CHAIN SAW MASSACRE entstanden sind.

Von steigener Popularität ist auch ein eher schrulliger utopischer Roman von Edward Bulwer-Lytton: "The Coming Race", deutsch weniger verfänglich als "Das kommende Geschlecht" übersetzt. Jan Mosch erarbeitet dort Motive des Geopolitischen zwischen Utopie und Satire.

Neben Javier Cercas, Hannah Ahrendt, Swift und dem Science-Fiction-Autor Karel Capek findet schließlich Christoph Ransmayrs "Literarische Landnahme" in "Die Schrecken des Eises und der Finsternis" im Text von Gerrit Völker eine lange überfällige Aufmerksamkeit.

Diese Beiträge sind nur Beispiele für ein spannendes Kaleidoskop, das keinen Anspruch auf Systematik erhebt, jedoch voller kluger und aufschlussreicher Ansätze steckt. "Geopolitische Fiktionen" wird dem aufgeschlossenen Kulturinteressierten einige inspirierende Einsichten über nicht immer naheliegende Themen vermitteln und kann als Schritt in einen ergiebigen Forschungskontext betrachtet werden, der vor allem nach interdisziplinären Ansätzen verlängt.

:ms:

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Antje Flemming

Lars von Trier. Goldene Herzen, geschundene Körper

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Deep Focus 9. 256 Seiten, 183 Fotos. Paperback, 17 x 22 cm.

Lars von Trier ist zweifellos ärgerlich, betrachtet man seine weiblichen Mysterienspiele aus einer feministischen Perspektive - und ein erfreuliches Unterfangen ist es ebenfalls nicht. Umso erstaunlicher konzentriert sich die Dissertation von Antje Flemming ganz auf diesen kritischen Blickwinkel: Sie untersucht die Filme aus Lars von Triers zweiter Schaffensphase (nach EUROPA) unter dem Aspekt des weiblichen Leidens. Es mutet kaum erstaunlich an, dass ihre Befunde entsprechend negativ ausfallen, und das, obwohl die Analyse und Argumentation zahlreiche spannende Bezüge aufzeigt (von Genrekonventionen über die Vorbilder bis hin zu mythologischen Aspekten).

Die Untersuchung kulminiert in einer durchaus vernichtenden Kritik des 'misogynen' ANTI CHRIST (das Kapitel ist für das Buch nachträglich angefühgt worden), die u.a. an vorliegenden Rezensionen (Daniel Kehlmann u.a.) belegt, dass die mythische Angst vor der Frau durchaus aktuell ist. All das mag stimmen und formal reiht sich dieses Buch problemlos in die renommierte Filmtheorie-Reihe Deep Focus ein. Es ist gut lektoriert, ansprechend layoutet, treffend illustriert, hervorragend gedruckt und wartet mit einer ästhetichen Covergestaltung auf. Dennoch: Bei einer ausführlichen Untersuchung, die ihren Gegenstand zusehends verabscheut, macht die Lektüre nicht unbedingt Freude.

Gerade ANTI CHRIST kann aus einer etwas verschobenen Perspektive durchaus als jenes große Werk gewürdigt werden, das zumindest einige darin sehen: Der Schlüssel ist es, von Triers Filme eben nicht wörtlich zu nehmen, nicht affirmativ zu sehen, sondern gegen den Strich. So erscheint der Mythos des Urweiblichen, das näher an der Natur agiert, durchaus angsteinflößend für den rationalen Zeitgenossen - doch wer sagt, dass dieser Identifikationspotential besitzt. Zumindest in ANTI CHRIST kommt Willem Dafoes Figur nicht gut weg. Seine Analysmethode verstärkt das Trauma noch zusehends, und letztlich beschwört der Mann hier das eigentlich 'Böse' selbst. Von einer objektiven Realität in diesem Film auszugehen, wäre zu kurz gedacht.

Lars von Trier, einer der großen Mystiker des Gegenwartskinos, der zweifellos nach einem intuitiv-sensiven Zugang verlangt, erscheint in der vorliegenden theoretischen Analyse als grotesk fehlgeleiteter Inhumanist. Nachvollziehbar - aber trifft das den Kern seiner Kunst?

:ms: