Die Reisende zwischen den schönen Dingen

Susan Sontag, 1933 – 2004

Ein Nachruf von Bernd Kiefer

„Ich tat eine Reise, um die schönen Dinge zu sehen.
Tapetenwechsel. Liebeswechsel. Und weißt du was?
Was?
Sie sind immer noch da.
Ach, aber nicht mehr lange.
Ich weiß. Deshalb bin ich gefahren.“
(Susan Sontag, Ich, etc.)

 

Ihrem letzten Roman „In Amerika“ (2000) stellte Susan Sontag als Motto eine Zeile des afroamerikanischen Poeten Langston Hughes voran: „America will be!“ Der Lockruf eines Landes, das permanent im Entstehen ist, das wird, um einmal zu existieren, vielleicht nur als schöner Traum, bestimmt diesen historischen Roman, in dem eine polnische Schauspielerin, eine Diva, im Jahr 1876 ihre Heimat verlässt, um ihm zu folgen und dann doch nie sesshaft zu werden in Amerika. Die „Sehnsucht nach Neuem, Leerem, Vergangenheitslosem“, und der „Traum, das Leben in reine Zukunft zu verwandeln“ in der neuen Welt, treiben sie stets weiter, von Stadt zu Stadt, von einer Rolle zur nächsten. Die Schauspielerin bringt Kultur in ein raues Land, indem sie Kunst lebt, auf einer „lange(n) Tournee“, wie die letzen Worte des Romans verheißen. In dieser Ruhelosigkeit drückt sich auch die Lebensbewegung von Susan Sontag aus - allerdings in umgekehrter Richtung und mit anderer Intention. Die 1933 in New York geborene Susan Sontag schuf sich immer wieder neu, zuletzt im Kampf mit der Krankheit, der sie schließlich erlag. Sie war seit den 1960er Jahren einflussreiche Kritikerin und Autorin von Romanen und Erzählungen, als Intellektuelle in der Nachfolge von Mary McCarthy und Hannah Arendt politisch engagiert; sie drehte Filme und arbeitete für das Theater. Und sie war - die zahlreichen Fotografien belegen das - eine Diva des intellektuellen Lebens. Als „an allem interessiert“ hat sich Susan Sontag gelegentlich bezeichnet, und das Spektrum der Themen, über die sie schrieb, ist so bemerkenswert breit wie das des von ihr bewunderten Roland Barthes. Nur: Susan Sontag folgte einem anderen Lockruf, einer anderen Sehnsucht als ihre Roman-Heldin. Für Sontag war Europa mit seiner Vergangenheit und seiner ungewissen Zukunft der rechte Ort. Hier verbrachte sie einen großen Teil ihres Lebens, und, überblickt man ihre Essays, so hat man nicht selten den Eindruck, sie hätte rastlos Europa bereist, um den Europäern die schönen Dinge noch einmal vor Augen zu stellen, bevor sie in Vergessenheit geraten. Selten schrieb sie über amerikanische Künstler und Denker. Über Walter Benjamin und Antonin Artaud, über Robert Bresson, Jean-Luc Godard, Hans Jürgen Syberberg und Rainer Werner Fassbinder, über Albert Camus und Roland Barthes hingegen hat sie luzide Texte verfasst, die von Bewunderung grundiert sind. Für Susan Sontag gab es in Europa noch „Fürst(en) des intellektuellen Lebens“, und vielleicht zeigt sich darin der amerikanische Blick mit seiner Faszination an einer Aristokratie des Geistes, die sich selbst demokratisierte, ohne marktgängig zu werden.

Schon Sontags erster Essay-Band „Against Interpretation“ (deutsch als „Kunst und Antikunst“ im Jahr 1968 erschienen), der sie 1966 schlagartig berühmt machte, zeugt von ihrer Faszination durch europäische Kultur. Philosophie, Literatur, Film, Theater, Pop-Musik und Alltagsleben denkt sie zusammen als Ausdrucksweisen einer „neuen Sensibilität“. Die Provokation des Bandes liegt schon in seinem Titel: Nicht mehr auf kritisch-hermeneutische Interpretation von Kunst komme es an, sondern auf eine „Erotik der Kunst“, darauf, dass „wir unsere Sinne wiedererlangen“, wenn wir mit Hilfe der Kunst unsere Erfahrungen theatralisieren, also ästhetisch leben. Das ist gerade von denen, die Sontag folgten - als „dionysisches Pack“ hat Sontags Gegner, der Soziologe Daniel Bell, ihre Gefolgschaft später bezeichnet - missverstanden worden. Zwar schließt Sontag spielerisch an Nietzsche und die europäischen Avantgarde-Bewegungen und deren Versuch an, Kunst in kollektive Lebenspraxis zu überführen, doch weiß sie eben auch um das historische Scheitern des Versuchs. Was Sontag in ihren berüchtigten „Anmerkungen zu 'Camp’“ als neue Form vorschlägt, wie Kunst zu leben sei, ist radikal individualistisch, gar ästhetizistisch. Nicht umsonst ist hier der Dandy und Ironiker Oscar Wilde (der auf einer Tournee einst Amerika ins Geheimnis der schönen Dinge einweihen wollte und verlacht wurde) ihr Gewährsmann. Den freilich liest Sontag später durch die Brille Walter Benjamins: Ästhetische Erfahrung, der erotische Umgang mit den schönen Dingen, darf nicht darüber täuschen, dass wir in einer Welt leben, die durch „unendliche Banalität und unvorstellbaren Schrecken“ bestimmt ist. In ihrem Buch „Über Fotografie“ (1977) trennt Sontag das Ästhetische nicht mehr vom Ethischen, ohne jedoch zu moralischen Vorschriften gelangen zu wollen. In „Das Leiden anderer betrachten“ (2003) setzt sie sich erneut mit der Fotografie, vor allem mit der Kriegs-Fotografie auseinander, mit Zeugnissen der Gräuel, die sich in unser aller Gedächtnis einbrennen. Das Buch endet mit einer minimalen Anforderung an die Betrachter solcher Bilder. Sie sollen das Mitgefühl beiseite rücken, um darüber nachzudenken, wie ihre Privilegien und die Leiden der anderen „überhaupt auf der gleichen Landkarte Platz finden können“. Man kann in dieser Wendung auch die unausgesprochene Aufforderung angedeutet sehen, es nicht beim Betrachten des Leides der anderen zu belassen. Susan Sontag hat es nie dabei belassen. Sie reiste in Kriegsgebiete, nach Israel und zuletzt nach Sarajevo. Sie setzte ihren Namen ein für inhaftierte Schriftsteller und Intellektuelle. Nicht zuletzt dafür wurde ihr im Jahr 2003 der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen. Für Susan Sontag war das Reisen zwischen den schönen Dingen stets nur der Vorlauf, die Suche nach der unmöglichen Erfüllung des Versprechens der Kunst: „einen Raum zu schaffen, in dem jeder sein eigenes Leben leben kann“.

Susan Sontag ist am 28. Dezember 2004 in New York gestorben. Ihrem Wunsch gemäß wurde sie beigesetzt auf dem Friedhof von Montparnasse in Paris, wo viele Exilanten ihr Grab fanden, im alten Europa. Dort, wo die Idee geboren wurde, jedem müsse in Freiheit ein Raum zugestanden werden. 1988 schrieb Susan Sontag einen Essay über „The Idea of Europe“. Er ist eine Elegie geworden und ein Traum und dennoch aktuell, und deshalb sei aus diesem Text in Susan Sontags Sprache zitiert: „The future of mainstream Europe is Euroland (…) What remains of the Europe of high art and ethical seriousness, of the values of privacy and inwardness and an unamplified, non-machine-made-discourse: the Europe that makes possible the films of Krzysztof Zanussi and the prose of Thomas Bernhard and the poetry of Seamus Heaney and the music of Arvo Pärt? That Europe still exists, will exist for some time. But it will occupy less territory. And increasing numbers oft its citizens and adherents will understand themselves as émigrés, exiles, and foreigners.” In ihrer Sprache sieht Susan Sontag Europa als das zukünftige Amerika. Wer sich darauf vorbereiten will, der sollte lesen, was sie geschrieben hat über das Reisen zwischen den schönen Dingen der Kulturen.

Fotos: Oben A. Leibowitz, anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels.

Dieser Text erscheint in :Ikonen: Heft 6.