DIE GROSSEN GEFÜHLE DES EUROPÄISCHEN FILMS

Filme als Ausdruck Europäischer Leitkultur in der Gegenwart

von Beate Pilz


2009 war das große Jahr des österreichisch-deutschsprachigen Films: Michael Hanekes „Das weiße Band“ wird mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Jessica Hausner erhält bei den Filmfestspielen in Venedig für ihren Film „Lourdes“, eine deutsch französische Co-Produktion, den Kritiker Preis. Der in Österreich aufgewachsene Schauspieler Christoph Waltz erhält für seine Darstellung als zynisch böser Nazi Held den Darsteller Preis. Hinzu kommen: der Europäische Filmpreis für „Das weiße Band“ und last not least: der Golden Globe, ein Preis der internationalen Kritik für Haneke und Waltz. Die rechts-populistische österreichische U-Bahn Zeitung Heute überschlägt sich in Massen hysterischem Überschwang: „Ganz Hollywood ist von uns begeistert! Waltz: Wahnsinn! Jetzt lauert der Oscar!“ Da liegt manchem die Frage nahe, wo lauert Oscar? In den Schützengräben des Feindes, oder in den eigenen Reihen?

I. Schatten der Vergangenheit

Es drängt sich die Vermutung auf, dass Filme über die nationalsozialistische Vergangenheit, in den USA gute Chancen haben, als bester ausländischer Film ausgezeichnet zu werden. Wir erinnern uns an den mit dem Auslands-Oscar ausgezeichneten österreichisch-deutschen Film „Die Fälscher“ von Stefan Ruzowitzky, der, bevor er mit dem Preis ausgezeichnet wurde, in den österreichischen Kinos eher langweilte, nach der Preisvergabe jedoch lief. Der Preis ist heiß, und unsere amerikanischen Freunde, unsere Befreier von damals, freuen sich anscheinend, wenn Österreicher und Deutsche dem Thema widmen. Im Land der Weltverbesserer, der Eingreifer und Demokratiespender ist man, was andere betrifft, wohl der Auffassung, Einsicht sei der erste Weg zur Besserung, auch wenn man sich diese Einsicht meistens nur von anderen wünscht.
Was wir verstanden haben, brauchen wir nicht zu wiederholen. – Das wäre schön, aber auch die Französische Revolution, ist an ihren Aufklärungsidealen gescheitert. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sind zum Fundament unserer Verfassungen geworden, aber das Fundament trägt nicht, was es verspricht: weder verschont es uns vor den Weltkriegen, noch sind wir bereit zu sehen, dass es uns zwar noch gut geht, aber Andere, Ungleiche, ja ganze Kontinente in Not und Elend versinken. Welt-Online berichtet aus Cannes: „’Das weiße Band’ auf dem Siegeszug. [...] In jedem dunklen Winkel in dem Haneke mit von Christian Berger großartig gefilmten Schwarz-Weiß Bildern stöbert, verbirgt sich etwas, das nicht an die Öffentlichkeit soll: Die Handlung spielt in einem norddeutschen Dorf im Jahre 1913/14, das von mysteriösen Anschlägen verunsichert wird. Kinder zünden eine Scheune an, der Herr Baron arbeitet auf dem Feld, der Pastor führt in seiner Familie ein Schreckensregime. Sein Sohn wird bei dem Verdacht auf Selbstbefleckung ans Bett gefesselt, die Tochter öffentlich bloßgestellt, bis sie zusammenbricht. Der Arzt bedrängt seine Tochter sexuell und demütigt seine Geliebte. Und dem Hausverwalter rutscht ebenso leicht die Hand aus wie den Bauern.“ Nachrichten.at spricht von Starrheit, Regelwerk und einem vordergründigen Spannungsaufbau, als Vertreter „schwarzer Pädagogik“, der die Welt durch sein Schreckensszenario eines Besseren belehren will, sei Haneke Moralist und in gewisser Hinsicht erstaunlich konservativ. Am Ende des Films steht der Erste Weltkrieg und die Generation, die hier heranwächst, wird im Zweiten Weltkrieg und im Dritten Reich Führungspersönlichkeiten und Fußvolk stellen.
Als Hanekes Film auch noch für den Britischen Filmpreis vorgeschlagen wird, erhält Haneke von der RTL-VIP-Nachrichtensendung (die eine Kulturberichterstattung sein sollte aber als VIP-Schiene den Stand der Kultur als VIP-Kultur und Eventmarathon festlegt) das täglich vergebene Prädikat „TOP“, im Unterschied zu jenen, die floppen, sei es aus Gründen von Alkoholsucht, modischen Details, Magersucht oder Exzessen. Verglichen mit den anderen Auszeichnungen ist diese Auszeichnung schlechthin lächerlich: Unter jenen, die sich über den Erfolg des „Weißen Bandes“ besonders freuen, haben die meisten den Film gar nicht gesehen. Vor allem junge Menschen, deren Geschichtsinteresse zu wünschen übrig lässt und denen es mitunter egal ist, welche Politiker gerade an der Macht sind, interessiert dieser Film kaum. Er zeigt Vergangenheit, eine Zeit, deren Zeugen sie nie waren. Die Leitbilder ihrer Zeit sind: Castingshows und Parties, Emmies und Grammies, die Laufstege der Welt, Genuss und Übergenuss, Betäuben statt Wahrnehmen und Erinnern, Supertalente, Tops und Flops. Auch die beliebten Internet-Plattformen wie Facebook, Twitter und Myspace folgen dem Diktat der Wirtschaft: in der Zukunft liegen der Fortschritt und der Profit der Telekommunikations-Branche, die solche Plattformen anbieten. Die Projektion einer völlig erneuerten Zukunft ist der Motor von Wirtschaft und Politik. Um mit Brecht zu sprechen: „Also gehen aufrecht im Triumphe die Toren, aber wohin sie gehen, wissen sie nicht!“.

Anlässlich seiner Oscar-Nominierung als bester Darsteller drückt Waltz seine enorme Überraschung über den Erfolg in den USA aus: Mit der Goldenen Palme in Cannes hätte man ja gerechnet, da Haneke ein arrivierter Name in der Filmkunstszene sei. Aber der Film hätte sonst keine Zutaten, mit denen man in Amerika ein Erfolgssüppchen kochen könnte, er sei in altmodischen Schwarz-Weiß gedreht, vermisse die Musik – das non-plus-ultra amerikanischer Produktionen –, die Action Szenen und Explosionen. Hanekes Film ist eine Hochkultur-Produktion, ein Rein-Kulturprodukt. Haneke ist also ein Vertreter des künstlerischen europäischen Films, denn mehr als nur um Wirkung geht es hier. Hinter dem Produkt steht ein europäischer Regisseur, der an die subjektive Tradition des anfänglichen europäischen Films anknüpft. Der subjektive Künstler ist der Garant für die Wahrheit, sein Talent ist seine Perspektive – das zentrale Thema seit der Renaissance –, sein subtiles Gespür für die Welt, seine subjektiv sinnlichen Bilder sind sein Markenzeichen und machen ihn zu dem, was er gerne sein möchte: einzigartig, persönlich, auf geniale Weise über dem Publikum stehend, ein wahrer Repräsentant der abendländischen Hochkultur, die, obwohl das Genie längst zur Ware geworden, dem Bild vom genialen Künstler, der vom Rest der Menschheit abgeschnitten in seiner subjektiven Sphäre residiert, huldigt.

 

II. Wie es dazu kam

Wo aber ist die Unterscheidung zwischen europäisch-künstlerischem Film und der kommerziellen Filmproduktion der USA deutlich festzumachen? An der Thematik, an der Tendenz oder an der Filmsprache? Die kommerzielle Filmsprache ist eine andere als die der europäischen Tradition, das wissen wir. Aber dennoch sollte der Einfluss des anfänglichen europäischen Films auf die sich kommerziell eskalierende amerikanische Filmindustrie nicht unbemerkt bleiben. Haneke, Ruzowitzky – ohne sie miteinander vergleichen zu wollen – sind nicht die ersten europäischen Filmemacher, die es bis nach Hollywood geschafft haben. Die überschwappende Emigrantenwelle zur Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus führten namhafte Regisseure in das Mecca der Filmindustrie: Lang, Lubitsch, Pabst und Dreyer waren unter ihnen, Regisseure, deren frühe Filme zur Grundlage des europäischen Filmverständnisses beigetragen haben. Auch Bertolt Brecht machte sich auf den Weg in eine USA, die ihn, wie auch Fritz Lang, in der Mc Carthy-Ära auf die Liste der gefährlichen Autoren setzte und vor ein Tribunal zerrte. G. W. Pabst war wie auch Lang in den Anfängen des europäischen Kinos Stummfilmregisseur. Zu seinen ersten großen Erfolgen zählen die Filme „Die freudlose Gasse“ und „Geheimnisse einer Seele“, ein sogenannter psychoanalytischer Lehrfilm aus dem Jahr 1926 – 2009 wurde letzterer im Wiener Konzerthaus von elektronischer Live-Musik begleitet dargeboten. 1931 drehte Pabst, bereits in Amerika, nach kommerziell wenig erfolgreichen Filmen die Dreigroschenoper, doch schon während der Dreharbeiten reichten Weill und Brecht gegen „Warner Brothers“ aufgrund der nicht genehmigten Bearbeitung des Original-Stoffes Klage ein: ein Prozess, den sie verlieren. Horvath, wäre er nicht an jenem schicksalshaften Tag, an dem ihn in Paris ein herabfallender Baum erschlug, aufgehalten worden, war ebenfalls, um dort Drehbücher zu schreiben, auf dem Weg in die USA, wohin einige andere Künstler aus Literatur, Wissenschaft und Bildender Kunst bereits geflohen waren. Und Marlene Dietrich wurde, obgleich Ikone, am Ende ihrer amerikanischen Karriere an der Front, wo sie vor amerikanischen Soldaten sang und tanzte, um ihnen für den Kampf Mut zu machen, von den Amerikanern als „deutsche Soldaten-Schlampe“ beschimpft. Fritz Lang etablierte sich in Europa künstlerisch mit dem Science-Fiction Stummfilm „Metropolis“, der an den Kinokassen floppte und die Produktionsfirma aufgrund der hohen Kosten beinahe in den Ruin trieb. Bei der diesjährigen Berlinale erlebte der Film in einer Riesenprojektion vor dem Brandenburger Tor nach 83 Jahren, mit bislang unveröffentlichten Szenen angereichert, seine erste kommerzielle Wiederaufführung.

Es lässt sich also feststellen, dass im gegenwärtigen europäischen Filmschaffen die großen Regisseure der Anfangszeit wieder volle unerwartete Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sozusagen ein richtiges Revival erleben. Woher kommen diese Selbstbesinnungstendenzen des europäischen Regie-Filmschaffens auf seine Wurzeln, in Abgrenzung zum amerikanischen Filmschaffen? Eines steht fest: die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist damals wie auch heute im Blickpunkt der Kritik. Haneke ist zurzeit der letzte große Regisseur, der sich mit dieser Epoche der Europäischen Filmkunst konfrontiert. Vor ihm widmeten sich Bertolucci in seinem epochalen Werk „1900“ wie auch Fellini in seinen Nachkriegsfilmen der Frage: wie konnte das geschehen, wie kam es dazu? Wenn wir uns heute, 2010, erneut mit dieser Fragestellung beschäftigen, müssen wir uns da, im Zuge des immer stärker werden Rechtstrends, im Zuge des Vormarsches und Aufschwunges der rechtspopulistischen Parteien in Europa, nicht auch fragen: ist da wieder etwas im Anmarsch, kommt da wieder etwas dieser Art, vielleicht in anderem Gewand auf uns zu?

Bei der Eröffnungsfeier der Berlinale 2010 wird zu ihrem 60. Geburtstag zweisprachig gesprochen. Die Begrüßung beginnt auf Englisch, dann geht es in deutscher Sprache weiter. Der Festivaldirektor berichtet von der ersten Biennale im Jahr 1951: Berlin, Bilder des Wiederaufbaus, aus den Trümmern der Zerstörung setzt die Stadt mit der Berlinale ein Lebenszeichen. Berlin ist bereit neu anzufangen, Berlin blickt mutig in die Zukunft: Wir sehen Ausschnitte aus einer historischen Rede Brandts. Von den politischen Verhältnissen beeinflusst, geht es darum, zu zeigen, dass man den Krieg überstanden und vor einem Neuanfang steht. Wie wir aus der diesjährigen Eröffnungsrede des Festivaldirektors weiter erfahren, wurden bei der ersten Berlinale die Filme vom Publikum ausgezeichnet. 1956 ist es dann soweit: die großen Hollywoodstars erscheinen in Berlin. Alles was Rang und Namen hat, geht zum ersten Mal über den Roten Teppich und machen Berlin damit wieder zu der internationalen Filmmetropole, die sie vor dem Krieg gewesen ist. Mit den Schauspielern kamen die Kritiker – denn ohne Kritiker keine Stars – und zum ersten Mal werden 1956 die Preise und Auszeichnungen nun von den Kritikern der Jury vergeben und so ist es bis heute geblieben. Die „Kritik“ der abendländischen Kulturgeschichte – Emanuel Kant bezog sich in seinen beiden Elementarwerken auf die „Kritik der reinen Vernunft“ und „Kritik der praktischen Vernunft“ – preist seit jeher ihre Früchte.

 

III. „I can as you do – woodoo“

Pabst konnte im kommerziellen Kino Amerikas nicht an seine europäischen Erfolge anknüpfen, Lang hingegen gelang mit seinem ersten Tonfilm „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ auch in den USA ein Publikumserfolg und es folgten weitere kommerziell erfolgreiche Filme, die, wie manche behaupten, nicht mehr an das künstlerische Niveau seiner europäischen Produktionen heranreichten. Ungeachtet dessen beeinflussten die europäischen Stummfilme das amerikanische Filmschaffen grundlegend. Noch strahlender mag uns nur der alles überstrahlende Hollywood-Erfolg einer Billy Wilder Komödie, mit der einzigartigen Marylin Monroe in der Hauptrolle, vorkommen. Mit der Monroe war den großen Hollywood-Studios ein Star gelungen, der sich, obgleich nicht viel anders als andere, als einmaliger erwies. Die von den Filmstudios seit den 1950-er Jahren betriebene Image-Politik, die den Star auch nach dessen realen Tod nicht freigibt, und die Serialisierung dieser Image-Abziehbilder signalisierte vor allem den Wechsel von Kunst zu Kommerz: „I can as you do –woodoo!“. Was Andy Warhol bewegte, das Image der Marilyn Monroe hunderte Male neben der Cola-Flasche und der Campell-Suppendose an die Wand zu hängen, wurde uns von Kennern der Amerikanischen Pop-Art-Szene deutlich interpretiert. Das Einmalige existiert – nach dem von Benjamin beschriebenen Verlust der Aura des Kunstwerkes – nicht mehr. Von nun an ging es nur noch um das beliebig reproduzierbare Serienprodukt. Das Einmalige gibt es mehrmals und vielfach, verkauft wird nicht der Star sondern sein Image. TakashiMurakami, der geschäftstüchtigste japanische Pop-Art Künstler der Gegenwart hebt in seinen Werken die Trennung zwischen Kunst und Kommerz unter dem Motto „themeaning of thenon-sense of themeaning“ auf radikale Weise auf. Er designt Taschen für Vuitton, dreht Videos für Kanye West, stellt den Museum-Shop ins Zentrum seiner Ausstellung, mixt Kultur und Mode und sieht in dieser „flatlandculture“, wie er sie nennt, die Trends westlicher Konsumorientierung. In einem ARTE-Interview äußert sich der Künstler, was die kulturellen Ansprüche seiner Zeit betrifft, skeptisch: die Aufhebung der Trennung von Kunst und Kommerz führe zur Aufhebung des gesamten Kulturbegriffes. Wenn das „Gute“ mit dem zuvor „Schlechten“ verschmelze, stelle das das Ende des Kulturbegriffes der Hochkultur dar. Warhol, in seinem Versuch, die kapitalistische Reduzierung der Kunst auf deren Oberfläche, deren Scheinwelt zu thematisieren, formulierte den oft zitierten Basissatz „In Zukunft wird jeder für fünfzehn Minuten berühmt sein“ und hatte wohl noch keine klare Vorstellung vom Tempo der Zukunft, den Beschleunigungsstrategien der Film- und Musik-Medien. Zwar tauchen darin auch schablonenartige Image-Bildchen von Erfolgsträgern auf, doch verschwinden diese schneller als in der Warhol’schen Zeitrechnung vorgesehen. Von einer Flut nachkommender Chimären gelöscht, gibt es die wirklich neuen Gesichter nur mit sehr kurzfristigem Verfallsdatum. Waren es bei der Casting-Show DSDS anfangs hundertfünfzig Kandidaten, so sind es heute bald fünfzigtausend, die für die Vorstellung, ein Teil des Mediengeschäftes zu sein, alles täten: Wenn das Security-Band durchschnitten, der Eingang zum Erfolg freigegeben scheint, gibt es kein Halten mehr. Wie bei einem Sport-Event stürmen sie nach vorne, um einmal, und sei es nur kurz, in die Zielgerade, in das Fernsehen zu kommen, denn wer im Fernsehen ist, ist TOP, im Unterschied zu denen, die nur zuschauen. In diesem Jahr hat sich DSDS tatsächlich verändert. Es ist so gigantomanisch geworden, dass der Pop-Titan, der Held selbst, ein wenig darin untergeht. DSDS ist zu dem geworden, was die Amerikaner von New York behaupten: ein gigantomanischerSchmelztigel, eine teuflische Mixtur aller Zutaten. In DSDS finden sich für jede Käuferschicht nach Bedarf Comedy, Sport – Kung-Fu-Fighting und Motorbikes – und Pamela Anderson Verschnitte erklimmen schwerfällig die Maschine in knappen Leder-Hot-Pants. DSDS ist das Konzentrat-Serum der Tourismus- und Wellness-Branche. Die Kanditatinnen hocken selbstbewusst im Whirl-Pool, zu Markte tragend, was man nur zu Markte tragen kann. Zum ersten Mal geht es in der Imitation des Lady Gaga Kassenschlagers nicht nur mehr um Stimmen, es geht ums Gesamtpaket. Und auch zwei Outlaws, ehemalige Gefängnisinsassen sind mitten drin statt nur dabei.

 

IV. Die Erschaffung der Übermenschen

So wie aus der Mallorca-Idylle die Strände der Südsee geworden sind, so wie die Superstar-Kandidaten bei der ersten Mottoshow mit Background-Vocals und fertigem Mix auftreten, so hat sich die Kameraführung desgleichen verändert. Als flöge man über ein Fußballstadium vor dem entscheidenen Match, fliegt der Betrachter über die Mega-Halle mit dem Mega-Publikum. Man bemüht sich den Schein von Mega-Räumen zu erzeugen, die schon nahe an die archetektonischen Bau-Fantasien der Nazis heranreichen. Es scheint, dass die Methoden, die die Amerikaner von Leni Riefenstahl gelernt haben, nun auch bei den DSDS-Machern und anderen angekommen sind: Nun gibt es die Großaufnahme von sich rythmisch bewegenden Körperteilen, wie sie zum Olympia-Geist der Riefenstahl passen. Hier geht es schon lange nicht mehr um Interpreten, sondern um das propaganda-ähnliche Wecken von Massenhysterie. Auf Großbild-Leinwänden steigen die Kids auf in den unerreichbaren Himmel der Stars und werden in der Wirkung nur noch von der Großbild-Übertragung vor dem Friedhof (anlässlich Robert Enkes Tod) oder den Screenings bei der Michael Jacksons Trauerfeier übertroffen. Als Krönung von allem wie immer die großen Gefühlsausdrücke in Großaufnahme, vor allem in Zeitlupe, damit es sich auf der Festplatte des Gehirns besser einprägt.

Der deutsche Philosoph Josef Früchtl verdeutlicht in seinen Studien zum Thema „Heldentum in der Gegenwart“, dass das Bedürfnis der Massenmedien nach Helden größer sei, als bei „normalen“ Zuschauern, denen diese Helden vorgeführt werden. Er hebt neben der Sphäre der Kunst und Medien vor allem die Sphäre des Sports hervor, in dem solches Heldentum gepflegt wird. Im Sport scheint das Heldentum auf der breiten Front des Massenkonsums das affektiv stärkste zu sein: Hier werden die Leitbilder unserer narzisstischen Körperkultur am eindeutigsten vorgeführt: der Körper, die körperlichen Fähigkeiten in Perfektion, der Schweiß, die Anstrengung auf dem Weg zum Sieg machen den sportlichen Helden mit den Bildtechniken der Medien zum „Übermenschen“. Früchtl betont, dass es nicht nur im Sport sondern in allen Bereichen des alltäglichen Heldentums nicht nur der Leistung, sondern vor allem der medialen Überhöhung, des an den Zuschauer-Heranbringens dieses Heldentums in Form von Bildern bedarf. Erst diese von Idealisierungen getragenen, sich wiederholenden Bildanstürme aus einer gewissen Distanz betrachtet, machen den Helden zum Helden – “Das Bild ist uns näher als der Buchstabe!“. Freud geht in seiner Abhandlung zum Phänomen der Massensuggestion bis hin zur Massenhysterie noch stärker ins Detail: Das Phänomen der Heldenüberschätzung deutet er als „Sexualüberschätzung“. Das sexuelle Interesse für eine Person lässt uns den Begehrten als perfekt und vollkommen erscheinen, was bei Zurückgehen des Interesses enttäuschender Weise nicht mehr der Fall ist. In narzisstischen Gefühlssystemen bezeichnet die Begierde die Selbstüberschätzung der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Auch der Narziss möchte sich selbst nicht enttäuschen.

Früchtl unterscheidet zwischen Helden und Super-Stars: Um ein Held zu sein, muss dieser außerhalb der Norm handeln. Es bedarf vor allem der Tat um ein Held zu sein. Und es gehört immer auch die Distanz eines beobachtenden Dritten dazu. Der von anderen als Held eingestufte Charakter sieht sich in der Situation, in der er sich befindet, vielleicht gar nicht als Held, erst durch die anderen, die aus der Distanz das Geschehen beurteilen, wird er zum Helden erkoren. Stars hingegen sind niemals Regelbrecher. Sie sind vielmehr die Meister der Regelanwendung und wie sie dies tun, macht sie zu scheinbaren Personen „larger than life“. Sie handeln aber nicht selbst, sie führen nur aus, was das dahinter liegende Regelsystem ihnen als Regelrepräsentanten abverlangt. Früchtl verdeutlicht, dass hinter diesen Regelwerken immer politische Interessen stecken. So kann ein Schauspieler, der die Rolle eines Kriegshelden, eines Soldaten im Kampfeinsatz zu einem Zeitpunkt, in der die Sache bereits vom Scheitern bedroht ist, dem Zuschauer den Eindruck vermitteln, dass es sich lohnt, weiter zu kämpfen, dass das Ruder noch herumgerissen werden könne und der Sieg noch in greifbarer Nähe sei. Dem Zuschauer mag der Schauspieler in seiner Rolle aus der Distanz des Betrachters wie ein Held erscheinen. Dem armen Schwein, das sich wie zum Beispiel Tom Hanks in „Forrest Gump“ verwundet und gebrochen durch die Situation schleppt, mag diese wie die Hölle vorkommen, er erlebt sich dabei keinesfalls als Held. Diese Art des Heldentums, wie wir sie auch aus den Zeiten der Weltkriege kennen, soll der kämpfenden Nation die Sache als gerecht und lohnenswert erscheinen lassen, so dass jene, die bereits aufgeben und ihre Söhne nicht mehr in den Krieg schicken wollen, nun wieder einen Sinn darin sehen. Heldentum und Mythenbildung gehören zusammen: „Was für die Deutschen das Nibelungenlied, ist für die Amerikaner der Western.“ Der Western stellt das einzige nationale Epos in der amerikanischen Filmgeschichte dar. Nur im Western, so Früchtl, reflektiert sich das kulturelle Selbstverständnis der Amerikaner und ist als Filmgattung eine durch und durch amerikanische Erfindung. In jedem Western reitet der Held von rechts ins Bild um es am Ende links aus dem Bild reitend wieder zu verlassen. In den meisten Filmen dieser Art ist der Held ein Unbekannter und Fremder, der auf ein Dorf zureitet, in dem die üblichen Verhältnisse herrschen. Der Sheriff hat es mit ein paar Gesetzlosen zu tun, die er kaum unter Kontrolle halten kann. Der Held löst ein Problem, das die Dorfgemeinschaft ohne ihn nicht lösen kann. Hat er das Problem gelöst, als Regelbrecher in der Nähe des Verbrechens, verschwindet der Held wieder aus der Dorfgemeinschaft, die sich in Starke und Schwache zusammenrottet und in der das unumstößliche Gesetz gilt: Wenn sich mehrere verbünden, so ist das Recht auf deren Seite.

 

V. Preis und Nachfrage im Eventmanagement

Wie wir also gehört haben, sind Superstars auf dem roten Teppich, der bei so vielen Filmfestspielen wichtiger als die Filme geworden ist, keine Helden, sondern Repräsentanten der politischen Norm. Wer dann, außer den triumphierenden Sportlern, sind unsere Helden der Echtzeit? Philosophen gehen niemals über einen roten Teppich. Ihre Leistungen werden in unserer Zeit geringgeschätzt und wer heute im Internet die ägyptische Königin Nofretete googelt, wird neben dem Bild von ihr mit dem Werbebild der Tourismustreibenden konfrontiert: Zum Kunstwerk gehört außer der Betrachtung also noch die Reiseroute, die den Betrachter an jenen Ort bringt, an dem das Objekt steht. Kein Bild der Nofretete, ohne das Bild des Werbeträgers. Aus der Orwell’schen Hassstunde ist längst der Hasstag bei „Saturn“ geworden. Aufgrund eines einzigen Aufrufs auf Facebook kommen in London in kürzester Zeit zweitausend Terror-Partymacher in der noblen Park Lane zusammen, nachdem sie sich zuvor die Pillen eingeworfen und ihre Handys zum Live-Mitschnitt gezückt haben, um eine leerstehende Luxus-Immobilie derart zu demolieren, dass sogar das Dach einzustürzen droht. Die Terror-Party-Crasher kommentieren, sie hatten die geilste Party ihres Lebens, „die Polizei kann sie mal“, als diese sowieso nichts gegen sie unternehmen könne, ja, sie würden es jederzeit wieder tun. Und was die Eigentümer betrifft, kein Mitleid, die hätten ja genug und könnten sich etwas Neues kaufen. Wer ist da der Held? Wer ist da der Regelbrecher ? Ist der Super-Mega-Held der Netzwerk- und Telekommunikationsbetreiber? Darf Facebook den Rechtsstaat außer Kraft setzen und die Polizei lächerlich machen? Ist das das neue Aussehen des Faschismus, dass er nicht mehr in braunen Uniformen daherkommt, sondern anonym, auf Twitter und Facebook? Komasaufen kennen wir mittlerweile aus den Medien, aber Party-Terroristen, das ist jetzt wirklich etwas ganz Neues! Aber wenn man in einer im Internet veröffentlichten Hausarbeit über Leni Riefenstahl die Formulierung „Das Event-Management der Nationalsozialisten“ findet, muss gefragt werden, ob man einen modernen Kulturbegriff auf die Schreckenszeiten von damals übetragen kann? Oder kommt hier ans Tageslicht, was wir insgeheim schon länger fürchten: Das Event-Management ist autoritär, es spricht im Befehlston zu uns. Und auch die Werbung, die sich viele Jahre mit äußerster Raffinesse darum bemüht hat, das Interesse des Käufers zu wecken, kommandiert: “Trink das, iss das, mach dein Geschäft“ oder „Greift alle zu, greift hin und hinterher Hygiene-Gel antibakteriell“.

Sind bei internationalen Filmfestspielen vergebene Preise absolute, „auf die Ewigkeit abzielende“ Auszeichnungen oder sind sie kultur-politischen Strömungen in bestimmten Zeiteinheiten unterworfen? Haben wir es bei den künstlerischen Filmen mit formalen Produkten, bei den kommerziellen Produkten eher mit dem Schinkenspeck der Materie zu tun? Oder verhält es sich umgekehrt: Ist der Kunstfilm intellektueller Überbau und der Kommerz die Basis? Wie steht es in der Gegenwart um das Verhältnis von Inhalt und Form, wie hängen sie zusammen und was meint Robert Pfaller wenn er im Hinblick auf kulturelle Epochen von „Beleuchtungswandel“ spricht? Kümmert sich der Kunstfilm, der Anfang des europäischen Films wie die Brüder Lumière, um das Licht, während der kommerzielle Film mit dem Aufstellen der Lampen die Aufmerksamkeit des Betrachters dorthin lenkt, wo er sie haben will, so wie die Werbung auch auf die Ware hin beleuchtet? Wer ist wirklich „larger than life“, der Mega-Superstar des anfänglichen Hollywood-Kinos, Christoph Waltz, John Malkovich, George Clooney und Michael Jackson in einer Person oder ist es der „Blödmann“ der „Media Markt“-Werbung, „mein Hausverstand“ von „Billa“ oder das „Ja natürlich-Schweinchen Babe“? Seit in Deutschland ein Hund von einer ganzen Nation zum Supertalent gewählt wurde, wissen wir, alles ist möglich im Land der Flachkultur. Aber was ist ein Hund im Vergleich zu einem Putzmittel, das jeden Dreck verschwinden lässt und alles übertrumpft. Im „Actimel“-Werbespot zur Stärkung der Abwehrkräfte geht Herbert mit dem Tischstaubsauger gegen die Bakterien am Kopf seines Sohnes vor und schenkt dem Pizzaboten 50 Euro weil er mit den Bakterien auf dem Wechselgeld nicht in Berührung kommen will – mit Beleuchtung auf „Trink das, Herbert!“. Und in TV-Gewinn-Shows führt die Best-Preis-Frage, „denn auch heute können Sie bei uns 5000 Euro gewinnen“ zum Trumpf: „Was wird dem Verbrecher bei der Verhaftung umgelegt: eine Armbanduhr oder Handschellen?“.

 

VI. Größe und Großartiges

Hollywood-Kino ist emotionales Kino: Action-Filme, Filme über Angst und Schrecken, Crime-Filme und von Rachegelüsten genährte Vergeltungsfilmen, Filme über das Ende der Welt, Gewalt- und Folterkino, aber auch Filme von herzzerreißender Leidenschaft, Humor und Comedy sowie idyllische Filme für die ganze Familie: Harmonie und Eintracht, Lieblichkeit und Hilfsbereitschaft bis Gefühlskitsch auf höchster Ebene: Disney Feeling! Humphry Bogart, der mit dem einen Satz „Ich seh’ dir in die Augen, Kleines“ eine ganze Generation von weiblichen Kino-Zuseherinnen in die Ekstase unterdrückter Obsessionen trieb, war in den Fünfzigerjahren ein echtes Verkaufstalent. Er hatte dieses gewisse Etwas, diese Klasse, die einen echten Leinwand-Star ausmacht. Man hing an seinen Lippen und wollte alles von ihm wissen, seinerzeit vor der Präsenz des Fernsehens in den häuslichen Wohnzimmern. Wollte man einen Film sehen, musste man in die Heiligen Hallen des Lichtspieltheaters und was man dort zu sehen bekam, erschien wie die Offenbarung aus einer anderen Welt, einer Weltbühne, die man im wirklichen Leben nie betreten und kennenlernen könnte. Was man an Reichtum und Schönheit und Phantasie dort sah, war wie der Blick durchs Schlüsselloch ins Paradies. Was das Kino einem zeigte, vor allem die Wochenschau, das war die als wahr ausgegebene Realität, nahe der Sprache der Propaganda-Ära, aus der vor allem der Befehlston beibehalten wurde. Mit dem Wirtschaftswunder blühte auch das Image der schillernden Amerikanerin, die stets eine gute Mutter und eine wahrhaft Liebende ist, ansonsten aber auch mit dem Satz „Ich seh’ dir in die Augen, Kleines“ zufriedenzustellen wäre. Immer wenn es Krieg gab, wurden mit zuvor dafür hergestellten Waffen auch schon die passenden Filme produziert, über die Aufopferungsbereitschaft und den Stolz einer ganzen Generation darauf, für das Vaterland den Kopf hinzuhalten und für die Sache der Ehre zu fallen. Ein Erfolgsproduzent ist immer ganz nahe – nicht wie man denken würde, am Geschmack des einfachen Kinogehers, der dann in Summe die Kasse klingeln lässt – der Politik. Ist das Publikum ausgelaugt und hoffnungslos, heitert er es mit Komödien auf, aus dem ängstlichen Jungen, der auf der Flucht vor dem Leben ist, macht er Harry Potter. Und wenn die Nasa den Weltraumtourismus ausbauen möchte, sponsort Sony einen Science-Fiction Film, der nur noch am Mond und in der Kapsel spielt. Dagegen war das begeisternde „Raumschiff Enterprise“ wie das Comic eines kleinen Jungen, im Verhältnis zu den weltweit gesammelten GPS-Daten. Und wenn auf der Speisekarte der Glückseligkeit im Disney-Film für die ganze Familie der verlorene Sohn heimkehrt und das kleine Kitz aus Bambi seine Mutter sucht und sich das die Familie im Fernsehen ansieht weil Weihnachten ist, dann reicht das für ein weiteres Jahr, um die heile Familie als unangreifbar dastehen zu lassen. Wer das nicht mag, sucht seine Helden in den Sümpfen des Verbrechens und der Drogenkriminalität, will Blut fließen sehen wie bei den Menschenopferungen der Azteken. Diese verschwanden und mit ihnen ihre Kultur. Nicht der augenblickliche Stand der Kultur, der ja immer wechselnden Strömungen unterworfen bleibt, ist der Maßstab für die Kulturleistung eines Volkes. Vor allem ist unter Kultur die Bereitschaft zu verstehen, das über die Jahrhunderte Gewachsene durch gemeinsame Anstrengung zu bewahren. So kann auch das gegenwärtige Kino, sei es nun amerikanisch oder europäisch, immer seiner kulturellen Ursprünge bewusst bleiben. Hollywood zehrt heute noch vom Glanz und von der Glorie des Anfangs. Die Präsentation anderer Welten und Schicksale verdankt ihren grandiosen Erfolg dem Einschieben neuer Bildformate in die Sehgewohnheiten der Einzelnen. Das CinemaScope-Format lässt den Betrachter schrumpfen und macht ihn gleichzeitig bereit, das Gesehene als Maßstab der Realität überzubewerten. So wurden aus den Stars Stars in Übergrösse. Der passive Zuschauer, dem selten Gelegenheiten geboten werden, sich über sein eigenes Gefühlsleben derart viele Gedanken zu machen, steht übergroßen, handlungsfähigen Charakteren gegenüber, die im Bewußtsein der Betrachter auch cinemascope-große Bewunderung auslöst – so wie der passiv gehaltene Zwerg den heroischen Helden, den Feldherrn, den Sieger, den Kämpfer, den Schicksalsbezwinger bewundert.

Es sind die in den Anfängen des amerikanischen Kinos groß gewordenen Stars, zum Beispiel James Dean, der in „Denn Sie wissen nicht was sie tun“ mit einem einzigen Gefühlsausbruch, als er sich weinend und anklagend gegen seine gefühllosen Eltern erhebt, den Anfang der später kommenden Protestbewegungen einleitet: Unsere Gefühle werdet ihr uns nicht kaputt machen, wir werden uns wehren, so zu werden wie Ihr! Man denke an Marilyn Monroe, Charly Chaplin und Humphry Bogart, die uns heute noch glauben lassen, dass die in amerikanischen Filmen der Gegenwart spielenden Akteure ebenfalls Superstars sind. Sicher gibt es sie, die Blockbuster, in denen Helden wie Tom Cruise, Brad Pitt, Kevin Spacey, Russel Crowe siegen und bluten, aber ohne die Unschuld des anfänglichen Blickes. Weil CinemaScope zu einem Sendeformat unter vielen geworden ist, schrumpft gleichzeitig auch die Grösse der Stars. Zu viele gibt es, und auch jene, die es gibt, verschwinden schnell wieder. In unserem Zeitalter der Superstar-Sucht wird deutlich, womit ein VIP berühmt wird, bedarf keiner Legitimation. Auf wen sich die VIP-Papazzi-Kameras richten, ist so etwas wie ein Star, oft nur im Kleinformat, mitunter auch im Hand-Bildformat.
Große Kinofilme herzustellen verschlingt Unsummen von Geld. Welche Filme wir zu sehen bekommen, entscheiden seit den Anfängen des Kinos die großen Produktionsstudios in den USA und in Europa. Sie tragen die Kosten und sichern die Arbeitsplätze der Filmindustrie. Die Ware Film muss auf den Markt gebracht werden um dort den Rückfluss des ausgegebenen Kapitals zu sichern. Daher ist das Hauptanliegen der Produzenten, Filme zu produzieren, die so vielen wie möglich gefallen, präzise gesagt, Filme für die Masse herzustellen. Wobei der Begriff des Massengeschmacks heute ein anderer ist als zum Beispiel in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Das nicht, weil sich die Absichten des Kinos geändert haben, sondern vielmehr die Sruktur der Masse im Sinne von bespielbarer und zu unterhaltender Öffentlichkeit. Die großen amerikanischen Produktionsstudios, im deutschsprachigen Raum die UFA, Bavaria und Wienfilm, haben es uns vorgemacht: Kino dient der Zerstreuung und Unterhaltung. “Wer arbeitet, soll auch essen!“ heißt in den Bereichen der Unterhaltungsindustrie “Wer arbeitet, muss sich auch vergnügen! Brot und Spiele für das Volk!“. Aber wie gelingt es den Firmenbossen, Kassenschlager zu produzieren, die den Geschmack und die Neugierde aller befriedigen, wo man doch weiß, dass es ein Ding der Unmöglichkeit ist, allen zu gefallen, geschweige denn, von allen geliebt zu werden. Irgendetwas, wohl „das gewisse Etwas“, muss für ihren Erfolg ausschlaggebend sein um die Ware an den Mann, an die Frau zu bringen: Erschaffe Göttinnen aus einfachen Frauen, aus Durchschnittsmännern erzeuge Superhelden ohne Gewissen, dann lass die zwei zusammen kommen, alle Tabus fallen und sorge dafür, dass der Bösewicht am Ende nicht gefasst wird, oder umgekehrt – ist das ein Erfolgsrezept? Eines steht fest, am Ende braucht die Story ein Happy End: Kriege werden gewonnen, Ertrinkende gerettet, Einsame getröstet, der Schatz geborgen, das entscheidende Match wider Erwarten gewonnen.

VII. Gefühlsregungen und Erfolge

Die Boulvard- und VIP-Medien sehen sich unter dem Ansturm immer größerer Gefühle in der Kino- und Fernsehbranche, vor allem jedoch in bezug zur Werbung genötigt, zwischen einem Kino der großen Gefühle und den Gefühlen des gigantischen Kinos des Anfangs zu unterscheiden. Man denke an die Szene aus „Panzerkreuzer Potemkin“, an den alle den Atem anhalten lassenden Augenblick, in dem der Kinderwagen die Stufen hinuntergleitet – ein schwer aus dem Unterbewusstsein zu löschendes Bild. In unserer sogenannten Echtzeit aber überschwemmen die Bilder in einer solchen Häufigkeit unser Bewußtsein, dass uns die Bildinhalte, zur Beliebigkeit verurteilt, als Belästigung erscheinen. Die sogenannten gigantischen Filme, „Vom Winde verweht“, „Ben Hur“, „Doktor Schiwago“, „Lawrence von Arabien“, sowie die Tramper und Camperfilme und nicht zu vergessen, „Sound of Music“, sie waren als die Schienen des Hollywood-Kinos verlegt und diese werden auch heute noch unter anderen Oberbegriffen mit denselben Interessen befahren: Wirklichkeiten vorzumachen, Trends zu setzen, Geld zu scheffeln. Produziert wird der Erfolg und wir erinnern uns noch alle, wie diese Filme eine Art Bewusstseins-Spur in unserem kollektiven Unterbewußtsein hinterlassen und wie diese Helden der Vorzeit uns noch immer beeinflussen, weil es eben so große Gefühle und Large-Pictures waren, die sie uns vorgeführt wurden. Schon die Anfangssignation, die aufwühlende Musik und das alles überstrahlende Studiologo präsentierten sich so eindringlich, dass man sich sofort auf den Film freuten konnte: Man war in guten, man war in starken Händen, man durfte in eine andere Welt eintreten, man wurde vom Tellerwäscher zum Millionär, einfach so, durch die Gunst der Stunde, die sich einmal den und dann einen anderen herausgreift, um ihn zu beglücken. MGM und Metro Goldwyn Meyer Studios stellten in ihren Anfängen einen Film her, der in schwarz-weiß wohl die Verdoppelung und Verdreifachung ihres Kraftpotentials darstellen sollte. Es war eine einfache Geschichte: Eine junge tatkräftige Tierpflegerin ist mit der Sorge um zwei Löwen, von denen einer gutmütig, Cäsar, einer aber äußerst gefährlich und böse ist. Als Gegenspieler der Tierpflegerin dient der Charakter eines korrumpierbaren Bürgermeisterkandidaten, der letzten Endes den einlaufenden Nero, den er für Cäsar hält, rettet und damit die Gefahr für seine Stadt abwendet. Dies läutert ihn auch innerlich so sehr, dass er beschließt, von nun an nur noch ein guter und wahrhaftiger Mensch zu sein. Den ganzen Film über sehen die Zuschauer die Symbole der Kraft durch das Bild laufen, und selbst bei strittigen moralischen Fragen sind es die Löwen, die durch ihr kräftiges Auf- und Ab-Springen am meisten interessieren, irritieren und vom eigentlichen Thema ablenken. Ist nicht nur dem traditionellen Kunstwerk der bildenden Kultur, wie es Walter Benjamin formulierte, die Aura, das Eingebettetsein in den zweckfreien, universellen Raum abhanden gekommen, sondern gilt das auch für das große Kino und die gigantischen CinemaScope-Filme? Ist ihnen die Aura verloren gegangen, bei ihrem Eintritt in die Erdatmossphäre, in die Welt der gefühlsarmen Sachlichkeit und den bedeutungsarmen Narzißmus? Im Kino der Anfänge mögen die Charaktere sehr überhöht und dramatisch aufgeladen miteinander umgegangen sein, sie gingen miteinander um. Heute müssen sie, oberflächlich betrachtet, nur noch aussehen wie Superhelden in Übergröße, monströs und wie die Löwen von Metro Golwyn Meyer über die Bildfläche laufen, sie sind stärker als die anderen. In einer narzisstischen Leitkultur ist man mit Bertolt Brecht geneigt zu fürchten: “Wenn die Tiger trinkend sich im Wasser erblicken, werden sie oft gefährlich.“
1935 gewinnt Leni Riefenstahl bei den IFF in Venedig für ihren Film „Olympia“ die Goldmedaille. Riefenstahl, die ihrer Reichsparteitag-Filme wegen heftig angegriffen wurde, will von allem nichts gewusst haben und ausschließlich der ästhetischen Maxime gefolgt sein. Ihr sei es immer nur um die Form gegangen, nicht um den Inhalt. So erfährt sie im weiteren aufgrund ihrer Filmtechniken von den Amerikanern große Aufmerksamkeit. Sie war es, die in „Olympia“ die Schienen-Kamera-Fahrten eingeführt hat, sie ist es, die als die Erfinderin der Großaufnahme gilt, die jede Gefühlsregung deutlich macht. Manche Zuseher entschuldigen sie auch heute noch, indem sie behaupten, Leni Riefenstahl könne nichts für den Fanatismus auf den Gesichtern ihrer Darsteller, sie hätten diesen fanatischen Ausdruck schon vor der Filmaufnahme gezeigt. Sicher ist, Riefenstahl hat Hitler zu einer Figur „larger than life“ hochstilisiert. „Larger than life“, eine Maxime, der das einstige wie heutige Helden-Kino von Hollywood gerecht wird. Obgleich und zurecht als Propagandafilmerin entlarvt, wird sie dennoch nach dem Krieg von Henry Ford, Charly Chaplin und Walt Disney willkommen geheißen. Offensichtlich hoffte man, von ihr einiges für das Hollywood-Kino lernen zu können. Gelernt hat man die narzistische Körperkultur, den späteren Body-Builder-Wahn, das sportliche Denken in politischen Fragen und vor allem, die gefühlsverzerrenden und gefühlsverherrlichenden Großaufnahmen, die ihre Wirkung nicht verfehlen sollen. Noch im Alter stilisiert sich Riefenstahl als das naive Mädchen, das immer nur das Gute sah. Hitlers „böse und dämonische Seite“ habe sie im realen Kontakt mit ihm niemals wahrgenommen. Ihr sei es immer nur um die vollkommene Ästhetik, die wahre Filmkunst gegangen, sagt sie, die unter einem extrem autoritären Vater gelitten hat und als junge Frau vergewaltigt wurde. Sexualität sei in ihrem Leben niemals von großer Bedeutung gewesen. Gegen Ende ihres langen Lebens trat sie der Organisation „Greenpeace“ bei.

Pabst, dem kein Mega-Erfolg in den USA gelang, kehrte nach Europa zurück und drehte vorerst in Frankreich. Als er vom Kriegsausbruch, bei einem Familienbesuch in Österreich am zweiten September 1939 überrascht wurde, hatte er für den achten September bereits seine Rückfahrt in die USA gebucht. Doch daraus wurde nichts: Nachdem auch eine geplante Ausreise über Frankreich misslingt, entschließt sich Pabst in Deutschland zu bleiben. Er dreht in der Ära des deutsch-nationalen Propagandafilms Filme für die Bavaria, ein Umstand, der ihn bei vielen als „Nazi–Überläufer“ dastehen ließ, obgleich gegen ihn in dieser Zeit eine Beschwerde bekannt wurde, in der man festhielt, dass die von Regisseur Pabst gezeigte Kooperationshaltung zu wünschen übrig ließe. Tatsächlich hatte sich Pabst mit dem Vor-Sich-Herschieben mehrerer Filmprojekte, einiger Filmaufträge entledigen können. Lang, der zuvor Die Nibelungen verfilmt hatte, wurde von einem begeisterten Fan, der ihn offensichtlich missverstand, die Leitung der deutschen Propagandafilmwirtschaft angeboten. Lang erbittet sich Bedenkzeit und flieht in der darauffolgenden Nacht nach England und schließlich in die USA. Pabst gerät 1929 das erste Mal in die Fänge des nationalsozialistischen Filmschaffens. Er wird in Zusammenhang mit der Schauspielerführung der Spielszenen für den Film „Die weiße Hölle vom Piz Palü“, für den auch Leni Riefenstahl tätig war, engagiert, doch die Zusammenarbeit verläuft problematisch. Um „Die weiße Hölle vom Piz Palü“ geht es auch in einem anderen Film, der das Kino in Frankreich, in dem dieser Film läuft, zum zentralen Plot-Point macht: Tarantinos „InglouriousBasterds“ – vom DVD Handel zum besten Film des Jahres 2009 erklärt. Immer schon knüpfen sich rund um das Filmschaffen Preise und Auszeichnungen, dennoch wird man in der Echtzeit den Verdacht nicht los, das sich eine Art von Preiskultur entwickelt, in der es nur noch um die Best-Preis-Garantie geht, welche die Substanz der Filme dahinter völlig verblassen lässt.Als Waltz vor Jahren für seine Darstellung des Schlagersängers Roy Black von der Deutschen Film Branche ausgezeichnet wurde ahnte noch niemand, dass hier ein zukünftiger Golden Globe und Oscar-Gewinner ausgezeichnet wurde. An Erfolge in solchen Größenordnungen war damals noch nicht zu denken. Nun sind sie heimgekehrt, unsere Gewinner und mit ihnen der Pokal. Wir gratulieren Waltz und Haneke, den Gewinnern, denn wir freuen uns, so wie wir uns auch freuen, wenn sich die österreichischen Ski-Adler als wahre Überflieger erweisen. Das Publikum liebt sie, wie sie einst Laurel and Hardy, Dick und Doof, die zwei Spaßkanonen liebten und auf deren Impulse heute ganz Europa an Comedy-Formaten herumbastelt, um aus der Comedy-Schiene auch einen Waggon großer Gefühle zu garantieren. Und nebenbei lässt Mario Barth in einem Stadion als Allein-Entertainer gigantische Gefühle aufkommen.

Zunächst aber zu den Anfängen: Das industrielle amerikanische Kino und das europäische Kino haben gemeinsame Wurzeln, da man die Impressionisten und Expressionisten der europäischen Kunstgeschichte als die wahren Vorbereiter des Stummfilms erachten kann. Mit den europäischen Impressionisten kam, wie es in der gegenwärtigen Museumspolitik formuliert wird, das Licht auf die Leinwand, als man sich weigerte, in den verstaubten Ateliers eine fiktionale Landschaft im Sommer zu malen, sondern stattdessen hinausging, um das Tatsächliche an Ort und Stelle, im Lichte der Wahrheit des Augenblickes zu malen, wobei ein bislang kaum beachteter Unterschied in der Einstellung der Malenden deutlich wurde. Sie waren nicht länger die absoluten Herren ihrer Fiktion, nein, plötzlich gab es da ein drittes, ein tatsächliches Sein, außerhalb des Malers, dem zu entsprechen die Pflicht eines impressionistischen Malers zu sein schien: Die Welt, die im Auge des Betrachters nur sichtbar wird, wenn das Licht darauf fällt, momentan und dennoch im Sinne des deutschen Idealismus als objektive Welt darzustellen. Der amerikanische Impressionismus darf historisch gesehen wohl nur als eine formale Wiederbelebung des europäischen Impressionismus gesehen werden. Oberflächlich ähnelt die Struktur der Malweise der Malweise europäischer Impressionisten, man wird aber als Betrachter den Eindruck nicht los, dass man sich zwar bemühte, es den amerianischen Impressionisten jedoch nicht wirklich gelang, das Momentane des Lichts zu erfassen. Deswegen gibt es im amerikanischen Impressionismus kein Gemälde wie zum Beispiel „Die Seerosen“ von Monet, das von einigen Sachverständigen als erstes abstraktes Bild eingestuft wird. Die Impressionisten als die ersten Modernen führen eine, wenn auch anfangs nur auf die Wahrheit des Sehens bezogene, Instanz für Wahrheit an einem von der Vorstellungskraft des Malers unabhängigen Ort ein: Wenn Monet seine Seerosen nicht so gemalt hätte, wären sie in diesem Augenblick der Betrachtung dennoch so zu sehen gewesen sein.

Mit der Erfindung der Fotografie kommt das Licht auf den Film. Die Brüder Lumière haben mit ihren bewegten Bildern aus den Impressionisten Filmkünstler gemacht. Künstler auf den Spuren einer außerhalb ihrer selbst unverrückbar dastehenden Welt-Wahrheit. Als gäbe es ein außerhalb unserer Einschätzung liegendes Leben, das einfach objektiv nur wahr ist, ob man es betrachtet oder nicht: Das gute Leben, das wahre Leben, das echte Leben. Es bedarf schon der Auseinandersetzung mit der europäischen Geistesgeschichte, um nicht an der eigenen Identität, des von Selbsttäuschung und Selbstzweifeln geplagten europäischen Zweiflers, aus der vielfach verschlungenen Pfaden des Nachdenkens über das Denken, zu einem klaren Ich- und Weltbild zu gelangen. Hier wird dann auch ohne große Sentimentalität die Schere zwischen künstlerischem und kommerziellem Film angelegt, wie auch zwischen fiktionalem, sogenanntem großen Gefühlskino und dem Dokumentarfilm, dem der Anspruch, nach den darunter und dahinterliegenden Wahrheiten zu suchen, zugestanden wird. Die Verantwortlichen wissen, die Wahrheit, welcher Art auch immer, von wem auch immer formuliert, ist karg und trocken, es ist kein besonderer Genuss, sie zu sich zu nehmen. Das fiktionale Kino erhebt keinen Anspruch auf Wahrheit, es will unterhalten, unser Bewusstsein durcheinander schütteln, wie Magritte seine fallenden Häuser auf einem der berühmtesten Werke des Surrealismus. Es sind die Impulse der Surrealisten, die nach den Impressionisten den anfänglichen Blick auf die abbildbare Welt erneuerten: Eine Rose ist ein Pferd, ein Pferd eine Eisenbahn. Wer „Ein andalusischer Hund“ von Dali und Bunuel gesehen hat, hat verstanden, dass das fiktionale Kino surrealistischer Prägung, vergleichbar dem von Bunuel und Dali provokant inszenierten Schnitt der Rasierklinge durch das Auge, beim Publikum Empörung, Aufruhr und Hass auslöste. Auf diese Bildsprache reagierte das Publikum mit heftigen und großen Gefühlen, jedoch mit unkommerziellen Gefühlen, denn das Publikum möchte von sich selbst abgelenkt werden. Seitdem ist es das gute Recht jedes Produzenten, nur das zu produzieren, was zum Zustandekommen des Vergnügens dient. Für die Darsteller wahrer Unanehmlichkeiten gibt es Türsteher, die ihnen den Eintritt in die große Branche verwehren. Weltweit sind die Interessen der Politiker jenen der Filmschaffenden zur Seite gestellt, um zu verzaubern, worauf bereits ein Fluch liegt.

 

VIII. Wie weit lässt es sich gehen

Die Anfänge des amerikanischen Kinos haben das einzige wahre Stummfilmgenie in Charlie Chaplin gefunden, ein vollkommen autonomer Künstler, der wie ein Surrealist mit den Dingen der Welt umging, autonom und eigentlich nur mit Picasso, dem ewigen Kind der Kunst, vergleichbar. Auch das europäische Kino verdankt in seinen Anfängen ebenfalls dem Stummfilm alles: Fritz Lang, Pabst, Murnau und Dreyer. Während die großen Studios in Deutschland gegen Ende des zweiten Weltkrieges ausschließlich auf den Propagandafilm eingeschworen waren, gab es in Deutschland Künstler und Künstlerinnen vor allem in der bildenden Kunst, die die Schrecken des Kommenden schon am Horizont aufsteigen sahen. Die expressionistischen Maler mussten am eigenen Leben erfahren, was es bedeutet, als „entartet“ zu gelten, hilflos daneben zu stehen, wenn Staatsbeauftragte in den Galerien die Bilder von den Wänden nahmen, um sie an einem geeigneten Ort dem Feuertod zuzuführen: Hiermit übergebe ich den Flammen die Schriften von Sigmund Freud und Bilder von Otto Dix, Ludwig Kirchner und Käthe Kollwitz, die, statt ihrer Bestimmung, sich um Mann und Kind zu kümmern, sich mit der Darstellung von „Abscheulichkeiten und Widerlichkeiten“ abgibt.

Wir müssen uns erneut die Frage stellen, warum gerade eine Richtung der Malerei, der Expressionismus, die den Menschen als duldendes und leidendes Wesen zeigt, von den Wirren des letzten Jahrhunderts physisch an den Rand getrieben, die Nationalsozialisten zu solchen Schritten führte. War es wirklich nur der Blick auf das Elend der Unteren, auf das allgemeine Elend der Welt oder war es der Verzicht auf die Perspektive, der den Skandal auslöste? Hier ging es nicht so sehr wie in unserer Zeit darum, dass die Dargestellten in ihrem In-Sich-Kauern beim Verzweifeln hässlich aussahen, sondern der alleinige Umstand, dass sie litten, machte sie verdächtig. Es gibt in unserer Welt kein Leid, keine Tragödien: Wer leidet und dieses Leid nach außen trägt, ist ein politischer Provokateur in einem System, das das Ideale, die Idylle und das Heil, die Größe und Übergröße propagiert. Wer seine negativen Gefühle nach außen trägt, ist ein Zersetzer der Volksgesundheit. So wurde es damals formuliert. Und heute: Auf den Werbeflächen der Gewista in den U-Bahn-Stationen Wiens steht folgendes: „Ein einziger Grantscherben kann eine ganze Station verseuchen!“ – Wieso sind die Wiener Linien und Gewista der Maßstab für mein Empfinden, was haben die Wiener Verkehrsbetriebe mit meinem Gefühlsleben zu tun und warum ist meine Stimmung nebst der Schweinegrippe ansteckend? Die Verkehrsbetriebe erklären sich selbst: „Wir möchten, dass sie sich hier wohl fühlen. Wenn sie Hilfe brauchen, wenden Sie sich an unser Stations-Team.“ Und weiters, „Achten Sie auf äußerste Sauberkeit in den Stationen.“ Diese unerbittlichen Wiederholungen haben den unangenehmen Beigeschmack eines verhaltenstherapeutischen Experiments, in dem neue Verhaltensregeln hinauf-hypnotisiert werden oder ist das die von Robert Pfaller formulierte „Quälsucht“ der Herrschenden gegen das Volk?
Dem europäischen Stummfilm ist die ausdrucksbetonte Darstellung seelischer Schicksale ein Anliegen. Der Stummfilm dieser Zeit benützt die Darstellung der Gefühlszustände um die Zuschauer aufzuwecken. Nicht in eine Scheinwelt zum Zwecke des Vergnügens soll sich der Zuschauer begeben, sondern vielmehr in die Auseinandersetzung mit sich selbst, eingebettet in die Spanne „Leben und Tod“, um neue Impulse, sich selbst und nicht nur die Identifikation als narzisstische Spiegelung zu suchen. Der Stummfilm versucht durch Überhöhung des Ausdrucks, durch überdimensionale Ausdrucksbewegungen den fehlenden Ton zu kompensieren. So ist ein Darsteller in sich selbst zusammengekauert, andere wieder ringen die Hände zum Himmel oder grimassieren wild, wie die Darsteller auf der Bildfläche eines expressionistischen Holzschnittes. Diese Überhöhung des Ausdrucks erregt auch das Interesse amerikanischer Produzenten, diese setzen sie aber anders ein als in Europa. Lang, Murnau, Pabst, sie alle sollen nach Hollywood kommen und an der Erstellung neuer Drehbücher und Filme mitarbeiten.

Noch vor dem von Pabst 1931 gedrehten Film „Kameradschaft“ für den er 1932 den Preis des Völkerbundes für „Annäherung der Völker“ erhält, welcher von der deutschen Reichspresse angefeindet wird, stellt er 1926 „Geheimnisse einer Seele“ fertig. Dieser psychoanalytische Film will den Betrachter tief in seine eigenen Bewusstseinsschablonen führen. Er ist abgesehen von dem engen Korsett des psychoanalytischen Behandlungspragmatismus des Doktor Freud, was die Intention der Kameraarbeit speziell in den Traumsszenen betrifft, in seiner Kameraführung und Schnitttechnik ein radikal modernes Filmwerk. Es macht den Zuschauer zum Verantwortlichen seiner Wahrnehmung, in der Absicht, zum ganzheitlichen Verständnis seiner Bewusstseinszustände zu gelangen. 1928 schließen sich Pabst, Heinrich Mann, Käthe Kollwitz, Kurt Tucholsky und andere Künstler und Intellektuelle zum vorerst eher links gerichteten, politisch dennoch neutralen „Volksverband“ zusammen. Auf die Frage, wie weit eine Satire gehen könne, soll Tucholsky geantwortet haben, „eine Satire könne niemals zu weit gehen!“ – im Angesicht des Umstandes, dass Tucholsky bei Aufkommen des Nationalsozialismus Selbstmord beging, eine tragische Aussage.

In „IngloriousBasterds“ wird aus einer Zusammenarbeit von Leni Riefenstahl mit Pabst der Main-Plot gestrickt: In jenem Kino, das zum Ort des Höllenfeuers und der Ausräucherung, zum Vernichtungsschlag gegen die gesamte Nazigesellschaft inklusive Hitler und Goebbels wird, muss zu Beginn der Episode der Vorspann des dort gezeigten Bergdramas „Die weiße Hölle vom Piz Palü“ von Pabst abgebrochen werden und für die Hitlerpremiere mit Soldat Zoller Platz machen. Der heutigen Jugend, die in ihrem Geschichtsunterricht wenig oder teilweise noch gar nicht bis zum zweiten Weltkrieg informiert wurde, entsteht beim Betrachten dieser Szene der Eindruck, Pabst, der ihnen wohl kaum bekannt ist, war ein Nazi und auch wie Riefenstahl im Dienste der Reichstagspropaganda tätig. Gut, könnte man sagen, hier wird wenigstens auf die tragende Rolle des Films als Massenverführungsmedium hingewiesen. Die Schuldigen sind gefunden, das Propagandasystem enttarnt. Forscht man jedoch in der Biografie des Filmregisseurs Pabst, so sind Pabst und Riefenstahl gewiss nicht, wie es Tarantino leichtfertig macht, in einen Topf zu werfen. 1925 hat der Pabst Film „Die freudlose Gasse“ Uraufführung. Es ist ein Filmstoff, der sich mit den Auswirkungen der Inflation auseinandersetzt und sich mit der ausufernden Verschwendungs-, Sex- und Vergnügungssucht der immer noch Reichen, sowie mit der Verelendung und dem Absturz der immer ärmer werdenden Armen beschäftigt. Der Film verarbeitet einen Zeitschrift-Roman des österreichischen Autors Hugo Bettauer, der von einem Rechtsradikalen erstochen wurde. Der Film wurde von der Zensur mehrfach umgeschnitten, Szenen wurden gänzlich entfernt, in England wurde der Film sogar verboten. Filmhistoriker stellen fest, dass Pabst in diesem Film von der expressionistischen Filmsprache, mit der ihr immanenten Symbolik, zu einer Filmsprache, die als „neue Sachlichkeit“ bezeichnet wird, gefunden hat. Dieser Filmsprache wird die Verbindung von dokumentarischen und fiktionalen Elementen als Charakteristikum zugeordenet.

Auch der Schauspieler Daniel Brühl, einer der Haupdarsteller in „IngloriousBasterds“ (Universal) , gibt in einem 3-sat-Interview folgende Stellungnahme ab: „Im Film ginge es um keine moralischen Festmachungen, weil das Kino nicht die Aufgabe habe, moralisch zu sein. Ob die Handlung moralisch oder unmoralisch sei, spielt keine Rolle. Wir machen Fiktion und nicht eine Dokumentation über eine historische Begebenheit. In der Fiktion ist alles erlaubt. Wir haben in diesem Film die Geschichte als Fiktion verändert. Da machen Leute, was sie in Wirklichkeit nie getan haben, treffen auf Leute, die sie niemals getroffen haben, erleben Situationen, die sie niemals erlebt haben. In unserer Fiktion nimmt die Geschichte eben eine andere Wendung. Das ist die Freiheit der Fiktion. In unserem Film gibt es eben kein Entkommen für das Regime.“ – Noch klingen manchen die Erinnerung an Rudi Dutschkes Formulierung über das Selbstbewusstsein der Bewegung in den Ohren nach: “Wir sind keine Fantasten, wir werden die Welt verändern.“ Und wir müssen an Obamas „Yeswecan“ denken. Aber ist die Veränderung zum Guten in einer Gesellschaft, die darauf besteht, in ihrer Freiheit keine Moral zu kennen, nicht gefährlich? Denn was im Dritten Reich als volksbildend und die Sittlichkeit fördernd gegolten hat, damit wollen wir heute nicht mehr konfrontiert sein. Oder verhält es sich, wie die österreichische Bundespräsidentschaftskandidatin zum NS-Verbotsgesetz in der U-Bahn-Zeitung „Heute“ zitiert wird, derart: „Es müssen auch absurde, skurrile, verächtliche, abstoßende Meinungsäußerungen möglich sein.“? Ist es dem Film „IngloriousBasterds“, der als bissige Satire über sich hinausschießen möchte, also gelungen, innerhalb der für sich beanspruchten Sphäre der Fiktion dem Lauf der Geschichte eine andere entgegenzusetzen? Was man zu sehen bekommt ist eine andere Variante von „Wer nicht hören will, muss fühlen“. Auf beiden Seiten des Krieges stehen einander die gleichen Charaktere, die das Unrecht mit Gewalt ausmerzen, mit der selben Brutalität, der selben Folterlust, mit demselben Hass und Hohn, gegenüber. Eben der gewohnte Verlauf der Geschichte.

 

IX. Was sich gehört

1928 dreht Papst den Film „Tagebuch einer Verlorenen“, in dem die Schauspielerin Louise Brooks die Geschichte eines Mädchens verkörpert, das vergewaltigt und in eine strenge Anstalt für gefallene Mädchen gesteckt wird, in einem Edelbordell landet und schließlich durch eine Vernunftehe geadelt wird. Auf Antrag der preußischen Regierung wird dem Film mit der Begründung, es handle sich um ein entsittlichendes, Volks- und Jugend gefährdendes Werk, die Aufführungsgenehmigung wieder entzogen. Die „Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundheit und innere Mission“ bescheinigt in einem ausführlichen Protokoll seine Entscheidung: Die entsittlichende Wirkung gehe nicht von nur von einzelnen Passagen sondern von seiner gesamten inneren Haltung aus. Die Kommission stellt ihre gegen das Werk gerichteten Vorwürfe noch deutlicher in den dem Urteil beigelegten Szenen- und Bildanalysen dar: „Durch die plumpe wie krasse [man höre und staune, als gerade dieses Wort in den letzten Jahren zu einem Lieblingsausdruck der Anti-Kultursprache der Jugendkultur wurde] Gegenüberstellung der abstoßenden Bilder in der Erziehungsanstalt werden Verhältnisse gezeigt, die wohl nur in der Fantasie der Hersteller existieren.“ Die sittliche Gefährdung ginge des weiteren besonders durch die Figur „der gutmütigen, mütterlich sorgenden Bordellinhaberin aus, die gegenüber der sadistischen Rohheit der Erzieher fast sympathisch anmute.“ Entsittlichende Wirkung findet sich auch dort, wo die Engelmacherin „unter Streicheln und mit freundlichen Blicken den Packen Geldscheine lächelnd an sich nimmt [...] und der Empfang des Geldes gezeigt wird“.

Zwar ist Hitler als Maler und Zeichner an der Kunstakademie nicht aufgenommen worden, aber offensichtlich wurde die Idee des Zeichnens (Entwerfen, Vergrößern) hier in die Bereiche der Filmkunst übertragen. Wie in der gesamten nationalsozialistischen Kunst zielt auch hier der Entwurf auf die erzieherische Arbeit, den Blick des Betrachters von der unsittlichen Empfindung auf die Höhe des gereinigten Ideals zu lenken. Schmutz, Dreck und Schweinerei werden, wie in allen Anal-Kulturen, einander entgegengesetzt, wobei, wie Robert Pfaller ausführlich beschreibt, durch die Reaktionsbildung, das zwanghafte Zurückdrängen des „Schmutzes“, in der Abwehr dennoch eine lustbetonte Beschäftigung mit dem Inhalt des Verdrängten möglich wird. Anna Freud hebt in ihrem Text „Das Ich und die Abwehrmechanismen“ neben dem Verdrängungsmechanismus der Reaktionsbildung auch noch die Mechanismen der Rationalisierung, Isolierung, Verkehrung ins Gegenteil und den Mechanismus der Außenprojektion hervor. Bei letzterem wird ein Außenstehender zum Sündenbock gemacht, nach dem Motto „Ich selbst sündige nie, aber der andere (der ‚Untermensch’ im Kontrast zum Über-Ich, zum Ideal) schon.“ So wird die Mutter zur unbefleckten Heiligen erklärt, während die Dirne, als Personifizierung des Schmutzes angeprangert wird. Dass sich die Führungsspitze der Nationalsozialisten bei ihrem Auftreten in Nachtlokalen in Paris gerne von „gefallenen Mädchen“ begleiten ließ, ist mehrfach dokumentiert. Dafür bedurfte es jedoch keiner Rechtfertigung, denn es waren keine deutschen Mütter, sondern die „Vertreterinnen niedriger Rassen, die eine solche Behandlung aufgrund ihrer Verabscheuungswürdigkeit nur verdienten“. Wurde im Protokoll der preußischen Regierung noch von „Anreiz zum Leichtsinn“ und von „Preisgabe und Verzicht auf Moral“ gesprochen, so galt dies selbstverständlich nicht für die Führungsspitze, solange sie die nationalsozialistischen Propaganda-Ideale glaubwürdig unter das Volk brachten. Daher galt es vor allem zu verhindern, dass das Elternhaus „als sittlich vergiftete Atmosphäre“ dargestellt wurde. Was das Preußische Protokoll betrifft, so sollte abschließend die Aufmerksamkeit auf die Erwähnung jener „schändlichen Szene“, in der dem Mädchen „für ihre Dienste ein Patzen Geld ausgehändigt wird“ gerichtet werden. Fast scheint es, als würde hier das sichtbare Geld selbst zum Obszönen erklärt werden. Das Verbergen der Sichtbarkeit der realen Geldwirtschaft und den damit verbundenen Interessen ist auch in unseren Tagen, wie es uns die Finanzkrise gelehrt hat, im Interesse der Politik und Unterhaltungsindustrie.

Das im Nationalsozialismus angepriesene Ideal der reinen, glücklichen, strebsamen Familie, die sich in den Mußestunden nach fröhlich getanem Tagwerk in Würde und Gemütlichkeit in einem ordentlichen und sauberen Haushalt zusammenfindet, um vereint, froh und glücklich zu sein, kann man als bislang niemals erreichte Utopie auffassen. Vielmehr ging es den Nationalsozialisten um die Familie als menschliche Reproduktionsstätte, die dem Regime eine hohe Zahl kampffähiger junger Männer bescheren sollte. Dafür war man bereit, das menschliche Rohmaterial, die Söhne und Väter aus ihrem so hoch gepriesenen Familienverband zu reißen. Und wir wissen, es waren Tausende, die auf den Schlachtfeldern vergessen wurden. Der den Müttern, den anständigen Frauen, zugewiesene Platz im Haus und am Herd, wurde ausgeweitet, denn nun mussten auch die Frauen und Mütter in die Waffen-und Munitionsfabriken, um dem „unvermeidbaren Kampf“ zum Sieg zu verhelfen. Man rief: Arbeitsplätze; Arbeit macht frei; und rettet die, die gar nichts haben, aus ihrer materiellen Not. Da es, wie heute auch, so viele in wirtschaftlicher Not gab, war die Begeisterung und Akzeptanz für das Hitler-Regiment als Job-Vermittlungsbörse, Arbeitsplatzschaffer und „Retter aus der Not“ groß. So ist es keine Überraschung, dass auch heute noch der wirtschaftliche Niedergang mit dem Aufschwung des Rechtspopulismus eng verbunden ist. Dies gilt jedoch nur, solange es gelingt, die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen nur auf die Konsumsphäre zu projizieren, während man in den Bereichen der realen Arbeit die Kontrolle und unmündige Abhängigkeit zum Maßstab unvermeidbarer Arbeitsmoral macht. Was früher zum Verhängnis des Gretchens im Faust wurde, das „und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt“, gilt heute weniger für die Sexualität als vielmehr für den Arbeitsmarkt. Dass der Familie als soziale, emotionale und wirtschaftliche Einheit auch in den westlichen Demokratien unserer Zeit die wesentliche staatstragende Funktion zukommt, ist in einem System der Rechtsstaatlichkeit selbstverständlich und per se nicht in Frage zu stellen, obgleich sie durch den Prozess der Entsubjektivierung des Einzelnen zugunsten der Massenkonsumgesellschaft und der zunehmenden Verlagerung des Privaten in die Kommunikationssphäre des öffentlichen Raumes als Institution geschwächt worden ist. Dies kann anhand der niedrigen Geburtenrate, der ständig wachsenden Zahl der als Single Lebenden, der immer größeren Zahl an Patchwork-Familien leicht verdeutlicht werden.

 

X. Kompetenzen

Robert Pfaller bedauert in seinen Ausführungen zur Gegenwartskultur („Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft“), dass in der bi-polaren Logik – im Unterschied zur Hegelschen Begriffsbildung, in der der Begriff als geschichtlich zu denkender Prozess verstanden wird, und nur jeweils im Augenblick zu sich kommen kann – dass die Akteure der Reality-Shows keine Vorbildmodelle liefern können, verglichen mit den Vorbildmodellen am Anfang des Hollywoodkinos. Auch sei der Umgang mit diesen Charakteren repressiv geregelt, in dem Sinne, als die Vorzeigemodelle in für die Normen der Leistungsgesellschaft nicht erstrebenswerten Positionen am Rande der Gesellschaft sich zwar privat präsentieren können, aber niemals als Weltbürger frei und persönlich ihre Meinung vertreten können. Dies ist ein schöner, aber auch sehr idealistischer Gedanke. Anzunehmen, dass ein Harz IV-Empfänger, wenn man ihn nur ließe, mit dem Selbstbewusstsein eines Philosophen und mit der Sprachfülle eines Literaten als stellungbeziehender Weltbürger vor die Weltöffentlichkeit treten und sagen könnte, „was Sache ist“, darf wohl nur als Bildungsutopie aufgefasst werden. In den bildungspolitischen Zielen der westlichen Industrienationen geht es meistens um wirtschaftliche, narzisstische Ziele: Um die Effizienzsteigerung um jeden Preis, und damit verbunden um die Ausbildung in einem eindimensionalen Punktesystem, in dem nur jener Lernende Aussicht auf Erfolg und Mehrwert hat, der den höchsten Punktestand erzielt. Der Hirrnforscher und Psychiater Manfred Spitzer sieht darin das Hauptproblem für die Zukunft. In Lernmodellen, in denen es nur noch um die sportliche Akrobatik des Merkens, aber nicht mehr ums Begreifen geht, liegen die größten Gefahren für die intellektullellen Fähigkeiten, und an die ist Bildung immer gebunden. Heute schon stünden der nächsten Generation viel weniger Möglichkeiten geistig kreativ zu werden zur Verfügung. Spitzer führt in diesem Zusammenhang aus, dass durch die Zielgerade unseres Punktesystems beim Lernen hermeneutische Vergleichsbildungen, innovative, im ursprünglichen Sinn kreative Denkleistungen gar nicht mehr möglich sind und gerade diese wären für den Fortbestand der kollektiven Kulturleistungen notwendig. Da die Merkfähigkeit meist im Gegensatz zur emotionalen und kommunikativen Kompetenz steht, können neben der emotionalen Lernfähigkeit, die immer auch an ein sinnliches Begreifen gebunden ist, auch die emotionalen und sozialen Fähigkeiten derart verkümmern, dass aus den zukünftigen Arbeitnehmern funktionierende, gefühlslose und leicht programmierbare Roboter werden, wie wir sie in den Filmen „Man in Black“ und „Matrix“ schon vorgeführt bekommen haben. Die Hirnforschung, so Spitzer, hat gezeigt, dass emotionales Lernen sich in den Lernstrukturen des Gehirns tiefer vernetzt, als der rationale Informationsfluss. Dass heißt, einem Schüler, der sich am Computer oder an der Spielkonsole im Sinne der Unterhaltungsindustrie abreagiert, werden sich die Gefühlswelten, die er hier lernt, tiefer im Gehirn einprägen, als die Fakten des rationalisierten Informationsflusses des schulischen Betriebes. Fast könnte man sagen, dass die nachfolgenden, weil affektiv stärkeren Bilder, die vorangegangenen löschen. Wo können wir ihn also finden, diesen Weltbürger, diesen Saurier der abendländischen Kultur, der mit dem geistigen Temperatursturz der Gegenwart ganz entspannt zurecht kommt? Wo ist jener Weltbürger, der das Schöne liebt, das Gute empfindet und die Freiheit denkt, und für den Sloterdijk in bezug auf die Massengesellschaft behauptet: „Jeder ist wie der andere und keiner ist er selbst.“

Die deutschen Privatsender, die auf der Effizienzkurve der amerikanischen Programmschiene dahinfahren, oder diese im Rahmen ihrer Möglichkeiten kopieren wollen, versuchen uns mit einer Mogelpackung Wirklichkeit zu verfkaufen. Was aussieht, als wäre man zufällig irgendwo am nackten Leben von „nobodies“ vorbeigekommen, sind natürlich einem Drehbuch nach geschriebene Scripts, in denen die Akteure sich selbst pointiert nacherzählen müssen oder gelegentlich von Statisten, die „reale Menschen“ spielen, nachempfunden werden. Der von der Prüfungskommission Pabst im Zusammenhang mit „Tagebuch einer Verloren“ gemachte Vorwurf, den gefallenen Mädchen – im Unterschied zu den gefallenen Soldaten – keinen Weg zurück in die sittlich orientierte bürgerliche Gemeinschaft zu ermöglichen, kann wohl für diese Sendeformate nicht gelten. Hier werden Probleme gelöst. Alles läuft auf ein in der Wirklichkeit unwahrscheinliches Happy-End zu: Der Arbeitsverweigerer ohne Hauptschulabschluss findet wieder Erwarten einen Job, dank der Anwesenheit des Kamerateams und vielleicht auch nur für den Zeitabschnitt der Drehdauer in Echtzeit. Ein Fünfzehnjähriger, der sowohl durch Drogendelikte als auch durch kleinere Gewaltdelikte auffällig geworden ist, fürchtet sich nicht bei dem Gedanken, in die Jugendstrafanstalt gehen zu müssen: schlimmer als draußen kann es drinnen nicht sein. Ein einziger Schnupperkurs in die Strafanstalt, im Beisein des Fernsehteams, macht aus ihm einen neuen Menschen: drinnen ist es noch schlimmer. Und allein dieser Einsicht verdankt es die Gesellschaft, dass der Jugendliche nicht mehr straffällig werden wird, stattdessen bereit ist, sich einzugliedern.

 

XI. Das Spiel und die Spielverderber

In den Reality-Serien, die sich mit Familien im Brennpunkt oder unter Verdacht beschäftigen, wird, was die Wirklichkeit des Schicksal der Betroffenen betrifft, gelogen, wie es die Story abverlangt. Nicht nur, dass diese von den Drehbuchspezialisten immer auf die gleiche Weise auf den Punkt gebracht wird, sie scheinen den Stoff auch Stereotypen nach zu dramatisieren. In monotoner Schriftsprache, ausgenommen die Sprache der bösen Protagonisten – SäuferInnen, Furien, GewalttäterInnen oder Kids, die ihre Mütter Schlampe nennen – wird von den Statisten das Auswendiggelernte aufgesagt. Wie gut geölte Kandidaten bei DSDS oder wie Supermodels sprechen sie in die Kamera und betreiben dabei Selbstreflexion. Sie erklären, wieso sie sich in der und der Situation so verhalten hätten, wieso sie zu Recht ihre/n GegenspielerIn so sehr hassen und schwören: „Dich mach ich fertig!“ Wenn eine Mutter als Gutmensch in einer solchen Reality-Show spontan und frei heraus sagt: „Dass die sich bei mir entschuldigen musste, das war mein innerer Reichsparteitag.“, fragt man, was der TV-Sender hiermit zu inszenieren gedenke. Was die Triebkonflikte betrifft, so steuern viele Folgen thematisch knapp am Inzest vorbei, in mehreren Familien verfallen sich die Stiefgeschwister auch körperlich, und es sind die Eltern, die um mehr Toleranz für die Leidenschaften ihrer Kinder bitten. Sind wir damit wirklich weit entfernt von den Sittlichkeitsstandards der Nazi-Kultur? Vielleicht haben wir sie nur ins Gegenteil verkehrt. Auch das bezeichnet Freud als Abwehrmechanismus: wenn ein affektiv besetzter Inhalt in sein Gegenteil verkehrt wird. Auch im Pabst Film „Geheimnisse einer Seele“ gibt es die Bilder des Missbrauchs mit kleinen Mädchen. Es sind Traumbilder, Bilder finsterer Zeiten, aber warum ist jetzt so viel die Rede davon? Überfalltäter auf Tankstellen, Töchter im Bordell, Stiefväter, Hausfrauen und Kosmetikerinnen – Täter und Opfer: Sie spielen ein Selbst, das sie nicht sind. Sie sprechen im gleichen Sprachrythmus, in derselben Sprachstuktur. Wenn in der Auswanderer-Sendung “Raus aus Deutschland“ die Absicht der Auswanderer mit „raus aus dem Dreck Deutschlands“ formuliert wird, stellt sich die Frage, handelt es sich um den Dreck der Gosse oder den Dreck der Auswanderer, ist das derselbe Stein des Anstosses? Und hilft wirklich ein einziger Reiniger gegen universalen Schmutz? Mit dem Übermenschen hat es angefangen, und mit dem „Weißen Riesen“ geht der Wirtschaftsfaschismus, die Analfixierung einer narzisstischen Kultur, wie sie Robert Pfaller dahingehend formuliert, jetzt weiter? Er hält fest, eine solche Kultur erzeuge gegenwärtig Scharen von Spielverderbern und Nasenbohrern auf allen Ebenen. Sie stachele die Individuen zur permanenten Rebellion gegen die Kultur der Sublimierung auf und bringe sie dadurch um die Ressourcen ihrer Freiheit wie auch ihres Glückes. Sie schreiten in der Folge mit einer eigenartigen Verbindung aus vermeintlich guten, hygienischen Vernunftgründen einerseits und grenzenloser, rabiater Gewaltsamkeit andererseits zu deren Entfernung aus der Welt.

In der Nachrichtenwelt angelangt haben wir es ebenfalls mit hygienischen Vernunftgründen zu tun. Wir sollen uns die Informationen merken, diese aber nicht empfinden. So bleibt es im vagen Bereich des ausgesperrten Unaussprechbaren, dass in der realen Welt, im Befehlsystem der erlaubten und unerlaubten Empfindungen es kein Thema sein kann, wie auf der Plattform der Nachrichtenwelt mit gefühlsentleerten, abgespaltenen, rationalisierten und vom Sinnzusammenhang eines größeren Symbolsystems aus mit isolierten Begebenheiten, die als Fakten definiert werden, umgegangen wird. Wir werden durch die Nachrichten kurz und bündig darüber informiert, dass in Schweden die Kaninchenplage in und rund um die Städte durch das Verheizen der massenhaft erlegten Tiere in Fernwärme-Öfen gelöst wird. Natürlich gibt es im TV auch die lieben Tiersendungen, in denen die Tier-Besitzer ihre kleinen Lieblinge mehr lieben als alles andere. Und dann, ein schweres Erdbeben. Und dann, die Wettervorhersage, der wohl einzige Emotionalkörper des Fernsehens. Auf jeden Regen folgt Sonnenschein, die Zukunft wird rosig, die Wirtschaft erholt sich, wenn uns hinter dem Tief Erwin, das Hoch Birgit erreicht, können wir in dem Gefühl „Alles wird gut, Sicherheit ist garantiert“ den Tag genießen. Dieser Aufschwung und Abschwung der Wetterlage scheint uns mehr zu bewegen als zum Beispiel das Weihnachts- und Osterfest, das ja lange schon keinen Sinn mehr ergibt. Für die einen ist es eine zu wiederholende rituale Floskel, für die Materialisten und Atheisten ist es die Lust, den Kaufrausch von Weihnachten bis Ostern verlängern zu können. Man malt den von der Werbung vorgezeichneten Glücksgegenstand bis in die Träume hinein nach und aus. Das Begehren danach ist sogar manchmal so groß, dass wir schon fast vergessen, was wir so sehr begehren und warum gerade dieses Produkt für uns beinahe schon „erlösend“ erscheint. Aufschwung, Abschwung, Tiefdruck, Hochdruck, Zerstörung und Wiederaufbau, Rettung oder Untergang: Immer wieder treten diese widersprüchlichen Tendenzen der Kultur in unser Bewusstsein als Überfülle und Auswegslosigkeit, als unauslöschbare Erfahrung ein. Neben vielen anderen Bildsystemen, die ebenfalls das alleinige Sorgerecht für das eigene Selbst einfordern.

 

XII. Die Kultur erinnert sich

Das amerikanische Kino hat die Wende zum Zuschauer, als das Subjekt seines Bewußtseins, nicht mitgemacht. Aus dem Sammelsurium der großen Gefühlszustände, verwoben mit der abendländischen Kunst- und vor allem Geistesgeschichte, wurden Gefühlsmodelle, die sich wie die abgespaltenen, verdrängten Gefühlsregungen der psychoanalytischen Studien in Gattungen unterbringen ließen: der Action-Film, die Gauner- und Crime-Schiene, der Film für Teenagergefühle, der Film für die Unterdrückten, Filme, in denen Menschen ihre Krankheiten überwinden, Liebesfilme, Mystery-Filme, Utopische Filme, Heroische Filme, Non-Sense Filme, pornografische Filme und nicht zu vergessen gelegentlich auch einen künstlerisch wertvollen Film, der von Festival-Juries preisgekrönt wird. Lange Zeit galt dies als eine Möglichkeit, Kunstfilme vor der Öffentlichkeit zu rehabilitieren. Ein Preis für kulturelles Schaffen in einer Kultur, die sich selbst nicht mehr versteht, und von der seit dem Einstieg in das Internet auch kein großer Anreiz mehr ausgeht. Ein paar berühmte Gemälde ist der Durchschnittsbetrachter bereit, sich zu merken: die Mona Lisa, das letzte Abendmahl, vor allem, weil es so eng mit der Filmgeschichte des „Da Vinci Code“ verbunden ist, Picasso, der in den Augen von vielen nur einer ist, was viele auch könnten, nämlich etwas auf die Leinwand schmieren, das jeglicher Schönheit entbehrt.

Wir wissen, es ist nicht das einzelne Filmbild im Kino, sondern die montierte Bildfolge, die das Erleben des Betrachters beeinflusst. Ein neutrales Gesicht zwischen zwei lachenden Gesichtern sieht fröhlicher aus, als wenn wir dasselbe im Umfeld trauriger Gesichter betrachten. Es ist also das Vorher und das Nachher solcher Bildwelten, die festlegen, wohin die emotionalen Höhepunkte des Filmes letzten Endes führen. Es ist die radikal sinnliche Kameraführung, die Pabst in „Geheimnisse der Seele“ als Kampf der Rationalität gegen den Ansturm zurückgedrängter archaischer Gefühlszustände erscheinen läßt. Ein Kampf, der wie Freud behauptet, noch lange nicht gewonnen ist, denn der Preis der gewonnenen Zivilistion ist das Unbehagen in der Kultur, das Unbehagen über die Unüberwindbarkeit der Tag- und Nachtwelten: Auf der einen Seite das scheinbar von kalter Rationalität unter Kontrolle gebrachte Geld und Warensystem, auf der anderen Seite das Ausgesperrte, Zurückgedrängte, welches zur Abschreckung des Feindes zentral auf sein archaisch aufgeladenes und ebenso zurückgedrängtes Animalisches zielt: Im Kampf des Menschen mit den Naturgeewalten, im Kampf um den Klimawandel, in der unsere Spezies, höchstgradig vernetzt, sich weigern will, die Klimakatastrophe pragmatisch ernst zu nehmen oder daran zu denken, das alles beim Fenster Hinausgeworfene sich mit brachialer Gewalt durch die Hintertüre zurückdrängt. Gleichzeitig folgt man den kollektiven und subjektiven Zwängen der „leadingcharacters“, die sich wöchentlich, Tag für Tag in den Crime-Serien dem Höhepunkt der impliziten Perversion annähern. Es sind die Anfangsszenen, die das Süppchen schmackhaft machen. Die brutal zur Schau gestellte Gewalt der kriminellen Tat, der Missbrauch, die Verstümmelung und Folter machen diese Programme für viele so sehenswert. Und natürlich auch die große Orwell’sche Minute der Werbeindustrie, das Wecken der Begierde in Echtzheit: Der einbrechende wirre Strom des Unterbewusstseins, die Traumwelten, das Surreale, das in einem kurzen Spot abgespaltene Gefühlsmaterial, das die Vernetzungen aller Gehirnströme umfasst. Alles Gesehene, alles Gehörte und Gefühlte, alles Gefilmte, Fotografierte, Gemalte, Phantasierte, die Religionsbilder, die Sportbilder und Nahrungsmittelbilder sind im Gehirn wie die Daten auf den Computerfestplatten vernetzt und kommen mit der Kraft des Stroms des Jung’schen kollektiven Unbewussten auf uns zu, in Echtzeit. Auch als Erinnerungsarbeit in Echtzeit, als Erinnerungsversuche an Zeiten der Marie Antoinette, an Kulturen, die uns den Weltuntergang für 2010 vorausgesagt haben. Der Niedergang und die Auslöschung sprichwörtlicher Hochkulturen durch Naturkatastrophen und Kriege irritieren immer noch: Die große Bibliothek von Alexandria, oder auch nur der Turm von Babel, der wohl nicht aussah, wie ihn das berühmte Gemälde von Bruegel darstellt. Die Albträume des Nachtmenschen, die Wunschträumen des Tagmenschen erscheinen als logische Konsequenz der Gelassenheit der CSI-Helden, die mit künstlichem Pathos und übermenschlicher Gelassenheit im Namen von Gerechtigkeit und Ehre die Bildfläche betreten und sich dabei sehr leise und höflich verhalten. Mit archaischen Bildern die Schuld- und Rachegefühle wie auch verbotene Begierden wecken, bringt wie bei Pabst soviel Abgespaltenes zurück auf unsere Bewusstseins-Bildfläche, dass wir zumindest für eine Weile den Bildern nachgeben, tiefer in uns selbst hineingehen als wir es uns zugetraut hätten. Das Verbotene, das Entsetzliche, der reale Clash verschiedener Weltwahrnehmungsformen, virtuell oder real, kann heute kaum noch unterschieden werden und muss auch nicht unterschieden werden, denkt man an „Second Life“. Je mehr wir in unserem Internet-Zeitalter über uns und den größeren Freundeskreis zu erfahren glauben, desto weniger spielt es eine Rolle, wenn wir in unsere tieferen Schichten der Wahrnehmung vordringen möchten. Und im Kino beginnt der Prozess der Zurückdrängung individueller Filmsprachen zugunsten einer alles durchdringernden Verkaufssprache auch nicht erst heute.

 

XIII. Wertvolle Zeiten

Der Philosoph des deutschen Idealismus, Hegel, legte das Selbstbewußtsein als Prozess dar, welcher uns durch Geschichte und damit verbunden durch die verschiedensten Epochen des Geistes und der Herrschaft geführt hat. Mit dem Verlust des Werte-Kodex der abendländischen Kultur aber kommt kein Subjekt mehr zustande, das im Hegel’schen Sinne selbstbewusst ist. Die Unterspülung des Sinnzusammenhanges der abendländischen Kulturgeschichte wurde eingeleitet, als zum ersten Mal erlaubt wurde, den Sinnzusammenhang, den Fluss der Filmsprache im Fernsehen durch Werbefilm-Einschaltungen zu unterbrechen. Auch der Werbefilm ist ein Film, aber mit einer genau kalkulierten Bild- und Wortsprache bis hin zur allgemeinen Sprachinflation, die die ursprünglichen Bedeutungen der Sprache bedeutungslos macht und damit die in schriftlichen Werken geübte Sprachpräzision zum Unfugregister der Alltagssprache macht. Wurden in früheren Gesellschaften die Dichter und Philosophen gleichsam wie Schauspieler und Sänger vom Publikum verehrt, so bedarf es heute ganz anderer Berufsgruppen, die bewundert und verehrt werden wollen, wie einst die Kulturschaffernden ihrer Zeit: die Azubis, die sich für einen Job bewerben, die Gilde der Top-Friseure, die Designer der Nagelstudios, die Praktikanten. Sie sind die neuen Superstars unserer Kultur und sind solange in, wie sie in den Medien gesichtet werden. Dies ist die Stunde des großen Glücks für sogenannte kleine Leute, die Stunde der Hochzeitsplaner, der Restaurant-Kritiker, der Super-Nannies, Schuldenberater, die Stunde der Personal-Trainer, der Feuerwehrmänner, die Stunde der Nackten und die Stunde der Toten. In ihren Vermarktungskonzepten setzen die Verantwortlichen nicht mehr auf den Einzelnen, mit dem man sich gerne identifiziert, sondern die Supertalente, die Kochprofis, die Prostituierten und Gewalttäter treten als Masse auf: Wir sind Viele. So stehen in manchen Werbeeinschaltungen immer alle Repräsentanten einer Zunft gemeinsam vor der Kamera, als wären sie gewerkschaftlich organisiert und als Ganzes, als Viele zu allem berechtigt. Dass die Realität anders aussieht, wird an den Arbeitslosenzahlen und der Finanzkrise sichtbar, die zu wenig Einsicht geführt hat. Dieses in der Masse aufgehoben sein, unter vielen zu sein, als Masse zu kämpfen ist nicht nur ein Kennzeichen unserer Zeit. Es bildet die Grundlage des sogenannten Wirtschaftfaschismus, der Entmündigung des Einzelnen zugunsten des Gruppenerfolgs. Wenn Kultur eine zweckfreie Auseinandersetzung mit den Bedingungen des Menschseins bedeutet, sowohl philosophisch wie künstlerisch, wie religiös, so ist die neue Zeit der Unterhaltung für die Massen zur tragenden Leitkultur gedworden. Boxen, Ungeziefer essen, als eine von Vielen bei einem Model-Casting nackt durch das Kaufhaus rennen sind nur einige Beispiele dessen, was in unseren Tagen als kulturelle Glanzleistung aufgefasst wird, vor allem seit das Publikum aufgerufen ist mitzumachen: Jetzt kann es sich selbst präsentieren und wer im Fernsehen gut ankommt, braucht keine Schulbildung, denn es braucht das Spektakel. Mitunter interessieren einstige Kultfilme wie „Ben Hur“ nur noch als Show, die der Schlacht im alten Rom entspricht und mit Pferdestärken, zerberstenden Fahrzeugen, blutig Überrollten und der Macht des Publikums ein reales Vergnügen zaubert.

Auch die sozialen Netzwerke von Facebook bis Twitter setzen auf Selbst-Präsentation und Vergnügen und damit auf eine Umstrukturierung des Star-Fan-Gefälles. Trat in den frühen Jahren des Gefühlskinos der Fan nach dem Erlebnis, das ihm sein Star auf der Leinwand bereitet hat, in die anonyme kleine Realität seines im Vergleich bedeutungslosen Lebens, so wird er durch die Netzwerkbetreiber aus der Passivität des Zuschauers in die Aktivität des Mitmachers gehoben. Jeder hat das Zeug zum Star, jeder kann überall mitmachen, jeder kann groß werden. Zwar darf sich der User in den Netzwerken geben wie er möchte, das Publikm aber darf es dem römischen Kaiser gleich tun und den Daumen zustimmend oder ablehnend einsetzen. Und jeder hat die Möglichkeit, Ausgesagtes und Vorgeführtes zu kommentieren. Nebenbei werden wir mittels Bannern mit der Ekstase der Bekleidungsindustrie, der Kosemtik-Industrie gezielt angepeilt, denn es geht um Besitz von Konsumgütern, Immobilien, Schönheit, das heißt alles worauf sich oberflächlich das Selbstbewußtsein bezieht, ist was – vor allem die VIPs – oberflächlich betrachtet zu Siegern macht. Es geht neben dem veräußerten Besitz an Nacktheit auch um den Besitz von Preisen, denn dieser Besitz ist der Garant der Verkaufbarkeit. Und es geht um die Event-Kultur als Massenkultur. Massenparties auf denen die Menge derer, die kommen, zählt. Die scheinbar Freien, die Handlungsfähigen fühlen sich wohl, denn hier sind sie selbst Akteure. Was wahr ist, entscheidet die Menge, die sich zu dieser Wahrheit bekennt. Aber wird eine Lüge dadurch zur Wahrheit, dass viele die Lüge als Wahrheit bestätigen? Das Internet bietet die Möglichkeit, den Durchblick auf die Welt zu haben und den scheinbar handelnden Subjekten den Anspruch auf eine umfassende Weltsicht und deren Ausfomulierung durch Worte oder Bilder zu gewährleisten.

 

XIV. Von denen sonst keiner spricht

Der europäische Film zwischen den 1950-er und 70-er Jahren vertraut seinen Weltdeutern rational wie emotional: Das Drama der Handelnden entspricht seinem eigenen Drama und motiviert mitunter zu surrealistischen und expressiven Ausdrucksformen. Der Betrachter, der nicht mehr von Angst und Schrecken des einfahrenden Zuges der Brüder Lumière ergriffen ist, erkennt, dass es Blickwinkel gibt, die sein inneres Weltbild, das Herz seines Seins so aufrütteln kann, dass er Neues über sein inneres Leben, seine Gefühle und Leidenschaften und daraus resultierend über seine sozialen Siege und Niederlagen erkennt. Bis in die 1970-er Jahre hallt dieses Glücksgefühl – nebst formaler Aspekte – in dem von den Filmverleihern verliehenen Prädikat „Künstlerisch Wertvoll“ nach. Einen künstlerisch wertvollen Film zu machen, war damals noch ein zentrales, dem Bildungsbegriff entsprechendes Anliegen. In gewisser Weise wird den gefilmten Welten zusätzlich eine Tiefe der Bedeutung zugesprochen, die über den Materialwert des Gefilmten hinausgeht. Dem Slogan „Arbeit macht frei“ der totalitären Regime wird ein trotziges „Und es bleibe dabei, die Gedanken sind frei“ entgegengesetzt. Jeder Zeit ihre Kunst, und der Kunst ihre Freiheit, während aus der anderen Ecke der Kulturschauplätze noch der Rauch und die Asche der verbrannten Bilder und Bücher weht, aber durch Sex, Drugs and Rock’n Roll und den Boom der bewußtseinsanalytischen Schulen eine ganze Generation gegen die politischen Erfahrungen und Wertesysteme der Elterngeneration auftritt. Aber auch die Bedeutung von Prädikaten ändert sich mit der Zeit, wenn vor allem durch das kommerzielle Kino menschliche Werte im traditionellen Sinn und politisch-kulturelles Aufbegehren wertlos geworden sind. Dagegen lässt sich aus dem „Baader Meinhof Komplex“ ein schmackhaftes Stück Ware schnüren, das leicht und ohne Bedeutung daherkommt und ebenso leicht und ohne kritische Konsequenzen an den Zuseher zu bringen ist. Einzige Ausnahme bildet die Entwicklung des Dokumentarfilms der letzten Jahre hin zur Aufdeckung und Aufklärung.

Wäre da nicht, pfiffig wie Michael Moore, der Wett-Skandal des europäischen Fußballs um die Ecke gekommen, wir hätten nicht einen Gedanken des Zweifels an der Ehrlichkeit der Welt gehabt. Nur wurde der Skandal in den Medien keineswegs so gründlich thematisiert wird, wie die Trauer um den dahingegangenen Torwart. Was die reale Trauerfeier um den Torwart auf die extra dafür aufgebauten CinemaScope Leinwände vor dem Friedhof in Echtzeit ans Tageslicht brachten, war eine Trauerreaktion im Sinne des Superlativs. Aber wie auch im Bestattungsspektakel rund um das Idol Michael Jackson geht im Leben alles vorüber, auch die Superlative der großen Emotionen, die nun von den kleineren Sendeformaten genüßlich weitererzählt werden: Was den Kleinen an Format fehlt, machen sie durch das zwanghafte Wiederholen des Gefühlserlebnisses zu ihrem Gewinn. Es wird langsamer, länger und detailreicher getrauert, die Schuld- und Sühne-Frage immer und immer wieder gestellt. Als hätte der erste Todesfall der Menschheit in Gestalt der Soap-Figur die Welt erschüttert, wird hier mit deutscher Gründlichkeit beim Schildern des Familiensschmerzes auf BILD-Zeitungsniveau weitergemacht: abend für abend dieselbe Leier, immerhin kommt sich das Publikum nicht wie beim Fußball-Bestechungsskandal oder anderen skandalösen Details um die Wirtschaftskriminalität im Bankenskandal betrogen vor.
Wertvoll können heute jene Filme bezeichnet werden, die sich tatsächlich auf die in der Grundverfassung niedergelegten Werte und Grundrechte des Menschen, das der Pressefreiheit oder das der Freiheit der Kunst, besinnen, aber auch rückbesinnen auf die Wertvorstellungen und Bildfreiheiten des sogenannten Europäischen Kinos, das immer auch stolz darauf war, ein politisches Kino zu sein. Erinnern wir uns an den italienischen Neorealismus, entstanden als Selbstbehauptungsakt des Sujekts nach dem Zweiten Weltkrieg. Während im Norden Italiens noch die deutschen Truppen, im Süden noch die Truppen Mussolinis stationiert waren, bäumten sich die führenden Regisseure Fellini, Antonioni, Pasolini und andere gegen die Propagandamaschinerie, gegen das Verschwinden des Einzelnen im politisch Allgemeinen auf. Hier kommen die ins Bild, von denen sonst keiner spricht: Die aus den Städten der Wohlhabenden in die Peripherie des Elends, in die Ghetto-Siedlungen zurückgedrängten Armen, Entrechteten, die Huren und Gaukler, die Taschendiebe, die verkrüppelten Kriegsheimkehrer und Tagelöhner, die Verwerflichen und die Verworfenen.
Michel Moore, der zwar mit seinen Filmen auf den Festivals gezeigt wird, ob aber seiner mangelnden filmischen Auseinandersetzungen und Erneuerungen kritisiert wird, erinnert zumindest ohne Vorbehalte auch an die Sprache derer, die die Krise zu verantworten hätten. Vielen des Publikums erscheint Moore als Künstlerfigur, der als Aufhetzer nur sich selbst wichtig machen möchte oder dass das in Ansätzen verdächtig wirkende Phänomen Moore oberflächlich und seicht wie ein B-Picture sei. Dass ein Einzelner sich anzumaßen wagt, die ganze Weltpolitik als Lüge zu entlarven, kann nur als fragwürdiger Genie-Anspruch und Größenwahn eingestuft werden. In einer Branche, die keine Genies, sondern Bewusstsein in Konfektionsgrößen benötigt, urteilen die Kritiker und machen mit ihren Meinungen selbst Politik. Nicht, dass die Probleme sonst tot geschwiegen werden, es gibt sie schon, die neuralgischen Punkte, auf die immer wieder der Finger des Kinos gedrückt wird. Im Film „American Gangster“ kämpft Russel Crow aus einer schier aussichtslosen Position gegen den von Denzel Washington dargestellten Mega-Drogenboss, dem jegliches moralisches Empfinden abhanden gekommen und der der Geldgier und dem Machtrausch, über dem Kartell zu stehen verfallen ist. In dieser Story siegt am Ende die Justiz und wir lernen wieder, alles wird gut, wenn das Gute die richtige Spur findet. Das sprichwörtliche Happy-End ist ein Sieg des Rechts über das Verbrechen.

 

XV. Die Hoffnung und das Wunderbare

Ganz anders bei den Cohen Brüdern, die sich im Film „No Countryfor Old Men“ die Unbezwingbarkeit des Verbrechens durch Moral und Gesetz zum Thema machen. Hier werden dem Bösen, der Gier und dem Töten keine Schranken gesetzt. Wie das Schicksal oder der Teufel persönlich schreitet Anton ungebrochen durch sein Szenario und tötet jeden, der ihm im Weg steht, ohne selbst in Gefahr zu geraten. Und die Moral von der Geschichte: Das Unrecht ist durch Recht und Moral nicht mehr unter Kontrolle zu bringen, die Welt der Guten ist verloren und muss dem Antichristen übergeben werden. Über Werner Herzog und seinen Film „Bad Lieutenant“ äußert sich Nicolas Cage, Herzog sei kein moralischer Regisseur, er sei schonungsloser Realist und kümmere sich nicht um die moralische Perspektive seiner Charaktere. Herzog, der darauf besteht, ein Bayer und nicht Amerikaner oder Europäer zu sein, hat er seine Filmsprache verraten wie kein anderer. Er, der seine Personen in „Kaspar Hauser“ und in der Büchner Verfilmung „Woyzeck“ in starren, statischen Szenarien zur Hochform der Philosophie auflaufen lässt und in der Langsamkeit seiner Inszenierungen auf seine unvergleichbare Authentizität und seinen visionären Blick hinzuweisen versucht und Kaspar sagen lässt: „Es hat mich geträumt.“ Aber seit Herzog sich durch seine Hauptdarsteller im VIP-Bereich von Hollywoods wähnt, filmt er schnell, wild und ganz im Stil von CSI. Immer hat Herzog sich als europäischer Regisseur mit eigener Sprache sehen lassen wollen, nun ist er schnell wie ein Kommerzfilmer, der nichts mehr zu sagen hat, außer: „Ich bin eigentlich ein Bayer!“. Hingegen lässt uns Fellinis Statement, „Der einzig wahre Visionär ist der Realist“, auf bessere Zeiten des europäischen Kinos hoffen. Und es gibt sie, die Ausnahmen von der Regel, die noch die Kraft zur eigenen Sprache haben, zumindest wollen wir das hoffen, denn die Hoffnung stirbt zuletzt.
Nachdem Papst 1929 mit dem in der USA hergestellten Film „A modern hero“ wenig Erfolg hat, plant er dort eine Filmrealisation der Romanvorlage „Das Mirakel von Lourdes. Ein Mysterium“, das jedoch nicht produziert wird. Aber 2009 von Jessica Hausner, die in Venedig für ihren Film „Lourdes“ den Preis der Kritik erhielt. Hausner, eine bekennende Atheistin, hat sich darangemacht, die entwürdigende Geschäftemacherei mit der Hoffnung auf wundersame Heilung zu entlarven. Doch was bleibt hinter dieser Larve, was erzählt uns der Film, was tun die Charaktere tatsächlich und in welchen Bildkulissen und in welcher Körpersprache wird hier ein Bild von der Welt gemalt? Eines steht fest, wir haben es mit einem Volk in der Krise, mit bewegungsbehinderten Menschen zu tun, mit Menschen, die nur auf irgendein Wunder hoffen können. Die Atmosphäre des Films ist düster, höhnisch und von der Kälte, die das Thema in den Augen der Regisseurin wahrscheinlich verlangt: Die braunen Uniformen der staatlichen Helfer, die schicken Kopftrachten der Malteserinnnen könnten in ihrer Adrettheit und Fröhlichkeit gelegentlich auch den Eindruck aufkommen lassen, es handle sich um eine Sitcom auf dem Feldlazarett. Die Atmosphäre ist ebenso bräunlich idyllisch und vielleicht wollte die Künstlerin gar keinen Film über ein Wunder und dessen spirituelle Voraussetzungen machen, sondern insgeheim den Nationalsozialismus anprangern, indirekt und zynisch natürlich, mit vielen braunen Uniformen unter einem bleiernen Himmel, in einer ebenso bleiernen Stimmung. Jeder spricht ins Leere, keiner hat mit dem anderen irgendetwas zu handeln, es herrscht der kalte Trotz des Zynismus, der endlich dazu kommt, der Welt seinen Zerrspiegel vorzuhalten, mit einem Filmverständnis, das den Fünfziger Jahren entstammen könnte. Und da uns die Regisseurin, die als Atheistin über das Wunder aussagt, keine wirkliche Klarheit verschafft, könnte man, wenn man tiefer schaut, vielleicht auch zu der Ansicht kommen, worüber der Film vorgibt zu erzählen, erzählt er gar nicht – im Grunde eine exakte Analyse der nach außen projizierten Magersucht: Die Hauptperson kann physisch nicht aufstehen, sie will alles, inklusive des möglichen Wunders der Heilung ausspucken, nicht in sich aufnehmen, was von anderen kommt. Und mit dem unbändigbaren Trotz einer Magersüchtigen will sie lieber sitzen bleiben als aufstehen zu können – wozu auch: Die ganze Welt da draußen ist ekelig wie eine schimmlige Semmel. Und selbst als das Wunder sie, die Ungläubige heilt, will sie mit dem Wunder nichts zu tun haben, da an gar nichts geglaubt wird, was wie mit Infusionsflaschen serviert wird.

Dann der origiastische Befreiungsschlag der Protagonistin: „Seht ihr, ihr könnt mich nicht retten, weil ich nicht zu retten bin. Es tut mir wirklich leid, wenn ihr euch falsche Hoffnungen gemacht habt. Ihr könnt mich nicht füttern und ihr könnt mich nicht retten. Reingefallen!“ Auch der Main-Plot-Point, wo die Geheilte mit dem Soldaten tanzt, der sie bewundert, weil sie durch den reinen Triumph ihrer Willenskraft aufstehen konnte, ihn aber enttäuschen muss, bestätigt die Annahme, dass hinter der Magersucht die Ablehnung der Weiblichkeit steht. Nur nicht sexuell aussehen, nur keinen körperlichen Kontakt mit dem Mann, denn das hieße abhängig sein, von jemandem, der einen erotisch füttern will. Und daher gibt es kein Weitertanzen, nur wieder das Rollstuhlsitzen. Sie hat sich selbst in den Augen des Tänzers das genommen, wofür er sie bewunderte: Den starken Willen. Aber insgeheim tanzt das Rumpelstilzchen aufgeregt und zynisch in der Welt umher – und was sagt es? Das macht mir alles nichts, denn es freut mich, dass ich in meinem Scheitern euch euren Glauben und eure Hoffnung genommen habe. Manche hätten gerne auch den Film „Das Mirakel von Lourdes. Ein Mysterium“ realisiert gesehen, wenn möglich, beide Filme hintereinander.

 

XVI. Naturgewachsene Bilder

Um von Bildern fernab des Zynischen zu sprechen, so ist der japanische Landschaftsmaler Hiroshige für seine äußerst gekonnte Darstellung von Schnee, sowie die Übertragung eines fast lyrischen Stils auf die Landschaft Japans berühmt. In seinem Holzschnitt „Klarer Wintermorgen in Kameyama“ bietet sich dem Betrachter folgendes Bildmotiv: Die Gegend ist im Schnee versunken. Der Himmel leuchtet im Sonnenaufgang. Die Welt scheint ruhig und friedlich, der Schnee verschluckt alle Laute, die die Gruppe auf ihrem Weg zum Gipfel vermutlich macht. Die windzerzausten Kiefern in der Bildmitte strecken ihre Zweige nur in eine Richtung. Auf dem Berggipfel liegt die Burg Kameyama, der Überraschungsort für die Reisenden und gleichzeitig militärischer Stützpunkt. Eigentlich war Hiroshige im Sommer an diesem Ort. Die Konzeption der Schneelandschaft entsprang Hiroshiges „innerem Bild“, im Sinne der Moderne. Mit der Konzeption der Schneelandschaft begibt sich Hiroshige von der Wahrnehmung in die Fiktion, deren eigene Stimme er ist.

Auch in Michael Hanekes Film „Das weiße Band“sind die wunderbaren Bilder einer von den Menschen unberührten Schneelandschaft ein den Film tragendes Element. Die symbolische Implikation der Unschuld des Anfangs im weißen Band, das von einer Gefühlssequenz zur anderen seine Unschuld verliert, ist cineastisch gesehen vielleicht gar nicht so tiefgehend, wie es das Bild der uneingeschränkten, in einer protestantischen Welt noch und nur von Gott geschaffenen Landschaft in selten gesehener Reinheit und Großzügigkeit denken lässt, obgleich ein Hauch des kommenden Unheils, das noch keine Gestalt hat, schon in der Luft zu liegen scheint. Hier wirkt das künstlerische Bild als hochkulturelle Bedeutungsanalyse. Doch sollte man in Hinblick auf die Wirkung eines nicht vergessen: In der Gegenwart, in der Echtzeit, gibt es dieses Eingebettetsein des Menschen in eine unversehrte Natur nicht mehr. Im Gegenteil – und nicht nur in Hinblick auf den Klimagipfel – bleibt zu hoffen, dass diese Natur überhaupt noch eine Überlebenschance hat. Diese Sehnsucht nach einer von uns verschmutzten Natur, macht Hanekes Film so erfolgreich, er zeigt noch einmal im klaren Licht, was wir im Begriffe sind, ein für allemal zu verlieren, und das erzeugt Sehnsucht und Traurigkeit. Das archetypische Sehnen nach paradiesischen Zuständen, im Unterschied zu einer „heilen Welt“, die sich immer eine weiße Weste bewahrt, auch wenn sie innerlich geizig, gemein und für die Beteiligten so eng wie eine Kerkerzelle ist. So wie in Horvaths „Jugend ohne Gott“ im Zeitalter der Fische mit den kalten Augen, einer den anderen mit einem Stein aus dem Weg räumt.
Realistisch betrachtet blickt Haneke zurück, um am Beispiel einer noch naturgewachsenen protestantischen Dorfgemeinde, wo es Herren und Knechte gibt und von den Männern versklavte und verstummte Frauen, Kinder und irgendwie auch den Teufel, den sie in sich haben und austreiben wollen. Auf der psychologischen Ebene eines Kammerspiels beschreibt er grandios die Gewalt und die Not, die sich in den inneren Keimzellen, in den Wohnungen der Charaktere abspielen. Und er hat recht: Auch Robert Pfaller sieht im Befehlszwang einer rechts-populistischen Kultur eine Reaktion auf eine historische Niederlage in der Analkultur geprägten Gegenwart. Aus den Geschlagenen werden die Zuschläger von morgen, so wie aus den Sadisten die Klone der Sadisten werden. Hanekes Film ist ein fiktionaler Film auf hohem künstlerischem Niveau. Dennoch steht die Frage im Raum, kann der Nationalsozialismus aus einem psychologischem Blickwinkel, der noch keine Industrialierung, keine Massengesellschaft kennt, gezeichnet werden? Ist das nicht, verbunden mit der Weite der Schneelandschaft und der tiefen Kälte dort, eine sehr einseitige Perspektive? Kann man das Rad der Industriegesellschaften einfach so in die kleinfamiliäre Idylle zurückdrängen, um damit große Auswirkungen einer jetzt ebenfalls Jahrzehnte vergangenen Zeit zu vermeiden, auch jetzt in der Echzeit, in der wir bestürzt die Verrohung Europas und den Niedergang hochkultureller Werte erleben, in der die politischen Verhältnisse in Zusammenhang mit dem Banken-Fiasko wieder einmal außer Rand und Band geraten, die anale Befehls- und Hygienekultur nur so hochschwappt und in den Redaktionen der kostenlosen U-Bahn-Zeitungen die Hetze und die Propaganda in einer Form von „Sprachschändung“ sich verselbstständigt. Das Zwanghafte an Zwangscharakteren ist, dass sie sich ständig wiederholen müssen, mit ihren kleinen persönlichen Eigenheiten, ihren persönlichen Grausamkeiten und den damit verbundenen kulturellen Konsequenzen. Pfallers Theorie der Reaktionsbildung könnte man noch weiter denken: Was, wenn wir die emotional gelernten Daten als etwas Verdrängtes, Verbotenes in uns tragen, und, so wie die Abwehr des Schmutzes auch eine lustvolle Beschäftigung mit dem Verdrängten garantiert, vielleicht doch wieder nationalsozialistisch empfinden, weil es etwas Verbotenes, ein Grenzüberschreitung, eine Art Tabu darstellt, so wie auch Bataille formuliert, das Verbot ist der Motor der Lust.

Strukturanalytisch gesehen weist Hanekes „Das weiße Band“ große Parallelen zu Lars von Triers Fillm „Dogville“ auf. In beiden Erzählweisen gibt es einen Erzähler, der einen fixen Standpunkt bezieht und damit für das ganze Handlungsgeschehen festlegt, aus welchem Blickwinkel die Ereignisse zu sehen sein werden, nämlich aus der in sicherer Distanz die Ereignisse schildernden Erzählperson. Damit steht fest, dass es sich wohl eher um epische Schilderungen als um das Miterleben von dramatisch aufgebauter Spannung gehen wird. Denn wann immer die Emotionen im Zuschauer hochschwappen könnten, tritt die Erzählstimme auf und beruhigt die Lage, sodass der wohltemperiert in seinem Sessel sitzende Zuschauer gerne in einer hochkulturellen Bedeutungsvermutung bleibt und sich selbst dieselbe Position erlaubt, die der Erzähler eingenommen hat. Er bleibt sachlich, rational gegenüber den Ereignissen, jenseits von Identifikation und Einfühlung. In beiden Filmen geht es um „beleuchtete Szenen“, Szenen, die im fiktionalen Bereich angesiedelt, den Schwerpunkt auf die Analyse lenken sollen. Man könnte auch andere Szenen hervorheben, aber jenen Szenen verleiht der Regisseur für das Verständnis des Sinnzusammenhanges die nötige „Beleuchtung“. Sie sind sozusagen die Eckpfeiler in der Konstruktion des inneren Raumes. Und das macht beide Filme auch zu sogenannten Kunstfilmen: Hochkulturkino mit seelischer Empathie.

In Früchtls Sinn sind beide Filme aber auch so etwas wie Western-Filme. In beiden geht es um ein Dorf, das von außen gesehen friedlich und glücklich existiert, sich jedoch, wenn man sich länger drinnen befindet, als teuflischer Ort mit protestantischer Weltverzichtsatmosphäre entpuppt. In Lars von Triers Film reitet die Heldin nachts in einer Limousine auf Dogville zu, in das sich sonst nur selten solche Autos verirren. Erst als sie aussteigt erkennen wir die Heldin der kommenden Ereignisse. Wir sehen sie, aber wir kennen sie nicht, wir erfahren nichts von ihr. Ein großes Geheimnis scheint ihr anzuhaften und königlich bewegt sie sich auf das Dorf zu, in dessen Dorfgemeinschaft sie, wahrscheinlich um sich hier zu verstecken, im Verlauf der immer grausamer werdenden Handlung von einer Station zur anderen geführt wird, wie in einem Brecht’schen Lehrstück der späten Jahre. Am Ende wird man die Heldin, deren Geheimnis nun gelüftet ist, wieder in der Limousine links aus dem Bild verlassen sehen. Im Unterschied zu Hanekes „Das weiße Band“ in dem der Erzähler den Betrachter mit herrlichen Bildern zum Zeitsprung in die Vergangenheit verführt, indem er ihn in eine fast mythologische Natur hineinführt, lässt Lars von Trier seine Charaktere auf einer jeglicher Natur im Bild beraubten Bretterbühne spielen. Das Leben ist hart und von Verzicht, Neid und Hass geprägt: Hier wird mehr als die Empfindungen der Einzelnen das soziale Klima der Gemeinschaft beleuchtet. Die Personen sprechen, aber sie sprechen sich niemals aus. Sie zeigen beim Handeln keinerlei Gefühlsbewegung in der Stimme, sowie ein gewisser aussichtsloser monotoner Ton der Eintracht, die in Wirklichkeit keine ist, sich langatmig von Stufe zu Stufe der Handlung zieht. Hanekes Film lässt seine Akteure, was den Ausdruck ihrer eigenen Seelenzustände betrifft, wie schon Ingmar Bergman in „Fanny und Alexander“, sadistischen Regungen aussetzen. Im inneren Kerker ihrer ohnmächtigen Sprachlosigkeit, aus Angst vor weiteren Misshandlungen schweigen sie. Außer sich wie ein Opfer fühlen zu müssen, tragen sie in alter Dienstbotenmanier nach außen keine Gefühle zur Schau und fühlen innerlich vielleicht auch nicht viel mehr als sie sagen. Sie haben sich auch in den schlimmsten Momenten aufs Atemanhalten eingeschworen. Wie bei „Dogville“ nähert sich der Erzähler dem Dorf, um das es gehen wird, durch die freie Natur in einer herrlichen Kutsche fahrend, die Verlobte an seiner Seite erwartungsfroh. Fast könnte dies auch der Beginn eines Heimatfilmes sein, aber was ist ein Western anderes, als ein Heimatfilm. Die Heimat ist ja immer vom Standpunkt und vom Winkel, mit dem man auf sie blickt, abhängig.

Auch in „Das weiße Band“ ist klar und streng festgemacht, auf welchem Gefühlshöhepunkt sich die Episode für den Betrachter, aus der Ecke des Erzählers, vielleicht auch aus der Ecke des Voyeurs, anfühlen wird: Hier brechen keine Leidenschaften aus, hier herrscht das unterdrückte Gefühl. Die Verklemmung artet in Beklemmung aus, um dann eine kleine, feine aber sehr böse und ein bisschen schmerzhafte Regung loszulassen. Alles unter Kontrolle, selbst die Gemeinheit gibt sich kultiviert und der Ekel paart sich mit der Erniedrigung, wenn er seine Opfer, die sich, erstarrt wie Geisteskranke, auch nicht nur im Geringsten wehren. In dieser Erstarrungsdramaturgie des Weißen Bandes geschieht das Gegenteil von dem, was, formalanalytisch gesehen, in Pabsts Film geschieht. Pabst versucht den Innenraum der menschlichen Träumerei zu öffnen, indem er rationale Bildabfolgen, Einstellungsgrößen, Symbolverknüpfungen für das Auge so bewegt und überraschend insziniert, dass, wie im Traum, das Unbewusste stärker in die Beschäftigung mit den Geheimnissen der Seele einfließt. Dies gilt vor allem für die berühmten Traumsequenzen. Pabsts Bewusstseinsarbeit ist vor allem Bewegung, Verschiebung, ein bisschen schon DADA-Kunst, Täuschung statt Optik, mehr Illusion, mehr Fragen als Antworten.
Bei Haneke hingegen werden die psychische Verfassung, die seelischen Nöte, die Ohnmacht wie die Macht als böses Omen dargestellt, als das vom Himmel gefallene Böse, als der ewige Makel der Menschheit. Es geht um Schuld und Sühne im streng protestantischen, den Verzicht anbetenden Sinn: Einst waren wir unschuldig aber inzwischen sind wir böse geworden. Wenn Goethes Faust den Teufel als die Macht, „die Gutes will und Böses schafft“ charakterisiert, dann ist das Dorf, in das der Dorfschullehrer mit seiner Kutsche fährt, ein sehr teuflischer Ort. Der Sado-Masochist der analen Zwangskultur unserer Tage spaltet seine bösartigen Impulse von den sozialen Gefühlen ab, quält eiskalt und ist dabei die Selbstbeherrschung in Person. So oder so, der Deutungen gibt es viele, und im Unterschied zum traditionellen Western, löst der Held die Probleme des Dorfes nicht. Manche verschwinden, manche laufen davon, andere kommen ums Leben, ohne dass man weiß warum. Dieses Geheimnis will Haneke nicht preisgeben. Das ist die Kutsche des Regisseurs, die am Ende des Films das Dorf, in dem sich gar nichts geändert hat, in dem es nur noch schlimmer werden kann, verlässt und uns so der weißen unberührten Landschaft unserer Vermutung überlässt.

 

XVII. Können wir uns wirklich freuen?

Es in Hinblick auf den Erfolg, heute wie damals, von Bedeutung, welche Gefühle auf welchen Gesichtern in Großaufnahme sichtbar werden. Ob nun auf Gesichtern von Menschen aus dem Volk, oder auf den Gesichtern der Mächtigen, Hanekes Charaktere lassen sich nicht in ihre Gefühlswelt hineinschauen, nach innen lassen sie sich nicht unterkriegen. In der Öffentlichkeit jedoch bleiben sie ungerührt und lassen sich unter keinen Umständen von diesem nicht benennbaren Schrecken etwas anmerken. Wenn der künstlerische europäische Film so hoch ansetzt, worauf will er hinaus? Hat er eine Vision vor Augen oder besinnt er sich im Unterschied zur Peitsche der Wirtschaft im Bewusstsein seiner selbst immer nur auf das Gewesene, das Vergangene, auf die entschwindenden Werte der abendländischen Hochkultur? Gewiss gibt es auch den zeitgenössischen Film, in dem aktuelle Probleme zur Sprache kommen, doch folgt die Erzählstruktur, sofern nicht schon von Anfang an auf kommerzielle Abläufe in Bild und Ton eingeschworen, meistens dabei einer rückwärtsgewandten, lange schon eingeübten Sichtweise der Dinge. Die neue Wahrnehmung des Augenblicks, die Perspektive der Echtzeit, die Fähigkeit auch Unerwartetes, Überraschendes wahrzunehmen, wäre ein großer Gewinn für die Hochkultur. Umdenken, neu erleben, die Dinge neu formulieren anstatt die erstarrten Erzählformen, die meistens nur die Aufgabe haben, das bürgerliche Sujet so flach wie möglich und mit der nötigen Portion Emotionskitsch zu spiegeln, zu wiederholen. Das könnte der Standpunkt eines nach vorne, in die Gegenwart der Zukunft ausgerichteten Filmschaffens sein.

Jeremey Rifkin, der erfolgreiche Soziologe, Bestseller-Autor und Politiker-Berater sieht für die Zukunft der Menschheit im Augenblick nur noch einen Ausweg: Wenn der Mensch seinem innersten Wesen nach so ist, wie er sich gibt, nämlich habgierig, egoistisch, sadistisch, zu Gewalttaten bereit, kriegerisch eingestellt, an permanente sexuelle Lust gefesselt, dann wird sich das menschliche Überleben als schwierig gestalten. So plädiert Rifkin für eine neue Sichtweise der Welt: Weg mit den Horrorszenarien, heraus aus der visuellen Dressur, hin zum emphatischen Blick. Nur in einer emphatischen Zivilisation könne der Mensch sich darauf besinnen, wie er sein kann, positiv und großzügig, emphatisch statt kontrollierend oder aussperrend, abspaltend, selbstverliebt und destruktiv. Nur einer zum Mitgefühl und Fremderleben fähigen Zivilisation könne es noch gelingen, das Ruder herumzureißen.

Ausblick, Anblick, Rückblick, Voraussicht, Detailblick, Rundumblick, Augenblick – die Fähigkeit zu sehen ist nicht nur eine Frage der Bildschärfe eines HD-Flachbildschirms, der mit dem Slogan wirbt “Bilder so scharf, als wären sie nicht von dieser Welt!“. Was wäre, gäbe es keine Regeln: man kann machen was man möchte und die Wirklichkeit nach eigenen Wünschen gestalten, dann, ja dann ist man im Fernsehen: „grenzenlos scharf sehen!“. Scharf sehen, noch dazu im Breitwandformat, in der Intimität der guten Stube zuhause – wie aber steht es um unsere anderen Sinne, wie steht es, und das müsste wohl das zentrale Thema unserer Betrachtung sein, um unser Gefühl, unsere Sprachfähigkeit, unsere Vernunft? Kennen wir nur nur noch die Objekte unserer Begierde und die Gedanken an Luxus als deren Befriedigungsform? Gibt es sonst keine Empfindungen? Wir genießen, aber können wir uns auch wirklich freuen? Sehnen wir uns auf der Suche nach dem Überfluss in Wahrheit nach einem Glück, von dem wir nicht wissen, wie es sich anfühlt, weil wir nur passiv genießen, statt aktiv zu erleben? So wie der Held im Western handeln muss, um ein Held zu werden, müssen auch wir vielleicht handeln, nicht des Heldentums wegen, sondern für Selbstverantwortung, um unsere Gefühle zeigen zu können und auf der Suche nach dem Mysterium, sozial empfindsam zu bleiben. Andere formulieren es einfach so: Glück ist die Abwesenheit von Entfremdung! Glück ist Vorhandensein von Empathie, möchte man hinzufügen. Denn der Propaganda-Slogan „wenn Champions im Ring stehen und Herausforderer warten, wenn die Dunkelheit an Macht gewinnt, dann ist es Zeit für wahre Helden. Wenn aus der Hoffnung Gewissheit wird, wenn Legenden wahr werden und längst vergessene Legenden wiederkehren, Idole gefeiert werden, wenn alle gegen einen sind, dann ist es März auf RTL“, lässt manchen von uns erstarren. Angesichts solcher Sprache sollten wir empathisch in Bewegung bleiben. Denn wie Robert Pfaller es formuliert: „wir bestehen auf den heiligen Ernst des Spiels, wir lassen uns die Beute, die wahren Bilder von der Wirklichkeit, nicht entreißen.“ Und er führt weiter aus, dass hinter der Überfülle an allem, somit auch hinter der Überfülle an Bildern, diese selbst zur Ware, zum Unsinnstifter wird. Unsinnig, weil den Überfülle-Bildern keine Bedeutung, kein tieferer Sinn mehr inne wohnt. Und so wie die Sinnentleerung mit der Werte-Zerstörung und Bedeutungs-Zerstörung einhergeht (– man denke hier nicht an die philosophischen Abarbeitungen der Post-Moderne), so ist auch, vor allem durch das Internet, die Sprache am verkümmern. Aber wie sich auch noch darum kümmern, wenn auch in Österreich das rechts-populistische Klima bereits in der Luft liegt und die Wirtschaftskrise auf die Charaktere drückt, die zunehmend explosiver durch den Tag gehen oder aus Prinzip gar nichts mehr sagen und versuchen, unter allen Umständen nicht aufzufallen. Zum immer lauter werdenden Machtanspruch der Rechtspopulisten schreibt Pfaller, dass die ideologischen Kämpfe nicht auf der Ebene der Informationen stattfinden. Es gehe nicht um Ideen, sondern um Affekte und deren Organisation, und um Identifizierungen. Populismus sei zunächst ein Echo, ein Widerhall. Wenn eine populistische Rede aufkommt, weiß man in der Regel kaum, wer eigentlich spricht, beziehungsweise wer hier wessen Worte spricht. Es handelt sich um ein komplexes Verhältnis von Vorsagen und Nachsagen. Das gilt natürlich auch für den vielbemühten Zuschauergeschmack, der dem Zuschauer wie auf den Leib geschnitten ist. Wenn wir Robert Pfaller Glauben schenken, dann hat der Populismus nur eine kulturelle Voraussetzung: Er will immer gerne sauber machen und aufräumen, um die Ordnung gegen eine Überflutung durch Schmarotzer und Parasiten zu verteidigen. Die zunehmend prüde Genussfeindlichkeit der westlichen Hochkulturen bildet daher eine Stütze für die Obszönitäten des Populismus und verschafft ihnen Aufmerksamkeit.

 

XVIII. Die Zeit der Erlebnisfähigkeit

Wie im Beschwerdeschreiben der preußischen Regierung aus dem Jahr 1928, die dem Filmregisseur Pabst vorwarf, seine Kunst grenze an Schweinereien, wird auch heute von den Kulturjournalisten anlässlich der Etablierung eines realen Swingerclubs in den Untergeschoßen der Wiener Sezession die entscheidende Frage gestellt: sind die unter dem Titel „Die Kunst der Liebe“ ausgestellten Verhältnisse noch als Kunstobjekt zu betrachten, oder handelt es sich hierbei nur um Schweinereien aus dem Porno-Markt? Der Künstler verpflanzt sich siegessicher in die Pop-Art und Warhol-Factory Konzeption. Was sagt der Kapitalismus in einer so rohen Darstellung seiner selbst über sich aus: Dass er die sexuelle Vereinigung als mechanischen Wiederholungszwang darstellt, ohne den Echtzeit-Akrobaten in der Ausübung ihrer Lust Subjektivität zuzugestehen. Der Kapitalismus befriedigt jedes Bedürfnis, das er selbst zuvor künstlich erzeugt hat. Nur die Erlebnisfähigkeit, das Lustpotential der verklemmten Besucher, ist eher sparsam und bescheiden. Warum die Panikmache also wegen Schweinereien. Die Medien sind voll davon, die „Perversiönchen“ vielfältig wie noch nie. Man ist jederzeit bereit, die Hosen runter und die Sau raus zu lassen oder die im Wiener MuseumsQuartier errichtete Arschloch-Bar in Form eines Anus zu besuchen. Was in der Nazi-Kultur, in deren sauberen Vorstellungen vom menschlichen Adel der Seele empörte, ist heute kein Stein des Anstoßes mehr. Die Tage, in denen die Schriften Sigmund Freuds aufgrund ihrer seelenzersetzenden Wirkung den Flammen übergeben wurden, sind Vergangenheit. Heute kommt der Druck von emotional rechts: Das Durchpeitschen des Vergnügens, das keinen Triebaufschub mehr duldet und auf dem Weg von der Hochkultur zur Barbarei keine Moral und keine Werte mehr akzeptiert. Wer heute in der profanen Sphäre des Warentausches vom heiligen Geist eintauchen möchte, muss ein Comedian sein, der sich gerne lächerlich macht. Begriffe wie Vertrauen, Hoffnung, Würde, Glauben sind seit der nationalsozialistischen Ethik zu fragwürdigen Konstanten geworden. Wenn das Fun-Paket Power hat, braucht es keine Würde und auch kein handlungsfähiges Subjekt.

Wenn SlavojZizek in „A pervert Guide to Cinema“ den Bildererzählungen des Kinos, das Zurückschwappen des kollektiv Verdrängten, des Ausgesperrten, das Ausbrechen der bestialische Natur des Menschen in die Zivilisation sieht, dasselbe Unbehagen Freuds, in Hinblick auf die krankmachende Nervosität des modernen Menschen spricht, geht er noch einen Schritt weiter als Freud, der dieses Zurückdrängen des Archaischen in die Rationalsphäre des Menschen vor allem den Traumvorgängen qualitativ zuordnete. Zizek meint, nicht nur der Einzelne träumt. Wir lassen uns in allen Bildwelten – mitterlerweilen nicht nur im Kino – von den archaischen Reminiszenen unserer brachialen Epochen oft und gerne überfluten. Und auch das Abflachen der Bedeutungssprache öffnet den rohen und rauhen Zeiten, den animalischen Gelüsten gerne wieder Tür und Tor. Wenn die Menschheit im Sinne von Rifkin das Ruder herumreißen möchte, so wird wohl Umdenken alleine nichts bewirken, da die Fixierung der Kultur auf ihre anal zwanghaften Symptomatiken überwunden werden muss, damit auch Gefühle fließen können, denn alles ist im Fluß und wir steigen niemals in denselben. Und es ist wohl auch das, was der lange in Meditation verharrende buddhistische Mönch, nachdem er erleuchtet (und nicht nur beleuchtet wurde) uns sagen möchte: „Öffne dich zu dir selbst, lass die alten Bilder, die Erinnerungen, die für dich wichtig sind, weil du ihnen Bedeutung zumisst, hinter dir. Es sind tote Bilder, morsches Holz.“ Es wäre befreiend, wenn es einmal eine regeneriende Phase der Kultur geben könnte, eine Art mediales Heilfasten, in der wir ohne die Bildüberflutung der Massenmedienmacher auskommen, in der wir vorübergehend zumindest unseren Blick und unsere Ohren zur Ruhe kommen lassen können. Damit wir danach, den alten Ballast abgeworfen habend, wieder mit der von Haneke angesprochenen Unschuld des Anfangs neu sehen, hören und fühlen lernen können. In Empathie, die, wie Rifkin ergänzt, immer auch eine Erweiterung der moralischen Kompetenz bedeutet. Wir erinnern uns an das Höhlengleichnis, nur einer der Anwesenden blickt nicht nach vorne zum Lichtspiel auf der Leinwand, er wendet seinen Blick zurück, und bemerkt, wie von außen durch eine Spalte in der Höhle klares Licht eindringt, heller und klarer als das, was ihm die Schattenfiguren gezeigt haben. Von diesem Licht ergriffen folgt er ihm nach draußen und sieht, wie nur die Renaissancemaler sahen, als sie das Licht über der Kuppel malten. Doch die anderen in der Höhle wollen nicht ans Tageslicht, sie haben sich an das Schattentheater gewöhnt. Und sie trachten dem, der sie nach draußen holen wollte, nach dem Leben. Und heute? Können wir ohne das Schattentheater noch existieren? Was fiele uns ein, wenn wir nichts mehr zum Schauen und keine Schlagzeilen der Boulvard-Presse hätten?
Nun, die Oscars sind vergeben, die Sieger haben gesiegt und die Verlierer haben verloren. Die Medaillen sind gewonnen, die Trophäen nach Hause getragen. Die Preisträger haben ihre Aufgabe, Preise zu gewinnen, bewältigt und werden wieder, zumindest bis zur nächsten Preisverleihung in Vergessenheit geraten sein. Bei einem TV-Interview antwortet Johnny Depp auf die Frage, warum er so gerne in Frankreich lebe: “Weil ich froh bin, etwas Distanz zu Hollywood zu bekommen. Wenn man mitten drin ist, in diesem brodelnden Suppentopf Los Angeles, nimmt das nicht wahr. Heute sehe ich alles in einem anderen Licht. Ich habe viele Jahre gebraucht, um zu begreifen, was für ein Tier Hollywood eigentlich ist.“

Etwas in einem anderen Licht sehen, das Licht, das auf die gegenständliche Welt fällt, auf dass sie sichtbar werde. Abwarten können, Zeit haben fürs Filmen, nicht eingreifen, aufgreifen, sich überraschen lassen, von dem was entsteht, auf der Suche nach der Wahrheit, der Wahrheit des Blicks und des Lebens: Das waren die großen Anfänge des europäischen Film. Auf den Spuren dieses anfänglichen Lichtes sollte der europäische Film voranschreiten, weg von den Schablonen, den Formaten, den sprachlichen Stereotypen, den Geschmacks-Klischees und Geschmacksinn-Stimulierer. Licht ist nicht mehr Beleuchtung gleichzusetzen. Es ist die Lichtquelle, die entscheidet, wie wir die Welt erleben, wie wir die Dinge sehen, mit Vorurteilen oder ohne. Und wenn möglich: Bitte ein bisschen weniger Leitkultur, dafür etwas mehr Liebe zum Detail und ein bisschen mehr Tiefgang. Ein bisschen mehr Eigensinn, als nur eine Überfülle an Unsinn.

 

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