Genretheorie des Films III

Dieser Text erschien zuerst als Nachwort der deutschen Übersetzung des Romans von Leonard Schrader: Yakuza, Bergisch-Gladbach 1987.


Norbert Grob

Zwischen giri und ninjo

Der Yakuza-Mythos in Paul und Leonardo Schraders Roman und Film THE YAKUZA

 

Für Leonard Schrader war es ein langer Weg bis zu seinem ersten Roman The Yakuza, der in zwei Stufen entstand. Zunächst hatte er bloß eine Story: die Idee zu einer Geschichte, in der ein cleverer, aber tapsiger Amerikaner nach Japan kommt, wo er 20 Jahre zuvor schon einmal war, und dort zwischen alle Regeln und Riten fällt. Ihren besonderen Charakter sollte die Geschichte durch die mythische Dimension erhalten, die Schrader im yakuza-eiga, dem Genre des japanischen Gangsterfilms, vorgefunden hatte.

Er schickte die Story seinem Bruder Paul, der damals als Drehbuchautor noch unbekannt und ziemlich erfolglos war. Der entwickelte sie zu einem fertigen Drehbuch und ließ es über seinen Agenten verschiedenen major companies anbieten. Nach längeren Verhandlungen kaufte schließlich Warner Bros. das Buch. Bevor die Gesellschaft dann Sydney Pollack als Regisseur verpflichtete, setzte sie erst einmal einen ihrer Starautoren, den trouble shooter für unzulängliche Bücher Robert Towne, an die Arbeit. Zusammen mit Paul Schrader schrieb er die letzte, die endgültige Fassung. Der Film, 1974 gedreht und im März 1975 uraufgeführt, war am Ende also das Ergebnis einer vielköpfigen Zusammenarbeit: Leonard Schrader hatte die Idee. Paul Schrader verfaßte das erste Script, und Robert Towne gab dem Buch den letzten Schliff. Sydney Pollack interpretierte dann alles noch einmal in seinem Sinne (ein wenig „zu sanft, zu geziert,“ wie Paul Schrader später meinte), und auch Robert Mitchum mischte noch mit: Er drückte Harry Kilmer (der Figur, die er darstellte), seinen eigenen Stempel auf. Vergleicht man nun Schraders Roman mit Pollacks Film, so wird offenkundig, daß Schrader von der Arbeit aller profitiert hat. Der Roman ist deutlich dem Film nach-geschrieben. Die kleinen Veränderungen in der Handlung, die vorkommen, sind von eher marginalem Charakter.

Im Kern allerdings, auf der ideologischen Ebene, geht Schrader weit über den Film hinaus. In einem Ausmaß, wie das vielleicht auch nur in einem literarischen Werk zu erreichen ist, reflektiert er das Tun seiner Figuren vor dem Hintergrund traditioneller Verhaltensmuster. Wichtig ist dabei: diese Traditionen entspringen nur zum Teil der historischen Wirklich-keit. Zum größeren Teil hat Schrader sie den Trivialmythen des yakuza-eiga entnommen, dem Kino also.

Schon Sydney Pollacks Film zeigt, wie sehr der Yakuza Code die Handlung der Protagonisten bestimmt. In Schraders Roman werden darüber hinaus die Hintergründe aufgefächert. Schra-der bietet eine Sicht von innen: Er zeigt die äußeren Zwänge wie die moralische Größe, die dem rituellen Verhalten ent-springt; er nimmt den Mythos als gegebene Tatsache – und läßt so sein Action-Abenteuer zugleich zu einem Abenteuer werden, das von unseren Auffassungen von der Welt und vom Leben allgemein handelt.

Leonard Schrader: geboren und aufgewachsen in Grand Rapids (im US-Bundesstaat Michigan). Seine Familie ist holländischer Abstammung. Von jeher ist sie streng calvinistisch geprägt. Diese Religion schreibt ihren Gläubigen vor, sich weder Alkohol noch Nikotin, weder Tanz noch Kino zu gestatten. Seine Schulzeit beendete er am strengen Calvin College von Michigan. Da er Schriftsteller werden wollte, ging er anschlie-ßend an die Michigan Academy of Arts and Sciences, wo er sich darin übte, Romane zu Drehbüchern zu verarbeiten. Später traf er dann an der University of Iowa – bei einem Autoren--Workshop – die Schriftsteller Nelson Algren, Robert Coover und Kurt Vonnegut. Mitte der sechziger Jahre ging Schrader nach Japan. Er unterrichtete an der Universität Doshisha in Kyoto englische Sprache und englische Literatur. Japan faszinierte ihn nachhal-tig. Er heiratete und wurde dort ansässig.

Heute gilt Schrader als ein exzellenter Kenner der japani-schen Geschichte und Kultur. Und als ein Experte für das japanische Kino, insbesondere für die Genres der Samuraifilme (jidai-geki) und der Gangsterfilme (yakuza-eiga). Nach seinem ersten Erfolg mit Yakuza schrieb Leonard Schrader weitere Drehbücher. Mit seinem Bruder Paul zusam-men verfaßte er das Buch zu BLUE COLLAR (mit dem Paul 1978 als Regisseur debütierte), zu OLD BOYFRIEDS (1979; Regie: Jean Tewkesbury) und zu MISHIMA (1985; Regie: Paul Schrader). Für den japanischen Regisseur Kazuhiko Hasegawa schrieb er THE MAN WHO STOLE THE SUN (1983). Und er feierte einen großen Erfolg mit seinem Buch KISS OF THE SPIDER WOMAN (1985; Regie: Hector Babenco). Der Film wurde 1986 mit dem Oscar für den besten ausländischen Film ausgezeichnet.

Yakuza bedeutet eigentlich ganz wörtlich übersetzt: Spieler, Taugenichts. Heute ist der Begriff auch ein Synonym für: Gangster, Bandit. Keiko Yamane erläutert: „Yakuza, eine Art japanischer Mafioso, nennt man einen Menschentyp, der seinen Unterhalt zumeist aus gesetzwidrigen Quellen, vor allem dem verbote-nen Glücksspiel, bestreitet und als Außenseiter der Gesellschaft in eine hierarchisch gegliederte, feudalistische Gesinnungsge-meinschaft eingebunden ist. Seit dem späten Mittelalter gab es diese soziologisch interessante Gruppe der ‚fahrenden Spieler‘ in Japan. Ursprünglich genossen sie als arbeitsscheue Außen-seiter und Halbkriminelle einen schlechten Ruf, doch nach der Restauration begann man sie aus nationalistischen Erwägun-gen heraus zu idealisieren.“

Schraders Sicht der Yakuza ist, wie bereits erwähnt, vom Mythos der Kinolegenden durchdrungen. Der historischen Uberlieferung hat er lediglich die Aura des outlaws, des Außenseiters, des Gesetzlosen entnommen. Der Verhaltens-Code der Yakuza, wie er ihn in seinem Roman beschreibt, ist dagegen pure Kinoerfindung, Essenz eines Filmgenres, das seine Höhepunkte zwischen 1964 und 1978 hatte. Sein Bruder Paul beschreibt in einem Essay, den er im Januar 1974 in der amerikanischen Filmzeitschrift Film Comment publizierte, die Entwicklung dieses Genres: den [Übergang von den historischen Samurai- zu den modernen Yakuza-Filrnen. Der klassische Samurai-Film mußte notgedrungen historisch sein, da 1868 landesweit in Japan verboten wurde, das Langschwert zu tragen. Der Kampf mit dem Schwert, das Zentrum jeder Samuraigeschichte, konnte also nach 1868 kein ehrenwerter Ritus mehr sein. Paul Schrader erklärt, daß in der Zeit nach 1868, den Gesetzen entsprechend, jeder Schwertträ-ger zum Gesetzlosen wurde. Und „no filmmaker wished to assign the simon-pure samurai code of giri-ninjo (duty--humanity) to an outlaw; and without gin-um je, there could be no protagonist.“

Der Wunsch, die Faszination der Samurai-Filme auf moderne, auf die heutige Zeit zu übertragen, setzte den Bruch mit den strengen Regeln der Samurai-Filme voraus. Die Einheit von giri--ninjo, die Einheit von Pflichttreue und Menschlichkeit, mußte aufgegeben werden. Nur so konnten anschließend~ auch Gangster und Banditen als Helden akzeptabel sein. Paul Schrader dazu: »The samurai film, of course, had only one theme, giri-ninjo; the Siamese-twin themes of duty and humanity were so interlocked as to be indistinguishable from each other. For the samurai, duty was humanity, and vice versa. But this single theme proved to be financially limiting in a contemporary setting. The high-flown code of giri-ninjo could not be applied to a modern gangster, who, by the very fact that he carried a long sword, was an outlaw and therefore violated the duty expected of him as a member of the state, Ergo: there could be no yakuza heroes . . . So giri-ninjo became gin and uziu/e; duty-humanity became duty or humanity, thus side-stepping the samurai/yakuza dichotomy. lt was now possible for a gangster to have duty without humanity, humanity without duty, or any combination thereof. Under certain circumstandes, the yakuza could be both honorable and criminal.«

Ein anderer Gegensatz von Samurai- und Yakuza-Film, nach Paul Schrader: »The ancient samurai would kill himself before killing his evil master; the contemporary yakuza, however, because ninjo has been split oft froni giri, is free to forsake du and kill his master the samurai forsakes duty and dies, the yakuza forsakes duty and lives.“

Leonard Schrader bietet in seinem Roman eine Innensicht der Yakuza-Mythen. Er zeigt die äußeren Zwänge wie die morali-sche Größe des Verhaltens, das dem (fiktiven) Code der japanischen Gangster folgt. Zugleich variiert er den Mythos: Zum einen, indem er mit Tanaka Ken einen Helden einführt, der kein Yakuza mehr ist, weil er sich im Herzen dem Samurai Code verpflichtet fühlt. Und zum anderen, indem er den Amerikaner Harry Kilmer wie einen Reiseführer einsetzt, der uns Leser — behutsam, fast nachsichtig — in die geheime Welt hinter der eigentlichen, materiellen Welt einführt.

Der ungeschriebene Samurai-Kodex wird bei Schrader zum Fakt und zur Utopie zugleich. Es ist für ihn keine Frage, daß er existiert. Nur gibt es auch in seinem Japan kaum noch jemanden, der sich ihm voll und ganz unterwirft. Letztlich ist es allein Tanaka Ken, der uneingeschrängt dem Kodex folgt. Da er allerdings nicht an einen Glan gebunden ist, er also keinem oyabun gehorchen muß, kann er noch einmal die alte Einheit von Pflicht und Menschlichkeit verkörpern. Für ihn gilt, was ein Sänger über die alten Yakuza einmal singt: »Yakuza pay their debt. / Yakuza do their duty. / A man without dept, / A man without duty, / Is not a man.«

Schrader läßt keinen Zweifel daran, daß Tanaka Ken einst in den Yakuza die Nachfahren der Samurai sah: Menschen, die, an ein Clan-Oberhaupt gebunden, in Ehre ihre Pflicht erfüllten. Als die Yakuza sich veränderten, zog er die Konsequenzen. »Tanaka Ken«, sagt sein Bruder, »is a man of great honor, unlike the new Japanese, unlike myseif. Sometimes 1 believe that when Ken dies, Japanese tradition will die with him.«

Als Tanaka Ken sieht, was die Yukaza bei einem Uberfall im Haus seiner Schwester angerichtet haben, stellt er einfach fest: »Modern Yakuza were a pack of wild dogs. Fighthirig, killing, dying — like dogs.« Bei seinem Kampf gegen die Yakuza am Ende des Romans weicht er selbst aber keinen Schritt ab vom ungeschrieben-vorgeschriebenen Kampfritus, vom traditionel-len Way of the Sword (ken-do). Nachdem er dann alle besiegt hat, steht er vor dem letzten Gegner, auch der ein Yakuza alten Schlags. Der weiß, daß sein oyabun tot ist, und er weiß, daß er gegen Tanaka Ken verlieren wird, aber er weiß auch, daß er kämpfen muß. Zuvor aber ehrt er Tanaka Ken: »lt is an honor to fight a man who still lives by the Yakuza Code.«

Was Schraders Roman auch so fesselnd und so berührend macht, ist die Art und Weise, wie der Amerikaner Harry Kilmer charakterisiert ist. Er kommt nach Japan, um einem alten Freund zu helfen. Dafür klagt er bei Tanaka Ken eine alte Schuld ein — ohne zu wissen, daß er selbst tief in dessen Schuld steht. Er hatte sich einst vergangen, wo er geholfen zu haben glaubte. Der Amerikaner löst den Konflikt, indem er sich den einheimischen Bräuchen und Riten unterwirft.

Vielleicht werden viele es sentimental und lächerlich finden, wenn Kilmer am Ende seine Heimreise abbricht, Tanaka Ken noch einmal aufsucht und sich dem Yakuza Ritual unterzieht. Ich finde es sehr berührend.

Und schön ist, wie er einen Amerikaner einmal den Unterschied zwischen einem Amerikaner und einem Japaner erklären läßt: »An American slashes out; a Japanese slashes in... An American saw cuts on the push stroke — outward; a Japanese saw cuts on the pull stroke — inward. When an American cracks up, he opens the window and shoots out; when a Japanese cracks, he closes the window and cuts in —hara-kiri . . . The American euphimism to orgasm is come: I‘m coming. The Japanes is go: I‘m going. Same act, opposite attitude.“