Alexander Jackob Eine Geschichte über New York vor dem Zeitalter des Films oder Film als Archiv der Sinne
I. Ein Film über das Zeitalter vor dem Film Bevor ich überhaupt anfing Spielfilme zu drehen,
träumten wir davon, Filme in allen Genres zu machen- einen Western,
eine neue Art von Gangsterfilm; und ich sagte, dass ich eines Tages einen
romantischen Film drehen wollte. Kaum eine Aussage Martin Scorseses verdeutlicht besser, wie wenig man Regisseuren trauen sollte, wenn sie sich zu ihren eigenen Werken äußern. Mal neigen sie dazu, ihre praktische Arbeit am Film in Interviews fortzusetzen, mal ziehen sie es vor, wie in Scorseses Fall, ihre Leistungen zu untertreiben und zu unterspielen. Ganz sicher ist The Age of Innocence (1991/92) nicht einfach eine neue Art von Historien- oder Kostümfilm, noch ist er das, was innerhalb der popular culture gemeinhin unter der Warenbezeichnung ‚romantisch‘ gehandelt wird. Selbst bei einem nur flüchtigen Blick auf Scorseses Verfilmung von Edith Whartons gleichnamigem Roman und Sittengemälde (erschienen 1920) über die Gesellschaft der New Yorker Geldaristokratie des späten 19. Jahrhunderts wird deutlich, dass es dem amerikanischen Ausnahmeregisseur Anfang der Neunziger auch mit diesem Film gelungen war, weit über die Sehgewohnheiten und die damit einher gehenden Erwartungshaltungen der Kenner seiner vorherigen Filme hinauszugehen. Um aus heutiger Perspektive die Bandbreite der verschiedenen Ausdrucksmittel von The Age of Innocence zu erfassen, reicht es allerdings bei weitem nicht aus, ihn einfach nur in Beziehung zu Scorseses vorherigen Filmen zu setzen. Gerade bei dieser scheinbar aus dem Rahmen fallenden Produktion ist es notwendig auszuhohlen, ihre Vorgeschichte und das Verhältnis des Regisseurs zu seinem eigenem Werk und zum Medium Film genauer zu untersuchen. Kaum ein Ereignis charakterisiert dieses Verhältnis besser, als der Auftritt Scorseses auf der Berlinale 1981. Dabei interessiert hier weniger die Tatsache, dass er mit Raging Bull als Eröffnungsfilm erneut seine Fähigkeit unter Beweis stellte, ein Genre- in diesem Fall den Boxerfilm- durch die genaue Untersuchung und Brechung typischer stilistischer und narrativer Merkmale zu durchleuchten und zu einer neuen und aussagekräftigen Ästhetik zusammenzuführen. Dieser Umstand bildete vielmehr den Hintergrund für eine Aktion Scorseses, aus der man seine Reflexion und sein Wissen über die nachhaltige Wirkung filmästhetischer Mittel ablesen kann. Denn mit aller Sicherheit musste er aus den Reihen der Presse mit der Frage rechnen, weshalb der Regisseur, der u. a. mit Meanstreats und Taxi-Driver ein außerordentliches Gespür für farbintensive Bildkompositionen bewiesen hatte, Raging Bull durchgängig auf Schwarzweißmaterial vorführete. Tatsächlich lag die Antwort bereits seit einem knappen Jahr in schriftlicher Form vor, doch schien sie sich auf ein ganz anderes Thema zu beziehen. In seiner Erklärung Was wir heute tun ist ohne Bedeutung hatte er auf das besorgniserregende, aber bis dahin kaum ernst genommene Problem hingewiesen, dass das seit den Fünfzigern verwendete Filmmaterial von Eastman Kodak einen für jeden Filmkenner und Filmliebhaber katastrophalen Mangel aufwies: Die Farben blassten innerhalb kürzester Zeit aus, und der ursprüngliche Eindruck des Films ging verloren. (Wem dieses Problem nicht gravierend erscheint, der stelle sich „Das rote Atelier“ von Matisse in einem blass-zarten Rosa oder die Gemälde im Louvre in Schwarzweißqualität vor). Jetzt, in Berlin, ging Scorsese in die Offensive. Mit einem engagierten Vortrag demonstrierte er dem Publikum- mit Raging Bull als physisches und psychisches Kontrastmittel - das Phänomen augenfällig anhand von mitgebrachtem Anschauungsmaterial. Der Kampagne, die sich gegen Kodak und für die Verbesserung des Farbfilmmaterials einsetzte, schlossen sich in Folge viele Regisseure an (u. a. George Lucas) und führte schließlich dazu, dass die Industrie das Produkt erheblich verbesserte. Der Leser mag sich fragen, was diese Geschichte mit Age of Innocence zu tun hat. Nun, zunächst verdeutlicht sie als Vor-geschichte, dass Scorsese als Regisseur über das außerordentliche Talent verfügt, die Wirkung filmischer Bilder als erinnerbare Bilder weit über das unmittelbare Seh-Erlebnis hinaus zu kalkulieren und dies gilt nicht nur für die Schockwirkung diverser Gewaltszenen in Goodfellas, Casino oder Taxi-Driver. Des weiteren zeigt sie, dass ein wesentlicher Bestandteil von Scorseses Arbeit in der Reflexion auf die kulturelle Bedeutung des Mediums Film besteht. In seinen Augen stellt 'Film’ ein gewaltiges Archiv oder einen Speicher unserer visuellen Kultur, und damit eine Grundlage unseres kulturellen Gedächtnisses dar. Seit den ersten Versuchen der Kanonisierung (von Bestenlisten bis zu einschlägigen Lexika) permanent in Bewegung befindet. Den gängigen Vorwurf, dass die hohe Geschwindigkeit dieser Bewegung und Massenwirksamkeit der neuen Medien zuweilen den Blick nicht nur auf dieses, sondern gleich auf alle anderen Archive, wie z. B. Museen oder Bibliotheken überlagere und dezentriere, wiederlegt The Age of Innocence auf eindrucksvolle Art und Weise. Bilder, Theater, Literatur, Rituale, schlicht alles was Menschen seit je her bestimmt, wird hier zum Bestandteil eines Kaleidoskops über den sublimen Kosmos einer Gesellschaft, die von der Idee der Traumdeutung noch nichts gehört hatte. Das bemerkenswerte dabei ist zweifellos, dass ausgerechnet ein Film über das Zeitalter vor dem Film in der Lage ist, vor den Augen des Zuschauers in liebevoller, zuweilen an Grausamkeit grenzender Genauigkeit an einem Verdacht zu arbeiten, mit dem wir es- ausgehend von der Romantik- vor allem im 20.Jahrhundert immer wieder zu tun haben: So sehr wir die säkularen Medien der industriellen Revolution lieben, so einsam, machtlos und handlungsunfähig werden wir durch sie.
II. Das Archiv der Sinne Freilich ist im Westen der Begriff der Kultur seit
Beginn des 19. Jahrhundert und bis zum heutigen Tag de facto gleichbedeutend
mit dem Begriff Romantik. Und von der Romantik wurde dem Menschen bekanntlich
unterstellt, ein unausrottbares, der menschlichen Natur eingeschriebenes
Begehren nach Unendlichkeit zu haben- eine Sehnsucht, die vom Endlichen
nie befriedigt werden kann. Bei einem Blick auf die Handlung von The Age of Innocence könnte man zu der vorschnellen Einschätzung kommen, man habe es hier mit einem Genre zu tun, dem trotz seiner Beliebtheit beim Publikum in Theater (19. Jahrhundert) oder Film (20. Jahrhundert) schon immer der Ruf der Zweitklassigkeit anhaftet: dem Melodrama. Der junge New Yorker Anwalt Newland Archer (Daniel Day-Lewis) ist mit der ebenfalls aus guter New Yorker Familie stammenden May Welland (Wiona Ryder) verlobt, als er auf deren Kusine Ellen Orlenska (Michelle Pfeiffer) trifft, die nach gescheiterter Ehe mit einem Grafen aus Europa zurückgekehrt ist, um ein neues Leben zu beginnen. Newland, erfüllt von der Sehnsucht nach einem modernen und freierem Leben, verliebt sich im Verborgenen in Ellen, die in dem schlechten Ruf steht, unorthodox zu sein. Zahlreiche Andeutungen verraten, dass Ellen seine Liebe erwidern könnte, was einem Skandal gleichkäme. Die Situation spitzt sich zu, als ihm die alles observierende New Yorker Gesellschaft über seinen Kanzleichef den Auftrag gibt, als Ellens persönlicher Anwalt ihre Scheidungspläne durch 'wohlmeinende’ Ratschläge zu verhindern. Newland, nicht in der Lage, aus dem Korsett der alles durchdringenden Konventionen auszubrechen, folgt der Aufforderung gegen seine Auffassungen und Gefühle. Im Laufe des Films wird die Spannung der unausgelebten Liebe in ein detailliert rekonstruiertes Geflecht zwischen Ritual und Kodex eingebunden, während der inzwischen verheiratete Newland immer wieder die Lektüre von träumt, einen realen Ort für seine Liebe zu Ellen zu entdecken. Diese Sehnsucht erhält u. a. durch Theaterbesuche rührseliger Stücke und „moderner“ Literatur immer neue Nahrung, kann sich jedoch nicht erfüllen. Als er sich schließlich durchringt, Ellen nach Europa zu folgen, eröffnet ihm seine Frau, dass sie gerade die ärztliche Bestätigung ihrer Schwangerschaft erhalten hat. Zugleich teilt sie ihm mit, dass sie ihrer liebsten Kusine Ellen diese Tatsache bereits zwei Wochen vorher freundschaftlich offenbart hat. Newland, durchschaut von allen und jedem gibt auf und lässt sich und seine Sehnsucht „lebendig begraben“. In der letzten Sequenz keimt noch einmal Hoffnung auf: Newland, inzwischen 57 Jahre alt und Wittwer, reist mit seinem erwachsenem Sohn nach Paris. Dieser hat ohne sein Wissen ein Treffen mit der dort lebenden Ellen Orlenska arrangiert. Doch kurz vor ihrem Haus teilt ihm Newland jr. mit, dass seine Mutter ihm auf dem Sterbebett mitgeteilt habe, er könne sich auf seinen Vater immer verlassen. Ohne dass es der Sprössling bemerkt, hat er seinem Vater eine Botschaft aus dem Reich der Toten übersendet. Newland beugt sich und verzichtet in letzter Sekunde der Begegnung mit Ellen. Wie in nahezu allen seinen Filmen schafft es Scorsese auch
hier, ein Genre und das dazugehörige Milieu durch den gezielten Einsatz
filmischer Mittel zu einem Zustandsbericht allgemeiner gesellschaftlicher
Bedingungen zu transformieren. Zugleich hinterfragt er dabei unsere durch
den Film geprägten Vorstellungen gesellschaftlichen Seins auf den
unterschiedlichsten Ebenen. Zuerst ist dabei die Kameraarbeit von Michael
Ballhaus zu nennen. Durch lange, von Kamerafahrten geprägte Plansequenzen
durch genau rekonstruierte Schauplätze und zahlreiche Überblendungen
vermittelt der Film durchgängig den Eindruck einer undurchdringlichen
Geschlossenheit der New Yorker Gesellschaft und ihrer Rituale. Durch wiederholte
Detailaufnahmen (zum Beispiel der ‚melodramatischen’ Kamelie
am Revers oder seiner Hände, die einen neuartigen Füllfederhalter
führen) wird der Protagonist Newland in dem alles durchdringenden
Ornament visueller Repräsentation aufgelöst, aus dem er immer
wieder zu entrinnen trachtet. Die Kamera, selbst ein Bestandteil dieses
Ornaments, integriert den Blick des Zuschauers in ein geschlossenes System
unantastbarer Blickordnungen und schließt ihm zeitweilig selbst
in die Relationen von Beobachter und Beobachtetem ein. Ein aufschlussreiche Szene ist dabei das Verhalten der New Yorker Familien im Theater, welches zu jener Zeit nicht nur als gesellschaftliche Institiution und Leitmedium, sondern auch ein Ort der Observation per se war. Aufgeführt wird, gleichsam als Spiegelung der filmischen Handlung, ein Melodrama. Während auf der Bühne die im damaligen Unterhaltungstheater am Fliesband produzierte „endgültige Abschiedsszene“ eines Offiziers von seiner heimlichen Geliebten gegeben wird (Ich beschwöre sie Antoine, verlassen sie mich!), ist Newland, nur sein Atem zeigt es an, tief erregt. Anders als auf der Bühne, auf der alle Affekte überhöht ausagiert werden, sind die Protagonisten (Newland und Ellen) bis auf geringfügige Annäherungsversuche in ihre reglosen Körper eingeschlossen. Wie stark der Einfluss solcher Szenen auf Newlands Gefühlswelt und Vorstellungen von Realität ist, zeigt sich einige Minuten später. Inzwischen ist er, einem Geständnisbrief folgend („Newland, ich bin weggelaufen“), mit Ellen allein in einem „romantischen“ Landhaus. Der Zuschauer wiederholt mit Newlands Augen die Szene aus dem Melodrama, nun mit vertauschten Rollen: Ellen tritt hinter ihn. Aber anders als im Theaterstück bleibt es nicht bei dieser trennenden Geste. Ellen umschließt ihn mit ihren Armen. Doch als Newland seinen Kopf über die Schulter zu ihr dreht, setzt Scorsese einen harten, sichtbaren Schnitt. Ellen sitzt, wie zu Anfang der Szene auf einem Sessel vor dem Kamin und betrachtet Newland. Mit diesem Schnitt wird der Zuschauer schlagartig aus der Zeit vor dem Film (19. Jahrhundert) in das Filmzeitalter (20. Jahrhundert) versetzt: War es zuvor die unerfüllte Sehnsucht Newland Archers, so ist es nun die unerfüllte Sehnsucht des Zuschauers, die Scosese durch einen Medienwechsel vom Theater (alte Welt) zum Film (neue Welt) zeigt. In dieser Szene öffnet Scorsese die Tür zum Archiv des Films. Wer genau hinsieht, wird feststellen, dass dort nicht Filme, sondern auch Hunderte von Bildern, Situationen und Augenblicken lagern, von wir immer wieder annehmen, wir hätten sie selbst gedreht.
Georg Seeßlen: Martin Scorsese, Bertz Verlag, 25 Euro Der Berliner Filmliteratur-Verlag Bertz hat nach jahrelanger Vorbereitung Georg Seeßlens ultimatives Buch über den New Yorker Filmemacher Martin Scorsese herausgebracht. Auf über fünfhundert Seiten werden alle Filme (u.a. TAXI DRIVER und GANGS OF NEW YORK) in klarsichtigen Analysen gewürdigt, in erhellende Zusammenhänge gestellt und durch umfassende Biblio- und Filmografie ergänzt. Der Farbfototeil in der Mitte bietet zudem eine eindrucksvolle 'Schlachtplatte‘. Ein wahrhaft monumentales Werk - und zugleich eine der eingehendsten Autorenanalysen der deutschsprachigen Filmliteratur! |
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