Schmerz, Leid und Tod - auf Papier

Impressionen einer Ausstellung

Von Matthias Abel

 

Von Oktober bis November 2009 präsentierte der Rudolf- Jahns- Freundeskreis e.V. im Weserrenaissance Schloss Bevern Bilder und Graphiken aus der Privatsammlung von Issa Alauneh. Der Chirurg aus Holzminden ist seit über 20 Jahren ein intensiver Sammler von Kunstwerken unterschiedlicher Regionen und Epochen, die sich mit dem Themenkomplex Schmerz, Leid und Tod beschäftigen. Mit Hilfe des Hamburger Kunsthistorikers Uwe Heckmann wurden aus über 300 Exponaten 85 Werke ausgewählt, die über ihren Inhalt hinausgehend dadurch verbunden sind, dass alle Arbeiten auf Papier ausgeführt sind.

Heckmann, der selbst über Sammlungs- und Ausstellungspraktiken in der Romantik promoviert hat, interessiert sich insbesondere für die körperlichen Aspekte der Thematik. Dabei spielen zum einen der physische Akt des Sterbens und Leidens in Form einer Ikonographie des versehrten Körpers, als auch die allegorische Personifikation des Todes in ihrer körperlichen Präsenz, eine entscheidende Rolle. Die Bildgeschichte des Todes muss immer wieder zwischen den beiden Extremen, des Sterbens und Leidens in seiner sinnlichen Unmittelbarkeit und der Undarstellbarkeit des Todes in dessen Unfassbarkeit, vermitteln. Bilder des Sterbens beschreiben eine doppelte Transformation, die des lebendigen Körpers, der in eine Leiche überführt wird, gleichzeitig eines Geschehens, das in eine bildliche Form übersetzt wird. Beide Transformationen streben einer letzen Grenze zu. Doch in dem Maße, in dem sich der Tod jeder Darstellbarkeit entzieht, wird er auch zu einer produktiven Leerstelle, die von Kulturen unterschiedlicher Epochen immer wieder erneut imaginär besetzt wird. Bilder des Todes werden somit lesbar auf die kulturellen Ordnungen, die sich in die Darstellungen eingeschrieben haben. Arbeiten auf Papier, ein solcher Ausstellungstitel bedeutet auch, dass die präsentierten Bilder nicht nur betrachtet, sondern auch in ihrem historischen Kontext gelesen werden wollen, wobei weniger eine Geschichte des Todes als ein Einblick in die Heterogenität der Sterbebilder als didaktisches Anliegen der Ausstellung erkennbar wird. Wenn Michel Foucault sowohl Friedhöfe, als Orte, die dem Tod im realen Gefüge des gesellschaftlichen Raumes zugewiesen werden, als auch Museen, als Orte, in denen Zeit oder Erinnerung gelagert wird, als Beispiele für seinen prominenten Begriff der Heterotopien anführt, wird diese Verflechtung anhand Heckmanns Ausstellungskonzept nachvollziehbar. Heterotopien sind Orte, die zu alle anderen realen Orten einer Kultur in Beziehung stehen, diese repräsentierten, diese dadurch aber in Frage stellen, in ihr Gegenteil verkehren, es sind Orte, die außerhalb aller Orte liegen und gerade dadurch umso wirksamer im realen Sozialgefüge agieren können.

Anhand der ab dem 14. Jahrhundert an Bedeutung gewinnenden Ikonographie des Totentanzes wird dies besonders deutlich. Zunächst als Monumentalmalereien auf Kirchen- Kloster- oder Friedhofsmauern ausgeführt, stellt das Motiv des Tanzes der Lebenden mit den Toten die frühe Form einer grotesken Schockästhetik dar, die mit dem Kontrast zwischen dem Toten und dem Tanz als vitaler Lebensäußerung arbeitet. Die Darstellungen spiegeln zum einen den gesamten gesellschaftlichen Kosmos in dessen hierarchischer Strukturiertheit von Kaiser und Pabst bis hin zum Bettler, verweisen zugleich aber auch auf die Gleichheit aller Menschen in Bezug auf ihre Sterblichkeit. Das Schockmoment wird gerade dadurch überwunden, indem die Todesbilder in eine eschatologische Narration eingebunden werden, indem der Tod zugleich Versprechen auf die Gleichheit aller Menschen wird, als auch eine Notwendigkeit zu Erlösung verkörpert.

Mit Erfindung des Buchdrucks wird die Darstellung langer Menschenketten durch die Darstellung einzelner Todespaare abgelöst, für die die Buchseiten ein geeigneteres Format darstellen. Die Personifikationen des Todes werden individualisiert. In den 1526 entstandenen „Imagines mortis“ von Hans Holbein, den ältesten Exponaten der Ausstellung, ist das Skelett zur bildprägenden Gestalt geworden, die die Menschen in alltäglichen Situationen überrascht. Die einzelnen Blätter werden aber weiterhin in einen heilsgeschichtlichen Rahmen gestellt, der sich von Schöpfung und Sündenfall bis hin zum jüngsten Gericht aufspannt. Christus triumphiert über den Tod.

Ab dem 16. Jahrhundert lässt sich eine zunehmende Verweltlichung des Totentanzmotivs beobachten, im 18. Jahrhundert mündet es in der Darstellung zeitgenössischer Sittenbilder, wie im Zyklus „The English Dance of Death“ von Thomas Rowlandson, der in seinen Radierungen die Laster und Schwächen der englischen Gesellschaft anprangert. In Alfred Rethels Holzschnittfolge über die deutsche Revolution von 1848 ist der Tod dagegen die diabolische Hauptfigur eines katastrophalen Geschichtsbewusstseins, der die Menschen zu Mord und Vernichtung verführt. In Max Klingers von der Philosophie Schopenhauers beeinflusstem Zyklus „Vom Tode, Erster Theil“ von 1889 verheißt der Tod nicht länger, wie im Mittelalter, einen Sinn, sondern wird zu einem undeutbaren und unabwendbaren Schicksal. Auch in Max Schwimmers „Ein kleiner Totentanz“ von 1935 stehen die einzelnen Radierungen in keinem übergeordneten Erzählzusammenhang mehr. Doch mit seiner Sinnhaftigkeit verliert der Tod hierbei darüber hinaus jeglichen Schrecken. Statt dessen erscheint er als Gast, als Freund, der Mitgefühl und Bedauern auszudrücken scheint. Immer noch Skelett, ist seine Gestalt nicht mehr durch scharfe Konturen, sondern vielmehr durch weiche, fast amorphe Formen geprägt. Je mehr sich das Motiv von der christlichen Heilsgeschichte löst, umso facettenreicher werden die Bilder des Todes, ohne zwangsläufig ins Private abzugleiten. 1965 bezieht sich HAP Griesheimer in seiner Farbholzschnittfolge „Totentanz von Basel“ auf einen Totentanz von 1440, der durch die Stiche Matthäus Merians d. Ä. überliefert ist. Neben einer Übersetzung in eine moderne, von Fläche und Linie dominierten Formensprache, aktualisiert Griesheimer die Motive der einzelnen Todespaare. Das Blatt „Der Jude“ zeigt eine Figur, die einen Davidstern trägt und von zwei Skeletten abgeführt wird. In „Der Krüppel“ sind ein uniformiertes Gerippe und ein beinamputierter Soldat zu sehen, die auf einem Meer aus Schädeln stehen.

Im 20ten Jahrhundert wird der Tod wiederum ein kollektives Thema über das sich nicht sprechen läst, ohne zugleich an Völkermord und Vernichtungskrieg zu denken, dabei wiedersetzt sich die Ikonographie des Todes nicht mehr nur der Einbettung in übergeordnete Sinnschemata, sondern oft auch jeglicher Visualisierung. So personifiziert Ernst Barlach das Massensterben des ersten Weltkriegs nicht länger durch die Gestalt eines Skeletts, sondern vielmehr durch eine riesenhafte, amorphe Figur, die mit einem übergossen Hammer Schädel und Knochenreste, die Hauptattribute der Todes als allegorischer Personifikation in der Kunstgeschichte, zertrümmert, wodurch er nicht nur als Vernichter von Menschen deutbar wird, sondern zugleich als Ikonoklast, der seine eigene Abbildbarkeit in Frage stellt.

Eine weitere Motivtradition des Todes erfährt im 20ten Jahrhundert eine entscheidende Veränderung, die Darstellung des Todes nicht in personifizierter Form sondern als apokalyptische Landschaft. In Ernst Zimmermanns von Max Ernst und Yves Tanguy beeinflussten Todeslandschaften, die im zweiten Weltkrieg entstanden sind, werden die Schädel und Knochen nicht wie bei Barlach zerschlagen, sondern verschmelzen als biomorphe Abstraktionen mit dem landschaftlichen Szenario selbst. Der Mensch hört in den modernen Landschaften des Todes auf Mensch zu sein. Noch weiter geht Wilhelm Grimm im Holzschnitt „Harpye über Gräberfeldern“, von 1950. Der in parallelen Strichlinien dargestellte Totenvogel aus der griechischen Mythologie, fliegt gleichgültig über ein flächiges Feld, in dem abstrahierte Formen wie Totenschädel, eine antikisierende Abbildung eines menschlichen Kopfes, Knochen, Schlangen und abstrakte Linien angedeutet werden. Die Gleichgültigkeit des Todes schwebt über vergrabenen Resten sich auflösender Fragmente der menschlichen Kulturgeschichte.

Aber auch die eingangs erwähnte Tendenz der intimen Todesbilder setzt sich im 20. Jahrhundert fort, wofür Käthe Kollwitz’ Radierung „Tod und Frau um das Kind ringend“ von 1911 ein eindrucksvolles Beispiel ist. Kollwitz, die in der Arztpraxis ihres Mannes immer wieder mit sterbenden Kindern konfrontiert war, platziert den Leichnam eines sterbenden Jungen zwischen die Körper der Mutter und dem Tod, der als Skelett gezeigt wird, wobei die drei Körper in einer spannungsvollen Dynamik so ineinander verschlungen sind, das sie wie ein einzelner Körper wirken. Deutliche Kontraste setzten die Gesichtsausdrücke der Köpfe, die alleine deutlich unterscheidbar bleiben: Intimer Schmerz der Mutter, Ausdruckslosigkeit in den Zügen des Gestorbenen, grimmige Entschlossenheit im Totenkopf. Der Tod, das Sterben wird hier in seiner Dynamik als Geschehen gezeigt, als Kreislauf, der Zeugung und Vernichtung ineins setzt. Damit greift die Radierung aber auch einen verhängnisvollen Motivkomplex der Todesikonographie auf, indem Frau und Tod miteinander verkettet werden. Besonders in der Kunst am Ende des 19. Jahrhunderts wird die Frau zu einem übersinnlichen, gefürchteten und gleichzeitig auch in sexueller Hinsicht begehrten Wesen stilisiert. So zeigt etwa Alfred Kubin die Frau als irrationales Naturwesen, das dem Mann den Tod bringt. Das intime Verhältnis von Tod und Mädchen, seit der Romantik ein feststehendes Genre, wird in den 1960er Jahren zum Beispiel von Horst Janssen gleichzeitig als nekrophiler Liebesakt radikalisiert und ironisiert.

Eine weitere Figurenkonstellation in der Motivgeschichte der Todespaare präsentiert die Ausstellung anhand des Bildnistypus der Begegnung des Künstlers mit dem Tod. Im „Selbstbildnis mit fiedelndem Tod“ von Arnold Böcklin wird der Knochenmann zur eigentlichen Muse - der Tod als Inspiration. Auch Lovis Corinth macht Totenschädel und Skelett zu häufigen Requisiten seiner zahlreichen Selbstbildnisse. 1916 portraitiert er sich als Maler, der ein Skelett zeichnet, das jedoch als anatomisches Demonstrationsobjekt identifizierbar bleibt. Der Maler zeichnet nicht länger eine geheimnisvolle Macht, sondern ein nüchternes Objekt. Der Tod als Gegenstand eines nüchternen, realistischen Blickes.

Nach einem lesenswerten Kapitel über Zeichnungen, die nach dem Vorbild realer Sterbender oder Leichname entstanden sind, beschäftigt sich Heckmann mit Darstellungen des Schmerzes. Dabei verweist er auf die im 15. Jahrhundert entstandene malerische „Formensprache des Schmerzes“ (Helga Lutz), deren Ziel es war, das Einfühlen in das Leiden Christi zu ermöglichen. Dabei spielte auch die Vorstellung einer heilenden Kraft des Leidens in Bezug auf den Betrachter selbst eine Rolle. Bildstrategie war es, die dargestellte Figur soweit zu individualisieren, dass sie wie ein Behälter für die Empfindungen des Betrachters funktionieren konnte.

Darüber hinaus spielte die Beziehung von schmerzerfülltem Körper und dem Blick der leidenden Figur eine zentrale Rolle. Der gen Himmel gewandte Blick, oder die geschlossenen Augen als Zeichen einer Versenkung ins Innere eröffnen einen Ausweg aus der irdischen Qual, verheißen einen Ausweg aus dem körperlichen Leiden durch den Tod. In den Heiligendarstellungen der Moderne gibt es ein solches Versprechen oft nicht mehr. 1914 präsentiert Willi Jäckel einen heiligen Sebastian, der nurmehr ganz Körper ist, dessen leerer Blick kein Jenseits und keinen Gott mehr kennt. Zeigt Jäckel die ganze Gestalt des leidenden Menschen, verlegt der syrische Maler Marwan die künstlerische Aufmerksamkeit ganz auf die Oberfläche des menschlichen Gesichtes, das nicht länger eine mythische Gestalt präsentiert, sondern in seiner leinwandfüllenden Frontalität nur noch einen Menschen zeigt. Sein Aquarell „Kopf- Melancholie II“ von 1982 gewinnt seine expressive Kraft fast ausschließlich aus der Farbe, die in dicken horizontal, vertikal oder diagonal verlaufenen Farbfeldern das Gesicht herausmodellieren und dieses so gleichzeitig in einer flirrenden Gitterstruktur zum verschwinden bringen. Das Bild des Gesichts sowie dessen Ausdruck entsteht und verändert sich beständig im Akt des Betrachtens. Die melancholische Grundgestimmtheit des Aquarells vermittelt sich so hauptsächlich durch die bräunlich- rote Farbgebung, die gleichsam als eine Art Konstruktionsanweisung für die Einbildungskraft des Betrachters darstellt. Max Uhlig portraitiert in seinem Siebruck „Igor Strawinsky“ von 2000 den Kopf des lebenslang von chronischen Kopfschmerzen geplagten Komponisten als oszillierendes Liniengeflecht aus Formgebung und Auflösung, indem sich der Kopf aus schwarzen Linien herausbildet, wobei dieser so transparent auf den Akt der Zeichnung selbst bleibt. Die Figur entsteht aus der Bewegung der Künstlerhand, wobei die Formen des Kopfes immer wieder übermalt werden und das Gesicht umso mehr an Präsenz gewinnt, je stärker es unter den Linien verschwindet. Schmerz wird hier nicht mehr dargestellt, sondern im Akt seiner Bildwerdung selbst nachvollziehbar vor Augen gestellt. Was dem Gesicht Sichtbarkeit verleiht, löscht dieses im selben Akt aus. Der Tod als doppelte Transformation fällt im formalen Verfahren des Bildes mit sich selbst ineins.

Der im Verlag Jörg Mitzkat erschienene Begleitkatalog enthält eine gut bebilderte Einführung in die Bildgeschichte des Todes und des Schmerzes, in der Uwe Heckmann gleichzeitig die Konzeption der Ausstellung in einleuchtender Weise erläutert. Neben dem einführenden Text enthält der Katalog seitengroße, teils farbige Reproduktionen aller ausgestellten Werke in hoher Qualität. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis mit über hundert Titeln zum Thema Tod und Schmerz in der Kunst rundet die gelungene Publikation ab.

Anm.:

Schmerz – Leid – Tod
Arbeiten auf Papier aus einer Privatsammlung
Bearbeitet von Uwe Heckmann
Hrsg.: Landkreis Holzminden
Holzminden 2009
143 Seiten, 85 Abbildungen
ISBN 978-3-940751-21-8