Seduktionstheorie des Films II

Anm.: Eine längere Fassung dieses Textes erschien in dem Buch C. Hißnauer / T. Klein (Hrsg.): Männer – Machos – Memmen. Männlichkeit im Film, Bender: Mainz 2002. Die vorliegende Fassung wurde für
www.f-lm.de überarbeitet.

Marcus Stiglegger

Genet und Fassbinder:
Ambivalenz einer lustvollen Agonie


Zu Rainer Werner Fassbinders Vermächtnis vor 20 Jahren

Yet each man kills the thing he loves,
By each let this be heard,
Some do it with a bitter look,
Some with a flattering word.
The coward does it with a kiss,
The brave man with a sword!
(Oscar Wilde, »The Ballad of Reading Gaol«)


Vom Schmerz der Liebe

Rainer Werner Fassbinders Film Querelle (D 1982) ist ein Vermächtnis von befremdender, farbenfroher Schönheit, ein streng stilisiertes, in mancherlei Hinsicht nahezu retrospektives Werk, das zugleich einen Neubeginn hätte signalisieren können. Nicht zum ersten Mal thematisiert der Filmemacher hier das Motiv der Homosexualität, doch nie zuvor hat er einen derart hermetischen Kosmos reiner Männlichkeit entworfen, die sich in meist tödlichen Ritualen einer gewalttätigen wie auch narzisstischen Sexualität immer wieder bestätigt – aber auch erschöpft. »Der Körper muss den Tod verstehen lernen«, »zu einer Liebe, da gehört schon ein Schmerz«: Frühere, oft wiederholte Aussagen Fassbinders sind hier inhaltlich wie auch inszenatorisch Programm geworden, und in dem Dichter und Romancier Jean Genet entdeckte der Regisseur möglicherweise eine ähnliche künstlerische Entsprechung wie einst in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz. So ist auch Querelle eine Literaturadaption oder vielmehr: Interpretation. Hier wie dort, in seiner Auseinandersetzung mit Döblin und mit Genet, schafft Fassbinder eine starke Verbindung zu seinen zutiefst persönlichen Gedanken, Obsessionen und Leidenschaften. Obwohl er inzwischen fast in Vergessenheit geriet, sollte man zunächst Genets eigenen Versuch in Erinnerung rufen, eine Welt purer Männlichkeit filmisch zu beschwören: sein Film mit dem bezeichnenden Titel: Un chant d’amour (F 1950) – Ein Lied von der Liebe.

Ein weißes Blumenbouquet weckt die Neugier eines Gefängniswärters: Es wird von einem Zellenfenster zum anderen immer wieder vor und zurück geschwungen, da die Hand im anderen Fenster offenbar zu langsam ist, das Bündel zu fangen ... Der streng blickende Wärter in schwarzer Uniform inspiziert die ihm unterstellten Zellen nacheinander, nur um in jeder einen masturbierenden Gefangenen zu entdecken. Offensichtlich erregt konzentriert sich der Wärter schließlich auf den stummen ›Dialog‹ eines Nordafrikaners in Matrosenhemd und dessen ausgiebig tätowierten Zellennachbarn. Sie kommunizieren stellvertretend über die bemalte (tätowierte), rauhe Oberfläche der jeweiligen Seite ihrer Zellenwand. Zeitweise scheint diese Wand selbst das Objekt der Begierde zu werden. Durch einen Strohhalm, den sie durch eine Öffnung in der Wand führen, tauschen die Gefangenen Zigarettenqualm aus. Dieser Anblick erregt den Wärter noch mehr: Er dringt in die Zelle eines alten Gefangenen ein – vermutlich der Mann mit dem Blumenbouquet – und demütigt ihn brutal, für das Opfer wiederum der Anlass, eine romantische Liebesszene mit einem jüngeren Mann im Wald zu imaginieren ...

Ein Lied der Liebe

Das erste Bild des Films: In fast kindlich-runder Handschrift steht auf einer dunklen Steinwand mit Kreide geschrieben »Un chant d’amour par Jean Genet«, umrahmt von einem durchbohrten Herzen und kleinen Blumen. In diesem einzigen Film des Schriftstellers Jean Genet – Un chant d’amour – wird mit einfachsten Mitteln und prägnanten Standardsituationen ebenfalls eine Welt reiner Männlichkeit, eine Welt ohne Frauen ausgemalt: der hermetische Kosmos des Gefängnisses. In einer an Jean Cocteau angelehnten Bildsprache erzählt Genet collagenartig von den Sehnsüchten und Freiheitsträumen einiger Häftlinge. Er bedient sich dabei einer aus seinen Romanen bereits bekannten visionären Erzähltechnik, die reales Geschehen mit imaginiertem zusammen fließen lässt. Im Grunde finden sich die Schlüsselsituationen in den Traumsequenzen und Zwischenschnitten; auf diese Weise etabliert Un chant d’amour drei Erzählebenen: das Geschehen im Gefängnis, die Phantasie des Wärters und die Träume des älteren Gefangenen. Lediglich das erotische Spiel zwischen dem Afrikaner und dem Tätowierten ist objektiv in der filmischen Realität anzusiedeln. Wesentlich für diesen realen Teil ist die Erotisierung der Zellenmauer, die selbst mit den Zeichnungen und ihrer ertastbaren Struktur zu einer Ersatzhaut – zum sexuellen Surrogat – wird angesichts der hoffnungslosen Einsamkeit der Häftlinge. Auch der Unterwerfungsakt an dem älteren Gefangenen wird offenbar zum Ersatz zwischenmenschlicher Körperlichkeit und erzeugt weniger Angst, als dass er zur Inspiration erotischer Wunschphantasien wird.

Die ambivalente Faszination, die Jean Genet in der Gefängnissituation und letztlich der Unterwerfung unter den dominanten, nahezu faschistoiden Wärter sieht, ähnelt in der Konsequenz dem von Julia Kristeva geprägten Begriff des Abjekts, der den dunklen Aspekt des Ichs bezeichnet, welcher im Rahmen der Ich-Bildung einer Persönlichkeit in der Abgrenzung zur mütterlichen ›Chora‹ entsteht. Eine Persönlichkeit braucht diesen dunklen Teil also, um die Grenzen ihrer Identität zu erkunden (siehe: Kristeva 1982). Genets wie auch Fassbinders Filme kreisen um das radikal von Kultur und Gesellschaft verworfene Andere, in dem sich die ›Wahrheit‹ des Menschen zeigt. Das Abjekt wird trotz des Abscheugefühls immer wieder als Teil des Selbst empfunden – letztlich ist es dessen negative Projektion – und bedroht die Grenze der Selbstdefinition. Aus diesem ›Kampf‹ mit dem Abjekten entsteht letztlich das auch in Chant d’amour vorgeführte Verhalten: Genets Häftlinge sind von einer Ich-Auflösung zutiefst affizierte Figuren, die in streng stilisierten Ritualen von Begehren und Unterwerfung eine neue Grenzziehung, eine Ganzheitlichkeit, anstreben. Das Abjekt-Verhältnis spiegelt sich zusätzlich im Verhalten des Filmbetrachters zu Genets Film als auch zu dem folgenden Beispiel: Beide Filme wurden teilweise vehement abgewehrt, sogar aggressiv bekämpft, da sie nicht zuletzt die Annäherung an das Abjekte wagen, das möglicherweise zahlreiche Zuschauer affiziert – und folglich abstößt. Zugleich schwingt in den Werken beider Künstler das Motiv der Transgression mit, das der französische Philosoph George Bataille in seinen sexualtheoretischen Schriften prägte: Im Begriff der ›Verbotsüberschreitung‹ (Transgression) sah er einen wesentlichen Schritt zur Selbstauflösung und zugleich zur ›Weltimmanenz‹. Für Bataille sind Sexualität und Tod als Fest von Werden und Vergehen unauflösbar verknüpft. Beide philosophischen Modelle, das Abjekt und die Transgression können helfen, diese radikalen Kunstwerke in ihrer bewusst übermoralischen Konstruktion zu begreifen.

Welt einer lustvollen Agonie

In seinem Roman Querelle de Brest (1953) wagt Jean Genet die Ausformulierung einer trivialen, fast banalen Kriminalgeschichte als zutiefst subjektive Fabel: »Mit der Vorstellung von Mord verbindet sich oft der Gedanke an Meer und Matrosen. Meer und Matrosen erscheinen dann nicht mit der Schärfe eines Abbildes, Mord lässt vielmehr unsere Erregung in Wogen verebben. Dass Häfen immer wieder Schauplätze von Verbrechen sind, bedarf keiner Erklärung. Aus zahlreichen Berichten aber erfahren wir, dass Mörder echte oder falsche Seeleute sind, ja bei den falschen steht das Verbrechen in desto tieferer Beziehung zum Meer. Der Mann, der sich als Matrose verkleidet, tut dies nicht nur aus Vorsicht. Seine Maske gehört zu jenem Ritual, das stets die Ausführung des bewußten Verbrechens bestimmt.« Um die Hafenszenerie der Stadt Brest rankt er eine homoerotische Phantasmagorie, die von physisch präsenten schwulen Ikonen (Matrosen, Legionären, Polizisten, Arbeitern) und irrealen Lichtgestalten (der erhabene Leutnant Seblon, die mütterliche Lysiane) gleichermaßen bevölkert ist; eine betont homosexuelle, oft fetischistische Reflexion auf die Erotik des Mordens und der Unterwerfung wird hier zelebriert. »Die Glorifizierung der Gesetzesübertretung wurde zum Mittelpunkt seiner Prosa wie seines dramatischen Werkes. Der Mord als die betont erotische Variante des Tötens steht in Genets Wertskala obenan,« so formuliert es Kindlers Literaturlexikon. Rainer Werner Fassbinders letztes Filmwerk ist die exzessiv stilisierte Verfilmung dieses Romans: Querelle – Ein Pakt mit dem Teufel. Er unternimmt es, die obsessive, einer eigenen, oft hermetischen Mythologie verpflichtete Motivwelt in so künstliche wie befremdliche Bilder umzusetzen. Nie strebt er dabei nach einer Realitätssimulation der Studioszenerie, die er in komplementäres Kontrastlicht taucht, in gelb-orange-roten Schimmer aber auch blaue und grüne Akzente. Der Film erinnert so auf durchaus makabre Weise an frühe Technicolor-Musicals, offenbart dabei aber zugleich den stereotypen Ursprung von Genets komplexer Verflechtung offensichtlich kitschiger Motive.

Der attraktive, muskulöse Matrose Querelle (Brad Davis), der seinen Lebensunterhalt mit Opiumschmuggel aufbessert, erscheint fast als perfektionierte Ausgeburt dieser konsequent phallozentrischen Welt (die bis in die Turmkuppeln und Pfosten der Bauten ausgeformt wird). Querelle bewegt sich in einem Geflecht des Begehrens zwischen verschiedenen Charakteren, denen er sich letztlich nacheinander unterwirft: dem massigen Kneipenwirt Nono (Günther Kaufmann), dessen melancholischer Frau Lysiane (Jeanne Moreau), dem korrupten, sadistischen Polizisten Mario (Burkhard Driest) wie auch letztlich seinem Vorgesetzten Leutnant Seblon (Franco Nero), einer Lichtgestalt in blendend weisser Uniform, der ihn aus dem Hintergrund beobachtet, ihn heimlich liebt und seine Gedanken auf Tonband spricht. In einem blutrünstigen Akt tötet Querelle seinen Komplizen Vic (Dieter Schidor), eine Sequenz, die in ihrer ätherischen Stilisierung fast den Charakter eines mythischen Opferrituals annimmt. Gerade das ist das Motiv, um das die Reflexionen des Romans und des Films kreisen: Die Überschreitung des Tötungsverbots, das Menschenopfer als Lust, die Eliminierung der humanen Moral. Als der Bauarbeiter Gil (Hanno Pöschl) seinerseits einen Vorarbeiter tötet, verbündet sich Querelle mit ihm, verhilft ihm zur Flucht, verrät ihn später jedoch. Fassbinder schafft hier eine Doppelgängerfigur im Dostojewskischen Sinn: Indem er Gil und Querelles Bruder Robert von demselben Schauspieler darstellen lässt, schafft er sowohl eine Entsprechung wie einen Gegenentwurf zu dem passionierten Mörder.

Nachdem Querelle Vic seiner Begierde geopfert hat, sucht er Nonos Hinterzimmer auf, um die Tat durch passiven Analverkehr zu ›sühnen‹, eine Sequenz, die hier mit einer weichzeichnenden Linse im Stil zeitgenössischer Softcore-Pornografie aufgenommen wird – ganz im Gegensatz etwa zu gestochen scharfen, düsteren Kellerorgien in William Friedkins ebenfalls im Schwulenmilieu angesiedelten Psychothriller Cruising (USA/D 1980). Das Erringen der Macht bleibt temporär in dieser Welt von Domination und Lüge: Auf Dominanz folgt Unterwerfung in einem scheinbar ewigen Kreislauf, und der begehrenswerte junge Matrose bedient sich nur allzu perfekt der sich ihm bietenden Mechanismen. In dem Versuch, sich selbst zu finden, sein Wesen zu vervollständigen – durch Mord und Dominanz –, kann er sich letztlich nur verlieren. Laut Fassbinder ist Querelle eine Figur, »die ganz expressiv dadurch lebt, dass sie die anderen Figuren mystifiziert, aufbaut und dann zerstört« (Thomsen 1993, S. 386ff.).

Der hermetische Kosmos dieser kleinen Hafenszenerie wird zusätzlich betont, indem der Himmel meist in das dräuende Rot der Abenddämmerung getaucht ist, einer Zeit an der Schwelle, die den filmischen Raum in eine mystische ›Twilightzone‹ verwandelt, die alles möglich macht: Die Figuren (man muss diesen Begriff hier bewusst verwenden) scheinen zu verharren, auf den Anbruch eines neuen Tages zu warten, der sich nicht ereignen will; statt dessen kreisen sie im Ritual einer ewigen Wiederkehr, die kaum noch etwas von Nietzsches Utopie (die Wiederkehr als ›Chance‹) zu bergen scheint. Ihre Dialoge rezitieren sie wie Monologe, die nicht selten die Funktion philosophischer Wendungen übernehmen. So verweigert Fassbinder letztlich allen Figuren die individuelle Ganzheitlichkeit und belässt sie als die Prinzipienträger, die sie sind. »Jemand muß sich in die tiefsten Tiefen dieser Gesellschaft begeben, um sich für eine neue zu befreien oder sich befreien zu können,« sagt Fassbinder in Dieter Schidors Dokumentarfilm Der Bauer von Babylon. Rainer Werner Fassbinder dreht Querelle (D 1983) dazu, »dass jemand, der das tut, wie auch immer, faszinierend ist, ist klar.« Eine Identifikation ist nicht gefordert, vielmehr das distanzierte Beobachten einer Welt, die in der Destruktivität ihrer Rituale kreist. »Das Leben, das sich in dieser Kulissenwelt abspielt, ist genauso artifiziell wie die Kulissenwelt selbst. Der Identitätsverlust der Figuren ist fundamental, und ihre Versuche, in eine eigene Identität einzutreten, misslingen: wenn sie mit jemandem schlafen, denken sie an eine dritte Person, wenn sie töten, ist es ein Ersatzmord. Man lässt die Menschen, die man liebt, im Stich, und der physische Ausdruck für Liebe wird ein Ritual in einem Machtkampf, der nur Verlierer kennt«, schreibt Christian Braad Thomsen (1993, S. 387).

Beide Werke – Un chant d’amour und Querelle – formulieren in radikaler Abstraktion ambivalente Welten phallozentrischer Dominanz, die einen sehr konkreten, wenn auch sexualisierten ›Willen zur Macht‹ zum Lebensprinzip erhoben hat. All diese Werke kreisen um eine abgeschlossene, stilisierte Welt, ein zeitloses Babylon, in dem die Homosexualität keinerlei Befreiung birgt, sondern zum Endpunkt eines Unterwerfungsrituals gerinnt, das die unfruchtbare Sexualität, einen ›latenten Tod‹, feiert: eine symbolische Welt als Abjekt in Kristevas Sinn. So wird Querelles Sühne, indem er sich von Nono anal penetrieren lässt, zur lustbetonten Akzeptanz der Todesstrafe, die allzu treffend korrespondiert mit dem Lied »Each Man Kills the Thing He Loves«, das Jeanne Moreau mehrfach den Film hindurch singt. Und gerade hier liegt die problematische Ambivalenz, da ein solches todessüchtiges, rein maskulines Universum scheinbar die Vorurteile konservativer Heterosexueller nur bestätigt: In ihrer Fixierung auf die nicht-reproduzierende anale Sexualität, die bereits der Marquis de Sade als einen »Protest gegen Gott« feierte, wird die Homosexualität in diesen Filmen – seien sie nun von homo- oder heterosexuellen Filmemachern inszeniert – tatsächlich zur ›Sexualität zum Tode‹, zur Agonie des phallozentrischen, männlichen Prinzips. Eine rein maskuline Gesellschaft, so suggerieren sie, sei eine todessüchtige, gar zum Tode verurteilte Gesellschaft. Und gleich Babylon erlebt sie den eigenen Untergang in einem lustvollen Todestanz, in dem sich Tränen aus Schweiss mit den letzten Tropfen des Blutes mischen: »Erst dann werde ich Frieden finden, wenn er mich genommen hat, aber es müsste so sein, dass er mich gepfählt auf seinen Schenkeln hielte, wie eine Pietà, die den toten Jesus behütet,« schreibt Genet in Querelle. Zugleich entfaltet sich in diesem ebenso pathetischen wie transgressiven Zitat eine zutiefst schwarz/romantische Utopie, die den eingangs zitierten Satz Fassbinders immer in Erinnerung halten wird: »Der Körper muss den Tod verstehen lernen.«

Literatur:
Julia Kristeva: Powers of Horror. An Essay on Abjection, New York 1982
Christian Braad Thomsen: Rainer Werner Fassbinder. Leben und Werk eines maßlosen Genies, Hamburg 1993