Die Doppelung der Mythen

Auf den Marmorklippen von Giorgio Battistelli

Eine Oper nach einer Erzählung von Ernst Jünger, Uraufführung am 8. März 2002 im Nationaltheater Mannheim.

„Da schritten wir durch die weit offenen Tore wie in den Frieden des Vaterhauses ein.“ Dieser Satz sollte bleiben von einer 90minütigen Aufführung, nach der man einen eingangs erhaltenen Umschlag öffnen durfte, der diese Formulierung einer versöhnlichen Utopie enthielt. Davor jedoch stand der Weg durch eine Hölle auf Erden, ganz so wie es bereits Ernst Jüngers allegorische, oft märchenhafte Erzählung (1939) will.

Anders als Jüngers frühe Schriften ist dieses Buch vor allem deshalb umstritten, da es immer wieder als eine codierte Anklage gegen die Barbarei des Nationalsozialismus gelesen wurde – was über weite Strecken funktioniert –, in seiner positiven Utopie jedoch wiederum auf ein funktionierendes, nicht hinterfragtes patriarchales System verweist, aus dem sich der Autor selbst nie befreien wollte. Erzählt wird die in unbestimmter Zeit angesiedelte Geschichte der Brüder Otho und Minor, die als Botaniker und Philosophen im Einklang mit Mensch und Natur auf den Marmorklippen, der Marina, leben. Vor dort müssen sie erleben, wie der aus den dichten Wäldern stammende Oberförster ein Terrorregime verbreitet, das der Marina immer näher kommt. Die archaische Ordnung dieses Systems droht einer vitalen wie chaotischen Destruktivität zum Opfer zu fallen: „Die Bewohner wurden bei Nacht und Nebel abgeführt.“ Dazwischen kehren Momente vorgeblicher Normalität ein. Die beiden Brüder denken zwar über aktiven Widerstand nach, entschließen sich jedoch zunächst zur ‚inneren Emigration‘. Auf der Suche nach einer seltenen Blume entdecken sie schließlich Köppelsbleek, die Hinrichtungsstätte des Oberförsters. Erschüttert vom erlebten Grauen kehren sie zurück. Der Fürst von Sunmyra, ein Adliger der Marina, tritt gegen den Oberförster im Kampf an, wird jedoch getötet. Ein infernalischer Kampf entbrennt, in der die Marina auf den Marmorklippen in Flammen aufgeht: „So flammen ferne Welten zur Lust der Augen in der Schönheit des Unterganges auf.“ Minor, Otho und ihre kleine Familie verlassen den Ort des Schreckens und flüchten nach Alta Plana, einen neuen (temporären?) Ort der Harmonie.

"Auf den Marmorklippen" als ein Buch des 'inneren Widerstandes‘ gegen das Terrorregime zu deuten, liegt offensichtlich nah, und tatsächlich näherte sich die Deutlichkeit der Bilder der Realität derart an, dass der Autor von Parteifunktionären kritisiert wurde. Doch die Ahnung, dass Köppelsbleek auch 'Goebbelsbleek‘ heissen könnte und der Oberförster eigentlich der Reichsjägermeister Göhring sei, kam nicht von Ungefähr.
Nun ist es natürlich aus zwei Gründen fraglich, ob sich aus diesem wortgewaltigen Erzählwerk weitgehend ohne wörtliche Rede eine Film- bzw. eine Bühneninszenierung machen lässt. Kann man eine solch bildhafte, mythische Sprache noch einmal durch Bilder und Klänge doppeln, ohne sie zu vernichten? Der italienische Komponist und Regisseur Giorgio Battistelli, der bereits Pasolinis "Teorema" und Artauds "I Cenci" adaptierte, hatte bereits 1986 mit Ernst Jünger diesbezüglich Kontakt aufgenommen und auch das Einverständnis erhalten, widrige Umstände verzögerten das Projekt jedoch bis ins Jahr 2002. Was Battistelli interessierte, „ist weniger eine Übersetzung als vielmehr ein 'Destillat‘, das in der szenisch-musikalischen Fassung die komplexe Architektur der Erzählung Jüngers, seine Hauptthemen und seine Gestalten bewahren will.“ Aus den Marmorklippen ist also am Ende eine (post)moderne Oper geworden, eine Abfolge teils aufwändig arrangierter Bilder, Tableaux, die sich in der inhaltlichen Abfolge an den Schlüsselmomenten der Erzählung orientieren – inszeniert mit Hilfe einiger Mitglieder der spanischen Performancegruppe La Fura dels Baus. Dabei wird am Einsatz multimedialer Möglichkeiten kaum gespart: Eine rasante Kreisfahrt präsentiert in einer monumentalen Videoprojektion auf halbdurchlässiger Leinwand die Marmorklippen in ihrem friedvollen Zustand, begleitet von zunächst geheimnisvoller wispernder, später anbrandender Orchestermusik. Schrifteinblendungen im Bild und später über der Bühne ermöglichen ein Verfolgen des Textes, der meist unverändert Formulierungen aus der Erzählung übernimmt.

Ein großes Ensemble an Darstellern wird geboten, um oft mit artistischem Vermögen lebende Bilder zu collagieren, die dann von den in einem oft enervierenden Sprechgesang rezitierenden Protagonisten bespielt werden. Eine Schlüsselposition kommt dabei dem meist rotierenden Mittelteil des Bühnenboden zu, der permanente Bewegung und Fluss vermittelt. Das alles kombiniert mit einer expressiven Lichtgestaltung findet seinen Höhepunkt in der Köppelsbleeksequenz, die u.a. mit Bondagemotiven aufwartet, letztlich aber nichts von dem thematisierten Schrecken vermitteln kann. Der finale Kampf findet eher auf musikalischer Ebene statt, wobei sich die Musik in hinreichende bekannte dramatische Figuren flüchtet. Etwas befremdlich – da erschreckend unästhetisch – ist die gelegentliche Öffnung des Bühnenraumes bis ins Kulissenlager mit seiner Glühbirnenbeleuchtung hinein. Dagegen kommt die finale Projektion der Marina in Flammen makabererweise einer visuellen Erholung gleich. – Was bleibt, ist ein zwiespältiger Eindruck, die Würdigung einiger eindrucksvoller Tableaux und gelungener multimedialer Kombinationen, doch die Doppelung eines am Rande des Pathos‘ rangierenden Textes durch ebenso schwülstigen Gesang ist stellenweise schwer erträglich. Wenn auf anderer Ebene die zeitlos-anklagende Essenz dieses Stoffes bewahrt werden kann, war es die Mühe vielleicht dennoch wert...

Christoph Donarski