Enrico Wolf

Bewegte Körper - bewegte Bilder
Der pornographische Film: Genrediskussion, Geschichte, Narrativik

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diskurs film Verlag 2007, 343 S.

Man kann natürlich klagen, dass sich die Porno Studies, also die wissenschaftliche Analyse der pornographischen Medien, in Deutschland noch nicht wirklich etablieren konnten. Das mag an einer ganzen Generation liegen, die dieses Thema nicht als förderungswürdig betrachtet. Es liegt aber auch daran, dass es bislang an originellen Schlüsseltexten fehlt. Linda Williams' Pionierarbeit "Hardcore" ist auch in der deutschen Übersetzung singulär, Georg Seeßlens "Der pornographische Film" leistete zumindest ein ökonomisches Porträt bis in die späten 1980er Jahre. Statt jedoch diese klaffenden Lücken zu füllen und konstruktiv an die gebotenen Ansätze anzuknüpfen, finden sich in der deutschen Filmwissenschaft nur einzelne zaghafte Vorstöße: Etwa Jürgen Felix' Aufsatz "Die pornographische Aktion. Ansichten eines missachteten Genres" (in: "Die Spur durch den Spiegel", Bertz Verlag 2004). Und es mutet fast typisch an, wenn Enrico Wolfs Arbeit "Bewegte Körper - bewegte Bilder", die im Klappentrext als "Grundlagenwerk der relativ jungen 'Porn Studies'" bezeichnet wird, ausgerechnet diesen brauchbaren Text in der 28-seitigen Bibliografie ignoriert.

Dieses Buch will viel: Es erkundet die Pornografie als wissenschaftliches Erkenntnisobjekt (nicht "Subjet"? - aber gut), durchstreift die bestehenden Diskurse, fasst zusammen und kennzeichnet wissenschaftlich durchaus korrekt, was dem Verfasser so alles bekannt ist. Gendertehorie wird erwartungsgemäß bemüht, medientheoretische Ansätze mit performativer und "somatografischer" Ausrichtung zitiert und als brauchbar diagnostiziert. Dann kommt die filmhistorische Passage. Auf immerhin über 100 Seiten wird das Genre nachvollzogen, mit einem überdeutlichen Akzent auf die Entwicklung vor der Legalisierung der Pornografie um 1970. Nun, es soll ja Filmwissenschaftler geben, die sogar im ersten Jahrzehnt der Filmgeschichte bereits deren ganze Möglichkeiten zu erkennen glauben. - Danach bekommen wir auf 20 Seiten sporadische Ideen geliefert, die in keiner Weise der entstehenden Vielfalt des pornografischen Film jener Jahre, der immer noch ein Kinofilm war, entspricht. Vom aktuellen Pornofilm ganz zu schweigen. Das mag nicht das Ziel der Arbeit sein, es ist jedoch fragwürdig, welchen Wert eine solch kursorische Oberflächlichkeit hat, wenn sie wesentliche Phänomene ingnoriert. Hier leistet ein weiterer Text, der nur wenige Seiten umfasst und in Wolfs Buch ebenfalls ignoriert wird, wertvolle Ansätze: der Eintrag "Pornografie" aus Reclams "Sachlexikon des Films", das erstaunlicherweise mit einem anderen Eintrag ("Video") zitiert wird. Dort findet man genretypische Fachbegriffe (etwa "roughie" oder "gonzo porn"), die in dem vorliegenden Buch nie auch nur erwähnt werden. Wer also von einem "Grundlagenwerk" verdichtete Information erwartet, wird enttäuscht. Dafür werden hier weniger ästhetische Aspekte berücksichtigt, als vielmehr ökonomische Details. - Auch die Übernahme pornografischer Akzente in den künstlerischen Mainstream von Nagisa Oshima bis Cathérine Breillat und Patrice Chéreau wird mit keinem Wort erwähnt. Dafür muss noch einmal Bertoluccis LETZTER TANGO herhalten.

Die letzten 30 Seiten äußern sich dann zur "Theorie des pornografischen Filmgenres", wobei auch hier auffällig ist, wie prominent die frühen Filmbeispiele für die Argumentation genutzt werden. Wo sich Linda Williams niemals scheut, den engen Zusammenhang zwischen filmischer Kompositionen, Körpertechniken und konkreten Praktiken im pornografischen Film zu analysieren, vergisst man kaum je, dass der Autor dieser Studie mit einer gewissen Scheu zu Werke ging, wie die Einleitung betont. Am Ende argumentiert Wolf noch mit Julia Kristevas 'Abjekt'-Theorie, und es fallen Ähnlichkeiten mit einer weiteren Studie auf, die hier ebenfalls keine Berücksichtigung findet: Marcus Stigleggers "Ritual & Verführung. Schaulust, Spektakel und Sinnlichkeit im Film" (Bertz & Fischer 2006), die interessante Analyseansätze zur performativen Ästhetik des erotischen Films bietet und Seitenblicke auf den Pornofilm einbezieht.

Enrico Wolfs Untersuchung "Bewegte Körper - bewegte Bilder" ist das nicht unbedingt seltene Beispiel einer durchaus kursorischen Filmwissenschaft, die sich nicht wirklich für ihr "Objekt" (sic!) interessiert, sondern sich allenfalls daran 'entzündet', um dann in theoretische Abstraktion zu driften. Die DVD-Auflistung (S. 291-2) zeigt, wie erschreckend wenige Filmbeispiele für diese Arbeit gesichtet wurden. Die ausführliche Auflistung kurzer und kürzester Beispiele in der Filmografie (mit Filmportokollen etc.) sollte nicht darüber hinwegtäuschen. Es ist in der Tat hilfreicher, Shamways über die Jahre umfangreiche Pornokolumne aus Splatting Image nochmal zu lesen - die natürlich auch keine Erwähnung findet, aber die ist ja auch nicht wissenschaftlich korrekt. - Wer in die Porno Studies heute einsteigen will, kann zu Linda Williams' Reader "Porn Studies" greifen, der die Schlüsseltexte zur Forschung enthält: Link.

M. Nicoli