Marcus Stiglegger

Defintion: Filmwissenschaft
im Rahmen der Philologie

Die F. versteht sich als eine Kulturwissenschaft, die sich mit hermeneutischer Methode dem internationalen Spiel- und Dokumentarfilm als Kunstwerk nähert. Im universitären Fächerspektrum kommt es so zur interdisziplinären Zusammenarbeit mit der Theaterwissenschaft, der Kunstgeschichte und Kunsttheorie, der Allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft, der Neueren deutschen Literaturgeschichte, der Kulturanthropologie sowie den Studienfächern Buchwissenschaft, Publizistik, Journalistik und Kunsterziehung (Film und Video). In den meisten deutschen Universitäten wird die Filmwissenschaft in Kombination mit Medien-, Theater- oder Fernsehwissenschaft angeboten, das erste autonome filmwissenschaftliche Institut in Deutschland wurde erst 1993 durch Prof. Dr. Thomas Koebner an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz gegründet. Dieses eigenständige Modell der F. mag als Grundlage der folgenden Ausführungen dienen.

Das Fach F. widmet sich dem internationalen Spielfilm und Dokumentarfilm in Kino und Fernsehen und den verwandten Fernsehformaten wie z.B. dem Fernsehspiel. Im Studium dieser Disziplin sollen umfassende Kenntnisse der Film- und Fernsehgeschichte im soziokulturellen Kontext der jeweiligen ästhetischen Strukturen von Film und Fernsehen, der Filmtheorie, der journalistischen Filmkritik sowie der wissenschaftlichen Interpretationsmethoden vermittelt werden.

Neben der umfassenden theoretischen Diskussionen, die sich mit der Akademisierung des Faches seit den 1970er Jahren etablierte, wurden in der F. Fragenstellungen entwickelt, die ein weites Feld geistes- und sozialwissenschaftlicher Arbeit abdecken – von der Erzählforschung zur Methodologie und Praxis der Filmanalyse, von soziokulturellen Studien hin zur komparativen Ästhetik, von historischer Poetik zur rethorischen Analyse verschiedenster 'Textsorten‘, von der kulturhistorischen Rezeptionsanalyse bis hin zur Mediengeschichtsschreibung (Kessler / Wulff 2002). Zu den Forschungsschwerpunkten der deutschen Filmwissenschaft lassen sich zählen: 1.) Die Geschichte des europäischen, asiatischen und amerikanischen Films etc. im jeweiligen soziokulturellen, ästhetischen und psychologischen Kontext, Film und Modernismus im Vergleich mit den anderen Künsten, Genre-Entwicklung und Individualstil gemäss der Autorentheorie. 2.) Zur Schauspielkunst im Film kann von der Erforschung des Theaterschauspiels ausgehend ein filmspezifisches Vokabular entwickelt werden, das vor allem auf die medienspezifischen Charakteristika eingeht, etwa die Mimik in der Grossaufnahme. 3.) Formen des Dokumentarischen in Kino und Fernsehen können anhand einzelner Dokumentarfilmtradition bzw. „Schulen“ untersucht werden oder anhand der Filmemacher, wobei der eigenständige, weitgehend unabhängig vom Fernsehformat produzierte Dokumentarfilm im Mittelpunkt des Interesses steht. 4.) Ästhetiken des Extremen und die filmische Körperinszenierungen können im sozio-anthropologischen Kontext untersucht werden, wobei die filmische Darstellung des menschlichen Leibes in existenziellen Situationen im Zentrum steht. 5.) In der Untersuchung der Frühzeit des Kinos lassen sich vielschichtige Tendenzen herausfinden, die noch heute im Kino präsent sind. 6.) Da noch immer kein verbindliches Vokabular dieser Disziplin zur Verfügung steht, wurde vermehrt in den letzten Jahren der Versuch unternommen, dies in Form von Lexika und Handbüchern nachzuholen, z.B. T. Koebners Sachlexikon des Films (2002) oder R. Rothers Sachlexikon Film (1997) (Kiefer u.a. 2001).

Da es bislang nicht die einzig-gültige Theorie des Films gibt, bedient sich die F. unterschiedlicher Ansätze, zu denen die Autorentheorie (A. Astruc), Genretheorie, postmoderne Theorie (F. Jameson), Strukturalismus, Semiotik (C. Metz), Neo-Formalismus (D. Bordwell) sowie feministische und Gender-Theorie (L. Mulvey) und die klassischen (S. Eisenstein) und neueren (K. Reisz) Montagetheorien zählen. Zahlreiche etablierte Analysemodelle finden hier erneut Anwendung, eine fachübergreifende Beschäftigung des Filmwissenschaftlers mit Philosophie, Literatur, Fotografie, Bildernder Kunst u.a. bleibt also nicht aus, da sich das filmische Medium selbst im Spannungsfeld dieser Disziplinen befindet. So eignen sich auch andere Fächer Methoden und Ansätze der F. an, um anhand filmischer Beispiele den eigenen Erkenntnisbereich zu vertiefen.

Ein Problem, mit dem sich der Filmanalyst von Beginn an konfrontiert sah, ist die 'Bilderflucht‘: Im Rahmen der Kinoprojektion 'entzieht‘ sich die schnelle Abfolge der Bilder einer tiefgehenden Betrachtung, selbst bei wiederholter Rezeption ist nicht anzunehmen, dass der Betrachter alle Details erfassen kann. T. Koebner (1999, S.210) kommt daher zu dem Schluss, dass sich erst mit Verbreitung des Videorekorders, der ein wiederholtes und ein weitgehend detailgenaues Ansehen der Filme ermöglicht, Ende der 1970er Jahre die F. als anerkannte wissenschaftliche Disziplin verbreiten konnte. So wird die Wahrnehmung der 'flüchtigen‘ Bilder mitunter zu einer manipulierbaren Abfolge von Standbildern. Für eine eingehende Analyse sind also entweder eine Videogerät oder eine Sichtung am Schnittplatz notwendig, wobei jedoch die eigentliche 'Größe‘ des projizierten Filmbildes nicht gegeben ist. Die Komplexität des filmischen Bildes (Koebner 1999, S.216) umfasst eine mehrfache Codierung, die sich in vier der klassischen Kunst verwandten Ebenen manifestiert: 1.) die 'eigentliche‘ Bedeutung des erkennbaren Objekts; 2.) die allegorische Bedeutung: die Objekte stehen bildhaft für andere Zustände oder Zusammenhänge; 3.) die 'spirituelle‘ Ebene: mit Hilfe von Symbolen und Sinnfiguren verdeutlicht die Abfolge der Bilder einen übergeordneten, komplexen Sinnzusammenhang; und 4.) die 'anagogische‘ Ebene, aus der das Medium Film zur Vermittlung komplexer weltanschaulicher bzw. moralischer Botschaften benutzt wird. Grundsätzlich bleibt es dem aufmerksamen Betrachter überlassen, Fragen auf die 'Antworten‘ zu finden, die ihm die filmischer Erzählung präsentiert.
T. Koebner führt in seinem Aufsatz Über einige Prinzipen der Filmwissenschaft (1999, S.231ff.) folgende Punkte auf: 1.) „die Verfahren der 'pragmatischen Ästhetik‘, die Prinzipien der 'Atelierpraxis‘ aufzudecken und sowohl historischer Übersicht einzufügen, als auch diese erweiternde Metierkenntnis dem wissbegierigen Produktionsalltag zur Verfügung zu stellen.“ 2.) „den Film in einer vergleichenden Synopsis und Chronik der Künste in Bezug zum Paradigmen- und Stilwandel anderer Sparten zu setzen, der Malerei, der Architektur, der Musik, des Theaters usw.;“ 3.) „den Studierenden des Fachs zu verdeutlichen , dass sie Vermittler zwischen Filmkreativen, [...], um dem Publikum seien [– etwa in der Funktion des Filmkritikers –], doch sich als 'Kunstwissenschaftler‘ im weitesten Sinne dazu entscheiden müssen, sich mehr um die Formenvielfalt des Films und deren Entstehung, selbst um die Nutzanwendung der durch Analyse gewonnenen Befunde zu kümmern als um die empirischen Reaktionen der Zuschauer.“ Rezeptionsforschung, also die Untersuchung der Publikumsreaktion, gehört eher in den Bereich der Medienpädagogik, Psychologie bzw. Publizistik. – Die F. ist gerade in ihrer interdisziplinären Kompatibilität äusserst dynamisch und wird sich als fruchtbares wissenschaftliches Erkenntnisfeld erweisen, so lange dem Medium Film in Kino, Fernsehen und auf Video/DVD eine derartig großer Massenwirkung eigen ist.

Lit: F. Kessler / H.J. Wulff: Filmwiss. In: T. Koebner (Hg.): Sachlexikon des Films, Stgt 2002. – B. Kiefer / S. Marschall / K.N. Renner: Medienstandort Johannes Gutenberg-Universität Mainz. In: Forschungsmagazin d. Joh. Gutenberg-Univ., 17. Jhg., Sonderausg. 2001. – T. Koebner: Halbnah, St. Augustin 1999. – H. Schanze (Hg.): Medientheorie. Medienwissenschaft, Sttg./Weimar 2002 - P. Wuss: Kunstwert des Films und Massencharakter des Mediums. Konspekte zur Geschichte der Theorie des Spielfilms, Bln 1990.

Die Endfassung dieses Textes erschien in "Medientheorie, Medienwissenschaft" (Metzler Verlag) BESTELLEN