„Jeder Traum hat eine Ordnung“

Ein Gespräch mit dem Filmemacher Christian Petzold

von Johanna Schwenk

 

Christian Petzold

Der Filmemacher Christian Petzold kommt zu einem Gespräch mit Olivier Assayas nach Mainz, um über politische und ästhetische Dimensionen des Films („Der Autorenfilm im Zeichen von Krise und Utopie“) zu sprechen. In einem Interview mit Johanna Schwenk spricht der Regisseur über Harun Farocki, den infizierten Raum und erklärt, wie man einen Traum filmt.

JS: Herr Petzold, in einem Interview haben Sie einmal gesagt: „Farocki war sozusagen mein Dramaturg – Dramaturg mit wenig Interesse an Dramaturgie...“ Dabei empfinde ich Ihre Filme als ausgesprochen spannend. Wie machen Sie das?

CP: Das ist bestimmt sehr alt, das Interview. Denn nach den letzten beiden Filmen muss ich sagen: Harun hat ein ungeheures Interesse an Dramaturgie! Ich bin eher derjenige, der sich immer weiter von dem Plot weg bewegt hat und immer mehr hin zur Szenenbeschreibung, die in sich, wie in so einer Short-Story, nur eine einzige Metapher hat. Und Harun ist derjenige, der mich immer wieder dahin zurück holt und sagt: Hey, wenn das dort auftaucht, dann muss es da nochmal auftauchen. Also Harun ist im Grunde genommen viel stärker Dramaturg...

JS: ...als Sie es damals dachten.

CP: Als ich es damals... Vielleicht passte das, vielleicht wollte ich einen Lacher ernten, kann auch sein. Harun ist ein hervorragender Dramaturg!

JS: Ihre Filme stellen eher Fragen als Antworten zu geben. Wann gewinnt ein Film durch ein Geheimnis, und ab wann zerfällt er in seine Einzelteile?

CP: Ja, da nehmen wir einfach mal so ein Beispiel: WOLFSBURG. Da ist das Drehbuch und die Beteiligten denken, ich müsste in Kuba, wohin Benno Führmann mit seiner Frau Hochzeitsreise macht, zumindest einen Tag und eine Nacht drehen. Und ich frag mich: Warum? Warum soll ich denen nach Kuba folgen? Natürlich. Da könnte ich tolle Szenen erzählen, wie sie miteinander tanzen und ein Abendrot in Havanna und dann ist das so wie bei einem Ehepaar, wo schon der Zweifel arbeitet. Passiert da schon eine Irritation? Das könnte ich alles erzählen. Aber das passt überhaupt nicht da rein. Wenn ich die aber einfach nur zum Flughafen fahren lasse und dann in der Zwischenzeit die Geschichte der Frau erzähle. Und dann kommen sie zurück. Dann sieht man es an den Gesten und man kann sich vorstellen, wie die vielleicht Kuba verbracht haben. Ich will sie auch nicht vorführen, sie als Täter sind auch keine Schweine die einen tollen Urlaub machen. Sondern ich stelle mir vor, die haben so einen Urlaub gemacht. Aber ich weiß, dass in ihrer Abwesenheit hier etwas passiert ist: Ein Selbstmordversuch. Ein Kind ist gestorben. All das ist hier passiert. Und dadurch, dass sie es nicht wissen, verschenke ich sie nicht oder führe sie nicht vor.

JS: Es hat also etwas mit Diskretion zu tun.

CP: Das hat etwas mit Diskretion zu tun, mit Respekt. Und es hat etwas damit zu tun, dass die herkömmliche Dramaturgie im Grunde genommen mehr weiß über den Charakter und über das Schicksal der Figuren. Das mag ich nicht. Man muss demütig sein.

JS: Nichts in Ihren Filmen ist zufällig. Und doch wehren Sie sich gegen eine zu detaillierte oder definitive Deutung Ihrer und auch anderer Werke. Wie passt das zusammen?

CP: Nein, ich finde die Struktur kann eindeutig sein, ohne Zufall. Die kann fast ablaufen wie eine Maschine. Aber es kommt nicht darauf an, einen Film zu machen, wo ich eine Maschine realisiere. Der Film muss selber so sein, wie die Menschen manchmal auch Ihre Kontrollsucht befriedigen. Der Urlaub: da steh ich morgens um neun Uhr auf, ich geh um neun Uhr dreißig zum Steg runter, dann spring ich ins Wasser und dann geh ich einen tollen Spaziergang machen, dann nehme ich ein tolles Französisches Frühstück... Jeder baut sich so etwas über sein Leben zusammen. Und jeder, der einen Film macht, muss dadurch, dass er so viel Geld bewegt, auch kontrolliert sein. Iich mag das gerne, wenn man Scheitern von Kontrolle sieht. Und wie Menschen dann mit dem Scheitern von Kontrolle, dem Scheitern von Träumen, dem Scheitern von Vorstellungen umgehen. Also muss ich überhaupt erst einmal ein System haben, um es scheitern zu lassen. Deswegen interessiert mich das.

JS: Und formal? Ihre Filme wirken streng durchkomponiert.

CP: Es ist gar nicht so streng. Es gibt nur eine ganz rudimentäre Vorstellung von dem Film. Damit ich mich überhaupt mit den einzelnen Departments wie Kostüm oder Kamera unterhalten kann, wie der Film aussehen könnte, welche Farben und so... da gibt es Vorstellungen. Aber eigentlich entsteht der Film bei den Proben und dann wird gefilmt. Und wenn das so exakt ist, dann waren die Proben exakt.

JS: Also kommt diese Wirkung eher durch die minimalistische Herangehensweise zustande?

CP: Ja, weil man vieles nicht braucht. Wenn man keine Vorstellungen, kein Konzept hat, dann dreht man aus sechzig Winkeln, weil man denkt: das baue ich mir nachher im Schneideraum zusammen. Ich möchte aber den Moment, den ich da gesehen habe, diesen Moment, den Blick, den ich auf diesen Moment geworfen habe, den möchte ich im Film haben. Und dafür brauche ich eine längere Überlegungszeit und weniger Einstellungen, weniger Takes.

JS: Laura sagt in JERICHOW: Man kann sich nicht lieben, wenn man kein Geld hat. Widerspricht das nicht Ihrer Auffassung, dass sich die Figuren eben nicht selbst erklären sollen?

CP: Der Satz steht im Drehbuch und den hat sie eigentlich weinend in die Schulter von Benno reingesprochen. Das konnte man nicht verstehen - am Anfang. In der Mischung hab ich dann nachsprechen lassen. Normalerweise sagen bei mir die Figuren solche Sätze nicht. Aber der Satz passte dazu, weil sie sich in das Pathos für den geplanten Mord bringen muss.

JS: Sie sagt es also nicht für den Zuschauer, sondern für sich?

CP: Genau. Sie baut für diesen Benno ein Leiden auf, ein Pathos. Und sie sagt: Man kann sich nicht lieben, wenn man kein Geld hat. Also wenn du Geld besorgst, dann können wir uns lieben und werden glücklich. Dann schläft sie mit ihm und wacht auf und sagt: Wenn Ali mich berührt... ich kann es nicht aushalten. Hättest du ihn doch fallen lassen. Sie baut im Grunde genommen ihre Tat auf. Deswegen ist der Satz, von dem ich am Anfang gedacht habe, das ist so ein Satz an die Zuschauer oder an den Journalisten... ist gar nicht so. Deshalb habe ich nachsprechen lassen.

JS: Sie sagen, die rote Bluse von Yella sei lediglich als Farbakzent zu sehen, also nicht symbolisch.

CP: Ne, symbolisch ist sie nicht.

JS: Wie ist das mit dem Motiv des Wassers oder mit dem wiederholten Krähenschrei in YELLA? Da denkt man doch, da steckt etwas dahinter.

CP: Natürlich. Jeder Traum hat doch eine Ordnung. Sonst gäbe es ja keine Traumdeutung. Und jede Geschichte hat eine Ordnung. Wenn man die Gebrüder Grimm liest... Warum sind es immer drei Kinder? Warum wird immer ein Kind in den Wald gebracht? Das sind doch immer ähnliche Strukturen. Trotzdem sind es verschiedene Geschichten. Ich achte darauf, dass die Geschichten eine Grammatik haben.

JS: Also weniger eine symbolische Tiefe, sondern etwas, was aus sich heraus entsteht, als Zuordnung, als wiederholtes Motiv...

CP: Ja, wie bei einem Song.

JS: Als Rhythmus.

CP: Als Rhythmus. Genau. Und dann ist es natürlich interessant, wenn man Schauspieler nicht psychologisiert, sondern sie mit Aggregatzuständen vergleicht. Wenn man sagt: diese Frau ist das Wasser, und er ist das Feuer. Das ist eine Vorstellung, mit der Schauspieler sehr gut umgehen können. Viel besser als: Du bist dreizehn Jahre von deinem Gynäkologen vergewaltigt worden. Das ist 'ne beschissene Geschichte. Du bist flüssig, du willst fließen, du willst verschwinden. Das sind Sachen, die einen Schauspieler, finde ich, viel weiter bringen.

JS: Sie sind also eher an der Oberfläche der Dingwelt interessiert.

CP: Ja, bin ich auch. Und ich versuche immer den Raum sichtbar zu machen. Und zwar nicht als Totale. Oft stehen die Figuren vor unscharfen, nur erahnbaren Räumen. Dadurch wirken die Räume tief. Die Figuren sind also keine Theaterfiguren, die vor Kulissen stehen. Sie sind in akustischen und auch optischen Räumen und Tiefen, die wir nicht komplett lesen und begreifen können, die wir uns aber virtuell weiterspinnen. Mir kommt es also darauf an, den Menschen im Raum zu haben und nicht den Schauspieler.

JS: Die Figuren sind sichtbar, aber nicht greifbar.

CP: Ja, beziehungsweise sie haben ihren eigenen Raum. Es ist doch einfach so, wenn ich ein Zimmer aufmache, das Zimmer gehört jemandem, und der steht da drin. Dann betrete ich das doch mit einer gewissen Vorsicht. Und ich verlange, dass auch die Kamera so ist. Die Figuren haben einen eigenen Raum. Dadurch, dass die ein Gefühl haben oder gerade einen Schrecken in sich spüren, Liebe oder Kälte, infizieren die ihre Umgebung. Und diese infizierte Umgebung muss ich mitfilmen können. Oder ahnen können. Ich muss mich in eine gewisse Position dazu begeben. Und nicht noch Musik drunter knallen und sagen: Hey, die ist ja ganz schön kalt, die ist frigide. Oder: das ist'n Arsch oder so.

JS: Ich möchte zwei Filme aus dem Umfeld der „Neuen Berliner Schule“ nennen: Und zwar ist mir aufgefallen, dass die Figuren in dem Film ALLE ANDEREN von Maren Ade die Themen direkt auf den Tisch legen und alles ausdiskutieren und zerreden. Das, finde ich, unterscheidet sich von Ihren Filmen...

CP: Finde ich gar nicht, aber egal.

JS: ...und in MONTAG KOMMEN DIE FENSTER von Ulrich Köhler wird im Gegensatz dazu viel geschwiegen. Beide Filme zelebrieren einen Realismus, der sich auf eine beinahe exhibitionistische Entblößung der Figuren stützt; es gibt nicht nur viel Nacktheit, sondern auch jede Menge Seelenstriptease. Ihre Figuren hingegen bleiben sehr diskret und sachlich. Ich finde das schon sehr unterschiedlich.

CP: Ist es ja auch. Und trotzdem hat es etwas miteinander zu tun. Ich glaube, dass Maren einen Film macht, wo man der Entstehung von einem Riss beiwohnt. Und Ulrich hat einen Film gemacht, wo der Riss schon da ist, wo man das Nachbeben filmt. Ich bin auch jemand, der bisher eher das Nachbeben gefilmt hat. Bei JERICHOW nicht. Da hat man Vorgeschichten. Aber das ist ein Geldkreislauf, den ich da filme. Sonst ist der vielleicht dazwischen. Aber ich weiß nicht, alle diese Filme haben richtige Standpunkte. Und das sind auch richtige Filme. Also ich finde, wenn man da immer so sagt: Diese Berliner Schule und so... Die haben Gegenschüsse, die haben Texte, die hoch intelligent sind. Bei Maren sind das hochintelligente Dialoge. Und ich sehe in beiden Filmen, besonders in dem von Maren, meine Generation. Die lebt da in den Häusern, die die Eltern erwirtschaftet haben in Sardinien, und weiß nicht mehr wo Oben und Unten ist.

JS: Also eine andere Herangehensweise an die selben Themen?

CP: Ich finde den Umgang mit den Räumen bei uns allen dreien sehr ähnlich. Maren geht mit dem Haus so um, dass man eben nie weiß: Wo ist die Küche? Wo ist das Schlafzimmer? Man sieht das Haus die ganze Zeit. Das sind sogar noch Architekten. Die reden über Häuser, die haben noch Häuser zu renovieren. Aber das Haus ist irgendwie wie so ein virtuelles Haus im Kopf - wie von Kindern, die es nicht zeichnen könnten, die aber eine Vorstellung davon haben. Und diese Infantilität dieses Blickes auf das Haus, das hat auch ein bisschen etwas damit zu tun, wie ich mir Räume vorstelle. Die Gefühle und die Liebe der Menschen, der Hass oder die Rachsucht verändern die Räume. Und so wie sie die Räume verändern und infizieren, so muss man sie filmen. Daher finde ich das gar nicht so weit voneinander entfernt. Man könnte sagen, dass die Filme – auch der von Ulrich, der die Verlorenheit in dem Hotel filmt, und gleichzeitig wird auch noch ein Haus gebaut mit Kacheln und so – dass wir alle drei glauben, dass ein Drama auch im Raum ist.

JS: In YELLA gibt es eine gespenstische Verschränkung der Realitätsebenen. Sie machen da aber gar keinen großen Unterschied. Sie behandeln die übersinnlichen Elemente sehr gleichwertig mit der irdischen Realität.

CP: Es gibt ja nichts schlimmeres als Traumbilder mit, was weiß ich, Nebel oder Unschärfen oder so. Das ist ja alles Quatsch. Ich finde es geht darum, dass sich die Impression und das Virtuelle, das Imaginäre mit dem Realen unwiederbringlich vermischen. Darauf kommt es an. Die lebt ja in ihrer eigenen Vorstellung. Deshalb kann man das nur so filmen. Jeder der das anders gemacht hätte, wäre ein Fall für die Sonderpädagogik.

JS: Also gibt es in YELLA letztlich gar keine unterschiedlichen Realitätsebenen.

CP: Genau.

JS: Wie kam es zu der Entscheidung, Heinrichs Beschreibung der Villa Stahl in DIE INNERE SICHERHEIT als imaginären Rundgang durch die Räumlichkeiten zu gestalten?

CP: Da hat mich auch damals keiner verstanden. Der Kritiker der FAZ, Seidl oder wie er hieß, der sagte, ich müsste doch mal ein Dramaturgieseminar machen: Ich verstehe das gar nicht, ist die Villa in Portugal oder wo soll das sein? Was ich überhaupt nicht verstehe. Ich finde immer, wenn man sich früh morgens küsst, völlig übermüdet, und dann fällt man auf die Schulter des Partners oder der Partnerin, dann geht man doch über Wiesen! Da hat man doch manchmal so Bilder. So dieser Vortraum. Und Heinrich erzählt mit seiner Stimme: Da gibt’s 'ne Villa. Und dann gehen die beiden in diese Villa rein... Wer das nicht versteht, der... naja gut.

JS: Das passiert ja sehr übergangslos...

CP: Ja. Das Tolle ist nachher, dass es die Villa wirklich gibt, und das Mädchen steht da und denkt: Das kann ja wohl nicht wahr sein. Fußbodenheizung! Das ist doch ganz toll!

JS: Ich danke Ihnen für das Gespräch!

Anm.: Veröffentlichung des Interviews und der Fotos mit freundlicher Genehmigung von Christian Petzold.