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Death in June
presents KAPO!
(NERO 2003) CD-Reissue 14 Tracks
„Seltsame Gewächse romantischer Verwirrung.
Bizarre Heilige,“ schrieb der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen
(SPEX) in den achtziger Jahren über die umstrittene britische Formation
Death in June. Und man könnte diese Einschätzung noch immer
teilen, wenngleich sich viel geändert hat seit jener Frühphase
der Band. Einzig verbleibendes Gründungsmitglied ist Douglas Pearce,
der sich immer neue Mitstreiter sucht, um seiner Vision bis heute konsequent
neue Aspekte abzugewinnen. KAPO ist das gemeinsame Projekt mit Richard
„Leviathan“ Levy, der heute die Folkpopband Ostara vertritt,
aus dem Jahre 1996. Der CD/Projekt-Name bezieht sich auf jene Häftlinge
des Konzentrationslagersystems, die zur Bewachung (und Unterdrückung)
ihrer Mithäftlinge abgestellt wurden. „Sind wir das nicht alle:
Häftlinge, die Häftlinge bewachen?“ fragte Pearce in einem
Interview auf dieses Konzept angesprochen. Gefangene in einem Gefängniskonstrukt
namens Europa, so kann man sich das Bild hier vorstellen. Auf dem Cover
findet sich eine Marienkerze vor einem aus roten und weißen Blüten
geknüpften kroatischen Wappen. Coverfoto, Titel und Entstehungsjahr
deuten direkt auf dem Balkankrieg, und einige Kritiker wären versucht,
direkt auf Pearce‘ Engagement für Kroatien zu verweisen, doch
im inneren der CD findet sich ein anderes Fotodokument: Todesanzeigen
christlicher und moslemischer Individuen. Wie so oft ist der erste Eindruck
eine Falle, die ein erheblicher vielschichtigeres Konzept offenbart: die
schwere Auseinandersetzung mit einem der düstersten Kapitel der europäischen
Geschichte der letzten Jahre. Beiderseitige Opfer des Völkermordes
scheinen auf einer Gedenkwand im Tode vereint. „The Dead walk Hand
in Hand / With the Living / Throughout the Ages“ heißt es
in dem Stück „A Sad Place to Make a Shadow“)...
Ein pessimistische und zutiefst traurige Sicht auf Europa
zeigt sich in den vorliegenden folkigen und neoklassisch arrangierten
Collagen: „Eyes Like Little Dreams / Come True / We are All / Treading
water / Especially in The New / Europa!“ Zermürbender Höhepunkt
dieser Platte ist „Lullaby to a Ghetto“: „So, This is
your Life / This is your World / In A Lullaby To a Ghetto / Where you
Murder Boys and Girls“. In diesen Zeilen formuliert sich die wütende
Anklage an die ignoranten Zeugen und Hinterbliebenen eines Massakers:
Wie kann man sich nach immer neuen Völkermorden in einer Welt des
Friedens wähnen? Wie ist ein Leben im Bewusstsein möglich, Nachbar
eines „Ghettos“ zu sein, „wo Jungen und Mädchen
gemordet werden“? Immer wieder stellt sich die Frage nach den Gründen
dieser humanitären Katastrophe, nach der Absurdität eines weiteren
Krieges, der für „Blut“ und „Boden“ geführt
wurden, als ob es den Zweiten Weltkrieg nie gegeben hätte. Während
sich die Texte Douglas Pearce‘ der üblichen hermetischen Poesie
bedienen, ist die Sprache des jüdischen Liedermachers Levy von großen
Metaphern geprägt, so etwa „the New Jerusalem“ als Bild
für das ersehnte „neue Paradies“ („Hero Gallow“),
oder Jüngers „Marmorklippen“ erneut als Metapher für
ein von Tod und Vernichtung heimgesuchtes Land („The Rat and the
Eucharist“).
KAPO kam 1996 als Mini-CD mit 8 Liedern heraus, war lange
vergriffen und wurde aktuell um zahlreiche Bonustracks erweitert neu aufgelegt.
Diese neuen Stücke fungieren teils als vertiefende Meditationen auf
die Thematik („Only Europa Knows – mantra“, „The
Marble Cliffs“), machen die Texte in anderer Sprache verständlicher
(das an Jean Genet angelehnte „Kopfjäger“, „Ein
trauriger Ort, der einen Schatten wirft“) oder bieten eine Neuinterpretation.
Dass es diese CD wieder gibt, ist ein Glücksfall, handelt es sich
doch um eine der tiefgehendsten künstlerischen Auseinandersetzungen
mit dem Balkankrieg, eines der musikalisch und inhaltlich geschlossensten
Werke von Death in June und insgesamt ein Werk, das die ambivalente Vielschichtigkeit
dieser Musikgruppe dokumentiert.
Maria Nicoli
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