Carolin Utsch

„Ein und derselbe Mensch und im gleichen Augenblick zwei verschiedene Menschen“

 

Das Motiv des Doppelgängers als Mittel der Irritation im postmodernen Film am Beispiel von Ingmar Bergmans Persona (1966) und David Lynchs Mulholland Drive (2001)

Teil I
1. Einleitung

„Es ist unmöglich, dass demselbigen dasselbe und in derselben Hinsicht zugleich zukomme und nicht zukomme. Dies ist das festeste Prinzip von allen. Denn unmöglich kann jemand annehmen, dass dasselbe sei und nicht sei. (...) Alles Wahre muss mit sich selbst nach allen Seiten in Übereinstimmung sein.“
(Aristoteles: Elemente der aristotelischen Logik. Hg. v. Adolf Trendelenburg und Rainer Beer. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1969. S. 15)

„Du darfst mich nicht falsch verstehen, aber irgendwie sehen wir uns ähnlich. Ich glaube sogar, ich könnte mich in dich verwandeln. Das wäre natürlich nicht so einfach, weil‘s von Innen kommen muss. Aber wenn du wolltest, könntest du dich in mich verwandeln, als wäre es nichts. Obgleich die große Seele in mir nicht genug Platz fände und ausbrechen würde.“
(Schwester Alma, in: Bergman, Ingmar: Persona. 1966. Min. 33:25 – 34:06)

Zwei Zitate, die sich zunächst einmal grundlegend widersprechen. Das Erste stammt von dem weltberühmten Philosophen Aristoteles und scheint auf den ersten Blick völlig einleuchtend. Er spricht von einer universellen Wahrheit, die verbindlich für alles gilt. Wahrheit ist feststehend, Entität allgemeingültig.

Das zweite Zitat findet sich in Ingmar Bergmans Film Persona aus dem Jahr 1966. Eine der Protagonistinnen redet mit der anderen über beider enorme optische Ähnlichkeit. Doch wie in dem Zitat schon angedeutet, bleibt es nicht dabei. Die beiden Personen nähern sich im Verlauf des Filmes immer weiter aneinander an, scheinen optisch zu Zwillingen zu werden, ihre Rollen zu tauschen. Doch handelt es sich dabei keineswegs bloß um ein Doppeltes-Lottchen-Prinzip: Auch die Identitäten der beiden verschmelzen miteinander, spalten sich voneinander ab, überschneiden sich.

Betrachtet man den Film als ein Zuschauer, der an kohärente Handlungsstränge gewöhnt ist, so ist man von Anfang an irritiert, versucht einen Sinn hinter kleinsten Details zu finden, einen Herrensignifikanten, der alles erklärt, die Handlung logisch nachvollziehbar macht. Doch eine feste Erklärung wird man auch am Ende des Filmes nicht bekommen.

Vor allem Ingmar Bergmans Filme der 60er Jahre sind bekannt dafür, dass sie von der Suche nach dem Sinn des Lebens handeln. Oft thematisiert er die Frage nach der Existenz Gottes und die Kälte und Lieblosigkeit einer modernen Gesellschaft. Gerade Persona sticht aus diesen Filmen besonders hervor, da er in diesem Film erstmals radikal mit einer kohärenten Erzählweise bricht und stattdessen immer wieder mit den Sehgewohnheiten des Zuschauers spielt, indem er verschiedene Handlungsstränge miteinander kombiniert, so dass sie in Widerspruch zueinander stehen oder auf den ersten Blick keinen logischen Sinn ergeben (beispielsweise im Sinne von Aristoteles). Dies ist ein typisches Mittel des postmodernen Filmes.

In der folgenden Arbeit werde ich Bergmans Persona mit David Lynchs Mulholland Drive aus dem Jahre 2001 vergleichen und versuchen, herauszustellen, warum es sich bei beiden Filmen um typisch postmoderne Filme handelt. Der Vergleich mit Lynch bietet sich besonders gut an, da er sich selbst in Interviews immer wieder als einen großen Fan Bergmans bezeichnet und er in ihm eines seiner größten Vorbilder sieht. (Siehe hierzu beispielsweise Lynch im Interview auf http://www.incontention.com/2010/10/25/lynch-picks-bergman-kubrick-tati-hitchcock-and-wilder-for-afi-fest/; abgerufen am 07.03.2012)

An seinem Film Mulholland Drive lässt sich dies gut nachvollziehen, da er einige starke Parallelen zu Bergmans Persona aufweist. In der vergleichenden Filmanalyse der folgenden Arbeit werde ich dies verdeutlichen.
Vorneherein sei aber gesagt, dass der Vergleich der beiden Werke ein solch enormes Angebot zur Analyse bietet, dass eine genaue Betrachtung der einzelnen Aspekte den Rahmen dieser Arbeit deutlich sprengen würde. Einige Themenbereiche werden daher komplett weggelassen oder nur kurz berührt werden können.

Da ich den Fokus der Analyse auf das Thema Postmoderne legen möchte, habe ich entschieden, mich im Wesentlichen auf die Thematisierung des Doppelgängermotives in den Filmen zu beschränken. Dies bietet sich an, da es sowohl in Persona als auch in Mulholland Drive das sicherlich auffälligste Motiv ist und in beiden Filmen vielschichtig immer wieder auftaucht. Zudem trägt es in beiden Werken wesentlich zur für den postmodernen Film typischen Verunsicherung des Zuschauers bei.

 

2. Die Postmoderne und der postmoderne Film

Die Postmoderne ist die kulturgeschichtliche Epoche, die auf die Moderne folgt. Eine genaue Definition ist nicht leicht, es lässt sich aber festhalten, dass es sich dabei einerseits um einen Gegenstand philosophischer Reflexion und andererseits um ein Phänomen des Zeitgeistes und der Kunst handelt und sich in all diesen Bereichen ein neuer Zugriff auf die Welt eröffnet. (Vgl. Baum, Patrick/ Höltgen, Stefan (Hrsg.): Lexikon der Postmoderne. Von Abjekt bis Zižek. Bochum/ Freiburg: Projektverlag 2010. S. 148)

In seiner theoretischen Untersuchung „Das offene Kunstwerk“ beschreibt Umberto Eco, dass ein großer Teil der Kunst der Moderne auf der Verwendung von Symbolen, die auf etwas Unbestimmtes verweisen, beruht. Im Gegensatz dazu wurde die Kunst im Mittelalter meist allegorisch interpretiert und in der Renaissance auf „statische und unmissverständliche Bestimmtheit“ gebaut. (Vgl. Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1973. S. 32-34) Die Menschen der modernen Gesellschaft tendieren dazu, dass sie keine eindeutigen Fakten präsentiert bekommen wollen, sondern stattdessen selbst in die Interpretation und Enträtselung eines Kunstwerkes mit einbezogen werden möchten. Moderne Kunstwerke verlangen also meist „eine variable Rekonstruktion des angebotenen Materials“. (Vgl. Ebd. S. 90) Die Kunst baut auf Interpretation, ist dabei aber sehr viel freier als die Allegorien des Mittelalters, die stets auf etwas Bestimmtes verwiesen. Wir sind als Betrachter von Kunst heutzutage darauf programmiert, innerhalb eines Werkes nach Hinweisen zu suchen, die uns bei der Interpretation, egal welcher Art, helfen könnten. Wenn man aber plötzlich in einem Kunstwerk keine Hinweise finden kann, die zu einer schlüssigen Interpretation führen, entsteht dadurch laut Eco „ein Gefühl von Ungewißheit [sic!] und Unbestimmtheit“ und eine „Frustrierung der ‚romanhaften Instinkte‘ des Zuschauers“. (Vgl. Ebd. S. 203.) Genau auf diesem Aspekt baut die Kunst der Postmoderne auf.

Dies lässt sich auch auf das Phänomen des postmodernen Filmes übertragen. Häufig sind diese mehrfach codiert, bieten also neben Unterhaltung auch intellektuelles Vergnügen. Während in der Moderne ein ständiger Fortschrittszwang herrschte, spielt der postmoderne Film mit Zitaten und Referenzen, Wiederaufnahmen und Reflexionen, sodass sich der Zuschauer sehr gut damit auseinandersetzen und eigene Referenzen bilden kann . ( Vgl. Baum, Patrick; Höltgen, Stefan (Hrsg.): Lexikon der Postmoderne. Von Abjekt bis Zižek. Bochum/ Freiburg: Projektverlag 2010. S. 149)

Ästhetisch gesehen finden sich im postmodernen Film häufig Intertextualität, Spektakularität, Selbstreferentialität, Anti-Konventionalität und dekonstruktive Erzählverfahren. (Vgl. Eder, Jens: Die Postmoderne im Kino. Entwicklungen im Spielfilm der 90er Jahre. In: Jens Eder (Hrsg.): Oberflächenrausch. Postmoderne und Postklassik im Kino der 90er Jahre. Münster: LIT 2002. S.11) Thematisch geht es oft um motivische Tabubrüche, Sex und Gewalt. Dabei werden extreme Darstellungen von Gewalt, Morbidität, Leidenschaft oder Leiden häufig mit alltäglichen Banalitäten in Kontrast gesetzt, was die Filme ironisch und grotesk wirken lässt. (Vgl. Ebd. S.23-25) Postmoderne Filme spielen immer wieder mit der Erwartungshaltung des Zuschauers und brechen mit dieser. Das führt zu Verunsicherungen und spornt zu immer weiteren Interpretationen an.

Ernst Schreckenberg verweist in seinem Essay über das postmoderne Kino auf den französischen Philosophen Jean-François Lyotard, der im Zusammenhang mit der Postmoderne von einem „zitierenden Formenflimmern“ spricht. Damit spielt er auf unsere durch die Medien geprägte Umwelt an. ( Vgl. Schreckenberg, Ernst: Was ist postmodernes Kino? – Versuch einer kurzen Antwort auf eine schwierige Frage. In: Andreas Rost und Mike Sandbothe (Hrsg.): Die Filmgespenster der Postmoderne. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren, 1998. S. 119)
Auch der Philosoph Jean Baudrillard beschäftigt sich mit diesem Thema im Zusammenhang mit seiner „Simulationstheorie“. Er sagt darin, dass Realität nur noch als Reflex auf zuvor existierende Medialität vorhanden ist. Unsere Welt besteht aus Simulakren, also Trugbildern, Blendwerken, Fassaden. (Vgl.: Baudrillard, Jean: Agonie des Realen. Berlin: Merve Verlag 1978. S. 6) Durch den Einfluss der medialen Zeichen sind wir darauf programmiert, hinter allem einen Hinweis zu sehen, der zu einem neuen Hinweis und schließlich der Entschlüsselung eines Rätsels führt. So entstehen beispielsweise politische Verschwörungstheorien, aber auch der Zwang, eine geheimnisvolle Handlung in einem Film zu enträtseln. Wenn Baudrillard von der Agonie, also dem langsamen, qualvollen Tod des Realen spricht, so ist der Hauptgrund dafür die Tatsache, dass es in der heutigen Welt nicht mehr möglich ist, das Reale vom Imaginären zu unterscheiden. (Vgl. Blask, Falko: Jean Baudrillard zur Einführung. 3. Aufl. Hamburg: Junius Verlag 2005. S. 30) Baudrillard sagt zu dem ständigen Suchen nach möglichen Hinweisen folgendes:

„All dies ist gleichzeitig wahr und die Suche nach Beweisen zur Ermittlung der objektiven Tatsachen hält diesen Interpretationsschwindel nicht auf. Wir befinden uns in der Logik der Simulation, die nichts mehr mit einer Ordnung von Vernunftgründen gemein hat.“ ( Baudrillard, Jean: Agonie des Realen. Berlin: Merve Verlag 1978. S. 30)
Grund für all das ist der seit der Moderne immer mehr zunehmende Drang, alles zu hinterfragen und zu wissen. Die festen Anhaltspunkte im Leben, die dem Mensch zum Beispiel durch Religion oder Monarchie gegeben waren, sind nun verschwunden. Er ist viel freier, aber dadurch auch viel unsicherer geworden.

 

3. Das Motiv des Doppelgängers

Der Doppelgänger – ein Motiv, dass existiert, seit es Literatur gibt – und vielleicht schon länger. Es wirft grundliegende Fragen auf nach dem Ganzen, dem Ungeteilten, dem Individuum, der Individualität, der Subjektivität, der Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung, der Identität und dem Ich. ( Vgl. Fichtner, Ingrid: Vorwort. In: Ingrid Fichtner (Hrsg.): Doppelgänger. Von endlosen Spielarten eines Phänomens. Bern: Haupt Verlag 1999. S. VII.)
Das Doppelgängermotiv ist sehr breit gefächert und hat sich immer wieder gewandelt. Man findet Doppelgänger in der Literatur beispielsweise in Form von Portraits (z.B. in Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray von 1891), Spiegelungen (z.B. in E.T.A. Hoffmanns Die Geschichte vom verlorenen Spiegelbilde von 1814), Zwillingen (z.B. in William Shakespeares Comedy of Errors von 1593) oder als Alter Ego (z.B. in Fjodor M. Dostojewskis Der Doppelgänger von 1845).
„Doppeltgänger. So heißen Leute, die sich selber sehen.“ (Paul, Sean: Blumen-, Frucht- und Dornenstücke, oder: Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs. Zitiert in: Sven Herget: Spiegelbilder. Das Doppelgängermotiv im Film. Marburg: Schüren Verlag 2009. S.11)
Dies ist die prägnante Definition, mit der sich Schriftsteller Jean Paul in seinem Werk Siebenkäs (1796-97) dem Begriff annähert. Man kann dies im psychologischen Sinne deuten, dass das „Sich-selber-sehen“ das Spalten der eigenen Persönlichkeit meint. Das bedeutet, dass sich ein Teil des Wesens verselbstständigt und man so dem eigenen Ich gegenübertreten kann. (Vgl. Herget, Sven: Spiegelbilder. Das Doppelgängermotiv im Film. Marburg: Schüren Verlag 2009. S.12)
So scheint ein wichtiger Hintergrund für das Doppelgängermotiv stets die Identitätsproblematik zu sein. (Vgl. Schwarcz, Chava Eva: Der Doppelgänger in der Literatur. Spiegelung, Gegensatz, Ergänzung. In: Ingrid Fichtner (Hrsg.): Doppelgänger. Von endlosen Spielarten eines Phänomens. Bern: Haupt Verlag 1999. S. 7) Spricht man von „Identität“, so eröffnet sich erneut ein sehr breites Gebiet an unterschiedlichen Definitionen und Begriffen. Wenn im Folgenden von „Identität“ die Rede ist, beziehe ich mich auf des Soziologen Jean-Claude Kaufmanns Annährung an den Begriff. Kaufmann unterscheidet zunächst einmal zwischen „Individuum“ und „Identität“. Er meint, dass beide eng miteinander verknüpft, allerdings nicht als Synonyme aufzufassen seien. Für ihn ist Identität ein Aspekt des Individuums, der grundliegend für dessen Bildung ist. Dazu sagt er:
„[d]as Individuum muss an sich selbst als beständige, autonome Wesenheit glauben und ein System aus unbezweifelbaren Werten entwickeln. Es muss sich beständig und ohne zu zögern selbst darstellen und vom anderen unmittelbar identifiziert werden können. Mit anderen Worten: Es muss eine Identität haben. (...) Die Identität ist eine Umhüllung, die Selbstgewissheit verleiht. (...) Die Identität ist das, wodurch sich das Individuum wahrnimmt und sich zu konstruieren versucht, gegen diverse Zuweisungen, die es dazu zwingt, vorgegebene Partituren zu spielen.“ (Kaufmann, Jean-Claude. Zitiert in: Herget, Sven: Spiegelbilder. Das Doppelgängermotiv im Film. Marburg: Schüren Verlag 2009. S.138, 139)
Wie eben schon festgehalten wurde, verlor der Mensch mit dem Beginn der Moderne wichtige Orientierungspunkte in seinem Leben, die ihm vorher durch die Religion oder Monarchie gegeben waren. Er war nun sehr viel mehr auf sich allein gestellt, musste sich selbst definieren. Im Zusammenhang damit gewann die Psychoanalyse immer mehr Bedeutung. Man beschäftigte sich mit dem Innenleben des Individuums, mit seiner Identität. So verwundert es nicht, dass mit dem Aufkommen der Moderne auch das Doppelgängermotiv in Literatur, Kunst und Film immer größere Bedeutung bekam.
In den folgenden Filmanalysen werde ich untersuchen, inwiefern unterschiedliche Doppelgängertypen in den beiden Filmen zu finden sind. Außerdem werde ich der Frage nachgehen, wieweit das Doppelgängermotiv im Zusammenhang mit der postmodernen Thematik verwendet wurde.

Teil II
1. Das Doppelgängermotiv in Ingmar Bergmans Persona (1966)
„Ja, also der Film handelt von einer, die redet, und einer, die schweigt, und dann vergleichen sie ihre Hände miteinander und dann vermischen sie sich miteinander. Es wird ein sehr kurzer Film, der kann sicher sehr billig werden.“ ( Bergman, Ingmar. Zitiert im Bonusmaterial der DVD: Persona (1966). Ingmar Bergman Edition. Leipzig: Arthaus. 2010)
Mit diesen beiden Sätzen versuchte Bergman seinen Produzenten von dem Film Persona zu überzeugen. Dies gelang problemlos, was vermutlich vor allem mit dem Argument des Geldes zusammenhängt. Nichtsdestotrotz scheint die knappe, nicht sehr aussagekräftige Handlungszusammenfassung, die diesem Argument vorangestellt ist, perfekt auszudrücken, was die Handlung ausmacht: Beginnt der Film noch kohärent nachvollziehbar mit der Einführung seiner Protagonistinnen, so wird die Handlung im Verlaufe des Filmes immer diffuser und die Identitäten der Protagonistinnen immer undeutlicher.
Es geht um Elisabeth Vogler, eine Schauspielerin, die während einer Aufführung des Stückes Elektra plötzlich verstummt ist und seitdem kein Wort mehr spricht. Sie liegt alleine in einem Zimmer eines Krankenhauses und scheint völlig von der Außenwelt abgekapselt zu sein. Als ihr Schwester Alma als Pflegerin zugeteilt wird, fährt sie mit ihr in das auf einer einsamen Insel gelegene Ferienhaus einer Ärztin des Krankenhauses. Während Alma nahezu ununterbrochen teilweise sehr intime Geschichten aus ihrer Vergangenheit erzählt, schweigt Elisabeth fortwährend. Almas auf den ersten Blick perfekte Beziehung zu ihrem Verlobten scheint nur nach außen hin glücklich zu sein: Sie erzählt beispielsweise von ihrer Abtreibung oder orgiastischen Sexualerlebnissen mit mehreren Partnern, bei denen sie ihren Verlobten betrogen hat.
Elisabeth scheint Alma trotz ihres Schweigens zugetan, verhält sich ihr gegenüber sehr zärtlich und aufmerksam. Im späteren Verlauf des Filmes stellt sich jedoch heraus, dass Elisabeth Alma heimlich beobachtet und ihr Verhalten analysiert und verspottet. Als Alma dies erfährt, ist sie zutiefst gekränkt und versucht mit Gewalt Elisabeth zum Reden zu bringen. Die Beziehung zwischen beiden scheint zerbrochen – und dennoch sind sie sich auf seltsame Art und Weise so nahe wie nie zuvor. Sie scheinen miteinander zu verschmelzen, zu einer Person zu werden.
Es fällt schwer, genau zu definieren, was im Verlauf der Handlung geschieht, da sie immer wieder neue Fragen aufwirft und unzählige Interpretationsmöglichkeiten bietet. Eine eindeutige Entschlüsselung des Filmes kann es nicht geben.
Auch meine folgende Analyse darf keineswegs als endgültige Erklärung von Bergmans Film betrachtet werden. Vielmehr möchte ich mich einzelnen Szenen unter Berücksichtigung des Doppelgängermotivs annähern und versuchen, darin eine Verbindung zur Postmoderne zu finden.

1.1. Schauspielerei
In der Figur der Elisabeth Vogler findet sich schon zu Beginn das erste Mal die Thematik des Doppelgängers. Elisabeth ist Schauspielerin, verdient also ihr Geld damit, in unterschiedliche Rollen zu schlüpfen, neben ihrer eigenen verschiedene andere Identitäten anzunehmen. Der Filmtitel „Persona“ kann man hier als Anspielung auf die Bedeutung des Begriffes für das antike Theater sehen: Eine Persona ist die Maske des Schauspielers, die ihm dabei hilft, in unterschiedliche Rollen zu schlüpfen. Elisabeth spielte die Protagonistin in einer Elektra-Aufführung. Während einer Vorstellung erstarrte sie plötzlich und befindet seitdem in einem Zustand des Schweigens.
Elektra ist eine Geschichte, in der es um Verrat, Schuld und Sühne innerhalb einer Familie geht. Die Protagonistin, die ihren Mann getötet hat, hat Alpträume, in denen sie von ihrem schlechten Gewissen verfolgt wird. Ihr wird prophezeit, dass sie erst Ruhe findet, wenn die Schandtat gerächt ist. Dies bedeutet, dass sie erst der eigene Tod von ihrem schlechten Gewissen befreit. (Vgl. Inhaltsangabe Elektra. In: http://www.bayerische.staatsoper.de/885-ZG9tPWRvbTEmaWQ9MzUmbD1kZSZ0ZXJtaW49-~spielplan~oper~veranstaltungen~inhalt.html; abgerufen am 15.03.2012.)
Im Verlauf des Filmes stellt sich heraus, dass sich Elisabeth in einer vergleichbaren Situation befindet, wie die Protagonistin in Elektra: Zwar hat sie keinen Mord an einem Familienmitglied begangen, aber sie konnte zu ihrem Sohn niemals eine Beziehung aufbauen, da sie ihn seit seiner Geburt hasste. Jegliche Annährungsversuche blockte sie ab. Auch von ihrem Mann entfernte sie sich, indem sie sich in lethargisches Schweigen hüllte und keinen Kontakt mehr zuließ. Seitdem ist sie in ihrer Theaterrolle erstarrt und versteckt ihr wahres Gesicht hinter der Maske (der „Persona“) ihrer Rolle. Als sie später ihr Mann bei dem Haus der Ärztin besucht, nimmt sie niemals direkt Kontakt zu ihm auf. Sie benutzt Alma wie eine Art Puppe, indem sie ihre Hand führt und scheint durch Alma mit ihm zu sprechen. (Bergman, Ingmar: Persona. 1966. Min. 60:10 – 76:11) Schließlich übernimmt Alma ganz Elisabeths Rolle, so wie Elisabeth die Rolle in Elektra übernommen hat. Nur auf diese Weise kann Elisabeth mithilfe von Alma Gefühle zeigen, Nähe zu ihrem Mann und ihrem Sohn zulassen.

1.2. Spiegelbilder
Die einzige Möglichkeit, das eigene Gesicht zu sehen, ist der Blick in den Spiegel. Der Spiegel ist dabei das Medium, das dies ermöglicht, oder wie Umberto Eco sagt, „die Prothese, die uns gestattet, visuelle Reize auch dort wahrzunehmen, wo unsere Augen nicht hingelangen“. (Eco, Umberto: Über Spiegel und andere Phänomene. Zitiert in: Herget, Sven: Spiegelbilder. Das Doppelgängermotiv im Film. Marburg: Schüren Verlag 2009. S.72) Ein Spiegel dient uns zur Vergewisserung unseres Selbst. Er bestätigt uns unsere Identität als Individuum, aber stellt sie trotzdem in Frage, da er uns verdoppelt: Unser Ich ist beim Blick in den Spiegel in Betrachter und Betrachteten gespalten. Zusätzlich kann der Spiegel uns beweisen, dass wir unserer Idealvorstellung nicht entsprechen. Er dient also als Mittel um uns unsere eigene Identität zu beweisen, aber auch um sie zu hinterfragen. (Vgl. Herget, Sven: Spiegelbilder. Das Doppelgängermotiv im Film. Marburg: Schüren Verlag 2009. S.74) Das Motiv des Spiegelbildes eignet sich also perfekt um die Konfrontation mit dem eigenen Ich und die daraus resultierende Selbsterkenntnis darzustellen. Man kann es als Verkörperung unserer Seele sehen.
In Persona gibt es eine sehr prägnante Spiegelszene, die insgesamt dreimal gezeigt wird, aber jedesmal einen anderen Fokus hat. In dieser Szene findet sich nicht nur die Doppelung der beiden Protagonistinnen, die sich ja auffällig ähnlich sehen, sondern sogar eine Vervierfachung, da sich beide vor einem Spiegel befinden.
Man sieht Alma und Elisabeth, wie sie sich nachts in Almas Zimmer begegnen, sich vorsichtig umarmen und ihre Köpfe auf die Schulter der jeweils anderen legen. Dann drehen sich beide um, sind der Kamera frontal zugewandt. Sie blicken den Zuschauer nun direkt an. Es entsteht der Eindruck, man befindet sich selbst an der Stelle von Alma und sieht ihr und Elisabeths Spiegelbild.
Während der ganzen Szene blickt Alma unentwegt direkt den Zuschauer an. Elisabeth steht schräg hinter Alma, sieht sie an, und streicht ihr dann zärtlich von hinten über den Kopf und das Gesicht. (Abb. 1)
Dann gleitet Almas Hand vorsichtig zu Elisabeths Haar und führt deren Kopf so, dass er für den Zuschauer (und sie selbst) hinter ihrem eigenen Kopf verschwindet. Für einen Kurzen Augenblick scheint es, als befände sich Alma alleine vor dem Spiegel. (Abb. 2)
Beide tragen nahezu gleiche weiße Nachthemden, was ihre enorme Ähnlichkeit noch mehr hervorhebt. Bereits in der vorangegangenen Szene wurde von Alma im Zusammenhang mit einem Spiegel dies erstmals direkt thematisiert. Sie sagt in dieser Szene:
“(...) sah ich in den Spiegel und dachte: ‚Wir sehen uns ähnlich‘. Du darfst mich nicht falsch verstehen, aber irgendwie sehen wir uns ähnlich. Ich glaube sogar, ich könnte mich in dich verwandeln“. (Bergman, Ingmar: Persona. 1966. Min. 33:25 – 34:06)
Der Spiegel, der eigentlich als Beweis für Individualität dient, führt hier also ins Gegenteil: Er scheint zu beweisen, dass die Identitäten der beiden Protagonistinnen nicht ihre individuellen sind, sondern austauschbar. Tatsächlich scheint Elisabeth am Ende der Szene ja kurz hinter Alma zu verschwinden, Alma vertritt nun ihrer beider Spiegelbild.
Im Verlauf des Filmes vermischen sich nach und nach immer weiter die beiden Personen, nicht nur in Form der Spiegelbilder, sondern auch in der filmischen Realität. Als dies an seinem Höhepunkt angelangt ist, sieht man noch einmal die Spiegelszene, allerdings mit starkem Fokus auf Alma. (Bergman, Ingmar: Persona. 1966. Min. 75:47 – 76:11) Dadurch verschwindet Elisabeth halb aus dem Bild, es wirkt, als wäre sie nur Nebenakteur in der Szene und stünde unter der Kontrolle von Alma, die starr in die Kamera sieht. Die Konflikte der beiden, die auch gewaltsam physisch stattgefunden haben, haben sich nun auch auf das Spiegelbild übertragen: Alma scheint die Oberhand über ihrer beider Identitäten zu haben.
Gegen Ende des Filmes wird ein letztes Mal die gleiche Szene gezeigt. Hier sehen wir aber zunächst einmal nur Alma, die kurz vor der Abreise der beiden alleine vor ihrem Spiegel steht. Man sieht erstmals sowohl sie als auch ihr Spiegelbild. Sie richtet sich ihre Kleidung und fährt sich mit der gleichen Bewegung durchs Haar, wie es Elisabeth in der besprochenen Spiegelszene bei ihr tat. Für einen Moment sieht man die bekannte Szene über die neue Spiegelung gelegt.
Beide Szenen und beide Spiegelungen sind nun gleichzeitig zu sehen. Alma sieht man nun dreimal gleichzeitig (ihren Hinterkopf und den dazugehörigen Kopf von vorne in der Spiegelung, wie auch die Spiegelung, in der sie zusammen mit Elisabeth zu sehen ist.) Elisabeth hingegen ist nur noch einmal zu sehen. Alle vier zu sehenden Personen sind miteinander verwischt, es lässt sich nicht problemlos sagen, bei welcher Person es sich um Bild und bei welcher um Abbild handelt. (Abb. 3) Geht man also im übertragenen Sinne von Umberto Ecos Definition aus, dass ein Spiegel das wahrnimmt, was unsere Augen nicht erkennen können, so kann man diese Szene als Aufspaltung der verschiedenen Identitäten Almas sehen. Selbst Elisabeth könnte eine dieser Identitäten sein, da ja auch sie Alma zum verwechseln ähnlich sieht.

1.3. Zwillinge / Rollentausch
Während ein Spiegel das Medium ist, um etwas doppelt abzubilden, ist ein Zwilling eine eigenständige Person, die nicht notwendigerweise synchron mit ihrem Doppelgänger agieren muss. Das Motiv des Zwillings ist häufig in Literatur, Film und Kunst zu finden. Dabei dienen Zwillinge immer wieder dazu, Verwirrung innerhalb der filmischen Handlung, aber auch beim Zuschauer selbst zu stiften. Dabei können Zwillinge als perfektes Team, aber auch als Gegensatzpaar, beispielsweise in Form von gutem und bösem Zwilling auftreten. (Vgl. Herget, Sven: Spiegelbilder. Das Doppelgängermotiv im Film. Marburg: Schüren Verlag 2009. S.87) Fest steht allerdings, dass Zwillinge trotzdem immer als notwendig zusammengehörend angesehen und miteinander verglichen werden. Häufig steht das Zwillingsmotiv in Verbindung mit einem Rollentausch.
Bei den Protagonistinnen in Persona handelt es sich nicht um biologische Zwillinge. Es wird jedoch so oft auf die enorme optische Ähnlichkeit der beiden angespielt, dass ein Bezug zu dem Zwillingsmotiv als sinnvoll erscheint.
Am Anfang des Filmes im Krankenhaus fällt die Ähnlichkeit der beiden Frauen zunächst nicht prägnant auf. Elisabeth trägt als Patientin ein langes, dunkles Nachthemd und ihre langen, gewellten Haare hängen über ihre Schultern. Alma trägt ihre Berufskleidung als Krankenschwester: Eine weiße Schürze und eine Haube über ihrem kurzen Haar.
Erst in der Abgeschiedenheit der Insel nähern sich die beiden optisch immer mehr aneinander an: In der ersten Szene, in der wir sie auf der Insel sehen, tragen beide helle Oberteile und große Strohhüte. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Almas Hut schwarz und Elisabeths weiß ist.
Bergman drehte Persona wie die meisten seiner Filme in schwarzweiß, obwohl es zu der damaligen Zeit eigentlich schon üblich war, in Farbe zu drehen. Durch die schwarzweiße Bildgestaltung und die Kameraführung von Sven Nykvist entstehen in seinen Filmen immer wieder Chiaroscuro-Effekte, wie sie hauptsächlich in der barocken Malerei zu finden sind. Sie dienten ursprünglich dazu, innere Spannungen und seelische Befindlichkeiten der Figuren zu betonen. (Vgl. http://studiochalkboard.evansville.edu/s-chiaro.html; abgerufen am 15.03.2012) Auch bei Bergmans Werken kann man dies immer wieder beobachten. Durch die starken Schwarzweiß-Kontraste, die sich auch in der Kleidung der Protagonistinnen finden, kann man auch die Nähe der beiden, die sich immer weiter entwickelt, erkennen.
Sind sich beide zu Beginn schon sehr ähnlich, so stehen die Farben ihrer Hüte dennoch im Kontrast zueinander. Auch die Badeanzüge und Morgenmäntel in den darauffolgenden Szenen unterscheiden sich: Beide tragen zwar das gleiche, aber während Almas Kleidung hell und gemustert ist, ist Elisabeths schwarz. Aber je ernster Almas Erzählungen aus ihrer Vergangenheit werden, desto dunkler wird auch ihre Kleidung, desto ähnlicher wird sie Elisabeth.
Schließlich sitzen beide in einer Szene am Küchentisch, tragen schwarze Kleidung, Elisabeths Haare sind zurückgebunden, so dass die an Almas Kurzhaarschnitt erinnern. Sie rauchen und trinken Tee. Dabei ist ihre Sitzhaltung parallel zueinander. Sie sehen hier nicht mehr nur aus wie Zwillinge, sondern schon fast wie die Spiegelung der jeweils anderen, die Realität geworden ist. (Abb. 4)
Dann verschiebt sich die Kameraperspektive so, dass es aussieht, als gehöre Almas Kopf auf ihrer beider Körper. Kurz darauf wird die optische Ähnlichkeit der beiden das erste Mal von Alma direkt angesprochen. Ab diesem Zeitpunkt kleiden sich die beiden auch in nahezu jeder Szene wie Zwillinge.
An der Stelle, als Elisabeths Mann die beiden auf der Insel besucht, führt das Ganze sogar so weit, dass Alma in Elisabeths Rolle schlüpft und sie vor ihrem Mann als dessen Ehefrau vertritt. Alma kann dies aussprechen, was ihrem „Zwilling“ Elisabeth nicht möglich ist.
Alma und Elisabeth agieren oft wie zwei Einzelteile, die nur zusammen ein Ganzes ergeben. Nach und nach scheinen sie eine Symbiose einzugehen. In einer Szene wird dies besonders deutlich: Alma kratzt sich mit ihren Fingernägeln den Arm auf und hält ihn Elisabeth hin. Diese stürzt sich sogleich darauf und beginnt, Almas Blut aufzusaugen. Sie ernährt sich einem Vampir gleich vom Lebenssaft der anderen, nimmt einen Teil von Almas Körper in sich auf. Direkt im Anschluss, schlägt Alma wiederum auf Elisabeth ein. Die beiden können scheinbar nicht ohne einander existieren, fühlen Zuneigung und Hass zugleich. (Vgl. Bergman, Ingmar: Persona. 1966. Min. 71:40 – 74:40)
Der Höhepunkt in Bezug auf das Zwillingsmotiv findet sich sicherlich in der Szene, in der Alma Elisabeths Geschichte offenbart. Plötzlich weiß sie über die Vergangenheit der schweigenden Elisabeth bescheid und konfrontiert sie damit. Dabei sitzen sich beide Protagonistinnen gegenüber. Sie tragen die gleiche schwarze Kleidung, ihre Haare werden von schwarzen Haarbändern zurückgehalten. Dadurch liegt der Fokus stark auf dem hellen Gesicht der jeweiligen Person, das von der schwarzen Kleidung umrahmt ist und die Ähnlichkeit der beiden betont. Es wirkt, als wäre die eine die Spiegelung der anderen. Im Zwillingsmotiv ist also das Spiegelmotiv lebendig geworden. Die Spiegelbilder können ohne das Medium Spiegel eigenständig agieren. Doch nicht nur die Protagonistinnen sind als Zwillinge das lebendig gewordene Spiegelbild der jeweils anderen: Auch die Szene an sich wurde „gespiegelt“, beziehungsweise „verdoppelt“: Man sieht den Monolog Almas zweimal direkt hintereinander, wobei beim ersten Mal ausschließlich Elisabeths Reaktion (Abb. 5) und beim zweiten Mal Alma (Abb. 6) gezeigt wird. Dabei sehen sich beide so ähnlich, dass man als Zuschauer teilweise unsicher ist, welche von beiden man nun gerade sieht. Am Ende der zweiten Ansicht des Monologes, sieht man kurz eine Person, die aus jeweils einer Gesichtshälfte von Alma und einer von Elisabeth besteht. Die „Zwillingshälften“ sind zu einem Ganzen geworden. (Abb. 7)

1.4. Alter Ego:
Der psychologische Doppelgänger

In seinem Werk über Das Unheimliche befasst sich Sigmund Freud aus psychoanalytischer Sicht mit dem Motiv des Doppelgängers. Er sieht darin eine Verwirrung des Ich, die zu einer Ich-Verdopplung, Ich-Teilung oder Ich-Vertauschung führen kann. Für ihn ist der Doppelgänger außerdem Verkörperung der inneren Wünsche, die das Urbild einer Person nicht erfüllen kann. (Vgl. Freud, Sigmund: Das Unheimliche. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2000. S. 257-259) Das Alter Ego einer Person ist also ein Doppelgänger, der die verborgenen Sehnsüchte und Idealvorstellungen des Originals verkörpert, was dem Original nicht möglich ist. Im Zusammenhang damit können unbefriedigte Triebe, Hass, Wut oder Vergebung stehen. ( Vgl. Herget, Sven: Spiegelbilder. Das Doppelgängermotiv im Film. Marburg: Schüren Verlag 2009. S.167)
Der dem Film titelgebende Begriff „Persona“ stammt, wie in vorherigen Kapiteln schon erwähnt, ursprünglich aus dem antiken Theater und steht für die Maske der Schauspieler, mit denen sie andere Rollen annahmen. Aber auch in der Psychoanalyse bekam er eine wichtige Bedeutung, als Carl Gustav Jung den Begriff für seine Theorien übernahm. Die Persona steht hier für
„eine Art Maske, welche einerseits darauf berechnet ist, einen bestimmten Eindruck auf die anderen zu machen [und] andererseits die wahre Natur des Individuums zu verdecken“. (Jung, Carl Gustav. Zitiert in: Roth, Wolfgang: C.G. Jung verstehen. Grundlagen der Analytischen Psychologie. Düsseldorf: Patmos Verlag 2009. S. 69)
Damit sagt er, dass jeder Mensch seinem jeweiligen Umfeld entsprechend verschiedene Masken - Personae - entwickelt, mit dem er auf die entsprechende Umgebung reagiert und sich ihr anpasst. So gliedert er sich entweder ein oder grenzt sich eventuell auch absichtlich ab. Ein Mensch kann zahlreiche unterschiedliche Personae entwickeln, die je nachdem ob man sich gerade im familiären Kreis, unter Freunden, bei der Arbeit oder wo auch immer befindet, ausgetauscht werden. Auch im Verlauf eines Lebens oder unter Veränderungen der Lebensumstände können sich die jeweiligen Personae immer wieder verändern und weiterentwickeln. Jung sieht darin folgendes Problem:
„Die Welt erzwingt ein gewisses Benehmen, und die professionellen Leute strengen sich an, diesen Erwartungen zu entsprechen. Die Gefahr ist nur, dass man mit der Persona identisch wird, so etwa der Professor mit seinem Lehrbuch oder der Tenor mit seiner Stimme... Man könnte mit einiger Übertreibung auch sagen, die Persona sei das, was einer eigentlich nicht ist, sondern was er und die anderen Leute meinen, dass er sei.“ ( Ebd. S. 69)
Man kann also sagen, dass die Persona über einen Menschen Überhand nehmen kann, also irgendwann der psychologische Doppelgänger mächtiger ist, als das Original.
Dies legt nahe, in Bergmans Persona das Motiv einer schizophrenen, gespaltenen Persönlichkeit zu sehen. Tatsächlich wird der Film auch häufig auf diese Art gedeutet. (Siehe dazu beispielsweise http://www.tip-berlin.de/berlinale2011/retrospektive-ingmar-bergman; abgerufen am 16.03.2012) Bergman selbst bezeichnete seinen Film als eine „Komposition verschiedener Stimmen im ‚Concerto grosso‘ derselben Seele“. (Bergman, Ingmar, zitiert in: http://www.vdfk.de/img/user/0609_final.pdf, abgerufen am 16.03.2012)
Trotzdem wäre es sicherlich falsch zu sagen, Persona sei ein Film über Schizophrenie. Es ließe sich schon von vorneherein keine Lösung dafür finden, wer von den beiden Protagonistinnen nun die Schizophrene, die Kranke ist und wer die Einbildung. Tatsächlich kommt man zu keiner befriedigenden Lösung, die die Handlung komplett enträtselt. Auch eine mögliche schizophrene Erkrankung einer der beiden Protagonistinnen fügt die einzelnen Handlungselemente in keinen kohärenten Zusammenhang.
Vielmehr sollte man die einzelnen Motive, seien es Spiegelungen, Zwillinge oder Alter Ego, symbolisch betrachten und nicht als Elemente einer im Sinne eines Hollywoodfilmes logischen Handlung. Dies ist auch wichtig für die Betrachtung von Persona als postmodernem Film.

2. Persona als postmoderner Film
Wie zuvor schon erwähnt, lässt sich Persona nicht auf die Weise verstehen, wie sich die Handlung eines typischen Hollywoodfilmes nachvollziehen ließe. Hier gibt es spätestens am Ende eine Auflösung, die die vorherigen Ereignisse erklärt und ein komplettes Bild zusammenfügt. Hat man Persona zuende gesehen, so bleibt man allein mit vielen einzelnen Eindrücken, die für sich stehen und oft scheinbar keinen logischen Zusammenhang zueinander haben. Für Persona gibt es keine Auflösung wie im klassischen Hollywoodfilm.
Als Zuschauer bekommt man permanent scheinbare Hinweise zur Deutung des Filminhalts geliefert, die aber nur zu weiteren möglichen Hinweisen und schließlich ins Leere führen. So lässt beispielsweise auch die Erklärung einer Schizophrenie am Ende des Filmes noch viele Fragen offen.
Innerhalb der Handlung finden sich zudem immer wieder Szenen, die den Zuschauer in seiner gewohnten Haltung stark verunsichern. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn man im Film ein Spiegelbild sieht, obwohl sich die abgebildeten Personen nicht vor dem Spiegel befinden.
Typisch postmodern sind auch die im Film enthaltenen Anspielungen auf seine eigene Medialität. Man sieht zwischendurch beispielsweise kurz das Kamerateam oder am Anfang und Ende den Projektor, der die Filmrolle abspielt.
(Das Thema der Medialität ist für Persona und auch den im Anschluss zu besprechenden Film Mulholland Drive gerade in Bezug auf die Postmoderne sicherlich sehr interessant. Eine genauere Untersuchung dieses Themengebietes würde hier jedoch den Rahmen erheblich sprengen. Deswegen beziehe ich mich in dieser Arbeit ausschließlich auf das Motiv des Doppelgängers. Ein Blick in andere Arbeiten über die Medialität in den Filmen Bergmans oder Lynchs ist bei Interesse aber in jedem Fall empfehlenswert.)
Es lässt sich sagen, dass es sich bei Persona um einen Essayfilm handelt, der sich mit bestimmten Themen wie beispielsweise der Hinterfragung von Identität auseinandersetzt, und neue Gedankengänge anregt. Persona liefert also keineswegs Antworten, sondern stellt dem Zuschauer vielmehr Fragen.
Typisch für die Filme Bergmans aus den 60er Jahren ist auch die mitschwingende Kritik an der Moderne im Sinne von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die ihre Dialektik der Aufklärung mit folgenden Worten beginnen:
„Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen.“ ( Adorno, Theodor W.; Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag 1969. S. 9)
Man kann also sagen, dass die Welt entmystifiziert wird, da man beispielsweise anstelle von Gott die Wissenschaft und den Kapitalismus gesetzt hat.
Bergmans Filme handeln oft von Menschen, die in dieser Welt auf der Suche nach dem Sinn des Lebens sind. In seiner Kammerspieltrilogie kann man dies vor allem in Form von der verzweifelten Suche nach Gott erkennen: In Wie in einem Spiegel (1961) gibt es zwar so etwas wie einen Gott, allerdings nur in Form eines Spinnenungeheuers, welches eine psychisch kranke Frau sieht. Im zweiten Teil der Trilogie, Licht im Winter (1962), versucht eine kleine Gemeinde verzweifelt mit regelmäßigen Gebeten und Gottesdienstbesuchen an Gott festzuhalten, obwohl niemand, am wenigsten der Pfarrer, an einen Gott glaubt. In Das Schweigen (1963) wird ein Gott nicht mehr thematisiert. Stattdessen versuchen die Protagonistinnen in einer fremden Stadt, in der keine Kommunikation möglich ist, ihrem Leben einen Sinn zu geben. Die eine stürzt sich in eine Welt voller erotischer Abenteuer und vernachlässigt dabei ihren kleinen Sohn, während die andere als Kettenraucherin und Alkoholikerin ihrem Ende entgegensieht.
In Persona liest Alma in einer Szene Elisabeth Folgendes aus ihrem Buch vor:
„All diese Ängste, die wir in uns tragen, unsere vereitelten Träume, die unerklärliche Grausamkeit, unsere Qual bei dem Gedanken ausgelöscht zu werden, die schmerzvolle Erkenntnis unseres Zustandes, haben unsere Hoffnung auf Errettung jenseits dieser Welt allmählich herauskristallisiert. Schreie unseres Glaubens und unseres Zweifels in die Finsternis und Stille sind einer der fürchterlichsten Beweise unserer Verlorenheit, der angstvollen Erkenntnis, die ausgesprochen bleibt.“ (Schwester Alma in: Bergman, Ingmar: Persona. 1966. Min. 22:16 – 22:53)
Auch in Persona gibt es scheinbar keinen festen Anhaltspunkt, keinen Gott. Auf der Suche nach dem Sinn ihres Lebens scheinen sich die Protagonistinnen in der Finsternis ihres eigenen Ichs zu verlieren.
In einer späteren Szene hört man aus dem Off eine Stimme sagen:
„Ich für meinen Teil glaube, dass es einfach eine Inflation an Worten wie 'Leere‘, 'Einsamkeit‘, 'Entfremdung‘, 'Schmerz‘, 'Hilflosigkeit‘ ist“. ( Bergman, Ingmar: Persona. 1966. Min. 44:34 – 45:10)
Auch dies ist wieder die Beschreibung einer Welt, in der die Menschen ziel- und sinnlos vor sich hinvegetieren. Einer Welt, die sich nach und nach selbst im Nichts auflösen wird. Und genau dies passiert auch: man sieht, wie das Filmbild zerfetzt wird und von innen heraus verbrennt, als würde alles aus sich selbst heraus verschlungen.
Am Ende des Filmes wird der Zuschauer mit den großen Fragen der Philosophie alleine gelassen: Was ist der Sinn unseres Lebens, unserer Existenz? Wofür gibt es das alles? Gibt es jemanden, der, wie es Alma formuliert, „die Schreie des Glaubens“ erhört? Innerhalb von Persona wird dies am Ende des Filmes zumindest angedeutet:
Elisabeth bricht ihr Schweigen und sagt: „nichts“.

Teil III
1. Das Doppelgängermotiv in David Lynchs Mulholland Drive (2001)

„ No hay banda. Es gibt keine Band. Das ist alles eine Bandaufnahme. No hay banda. Und dennoch hören wir eine Band. (...) Es ist alles aufgezeichnet. No hay banda. Es ist alles ein Tonband. Es ist eine Illusion. Hören Sie!” (Lynch, David: Mulholland Drive. 2001. Min. 100:00 - 143:00)
Spätestens wenn der dämonisch wirkende Moderator im Club Silencio diese Sätze verkündet, kann man sich sicher sein, dass er damit nicht nur die Hauptcharaktere im Zuschauerraum des Club Silencio im Film selbst, sondern genauso die Zuschauer im Kinosaal anspricht.
Mit dieser Szene verschwindet für den Zuschauer endgültig jeder Anhaltspunkt, der ihm für die Erklärung des bisher Gesehenen wichtig erschien. Die Realität scheint verdreht zu sein, alles ist auf den Kopf gestellt. Man sieht nur noch diesen Mann, der einem mit höhnischem Grinsen verrät, dass alles, woran man bisher geglaubt hat, nur eine Illusion ist.
Die Rede ist hier von Mulholland Drive, einem Film aus dem Jahre 2001 von dem Regisseur David Lynch. Lynchs Filme haben weltweit Kultstatus erreicht. Die Meinungen darüber polarisieren stark, was damit zusammenhängen könnte, dass seine Filme sich stark von den gängigen Hollywoodproduktionen unterscheiden.
Ähnlich wie bei Bergmans Persona ist es bei Mulholland Drive nahezu unmöglich festzulegen, worum es eigentlich geht, da die Filme sowohl auf narrativer als auch auf ästhetischer Ebene unzählige Deutungen zulassen. Sucht man bei Google nach Interpretationen für Lynchs Mulholland Drive, werden fast 500.000 Ergebnisse angezeigt. (Vgl. Suchvorgang auf http://www.google.de/ mit den Begriffen „Mulholland Drive Interpretation“ am 18.05.2012)
Sowohl im Internet als auch in der Fachliteratur hat sich meist die Interpretation durchgesetzt, dass es sich bei den ersten beiden Dritteln des Filmes um eine Traumversion der Realität handelt. Wenn ich diese Interpretation in meiner Arbeit als roten Faden hinzuziehe, so soll im Vorhinein festgehalten werden, dass dies keineswegs die einzige und richtige Erklärung für den Film ist, da diese, genau wie bei Persona, schlichtweg nicht existiert.
Auf narrativer Ebene handelt Mulholland Drive von der aus einer kanadischen Kleinstadt stammenden Diane Selwyn, die einen Tanzwettbewerb gewinnt und daraufhin Schauspielerin werden möchte. Nachdem ihr ihre Tante, die in der Filmbranche arbeitete, etwas Geld hinterlassen hat, beschließt Diane nach Hollywood zu gehen, um dort ihr Glück zu suchen. Sie lernt die erfolgreiche Schauspielerin Camilla Rhodes kennen und verliebt sich in sie. Diane muss jedoch feststellen, dass Camilla sie nur als eine von ihren vielen Affären ausnutzt. Diane wird von der Gesellschaft Hollywoods nicht akzeptiert und von der Filmbranche abgelehnt. In ihrer Verzweiflung über die gescheiterte Karriere und ihre unglückliche Liebe zu Camilla, engagiert sie einen Killer, der diese umbringt.
Diane verarbeitet ihre Gedanken und Erlebnisse, indem sie traumhaft eine falsche Realität aufbaut. Sie ist nun die talentierte und beliebte Jungschauspielerin Betty Elms, die durch ihr Talent eine große Karriere in Hollywood erwartet. Zudem wird sie zur Vorbildfigur der unter Amnesie leidenden Rita, mit der sie eine leidenschaftliche Liebesbeziehung beginnt.

1.1. Schauspielerei
Ähnlich wie Persona erzählt auch Mulholland Drive die Geschichte einer Schauspielerin. Diane Selwyn kommt nach Hollywood, um dort Karriere zu machen. Doch sie stellt fest, dass dort nicht das Talent zählt, sondern die Beziehungen, die man zu den richtigen Personen hat. Sie verliebt sich in die erfolgreiche Schauspielerin Camilla Rhodes, muss aber schnell feststellen, dass diese ihre Liebe nicht erwidert, sondern sie nur als eine von vielen Affären als Zeitvertreib ausnutzt. Stattdessen verlobt sich Camilla mit dem berühmten Regisseur Adam Kesher, der sie im Gegensatz zu Diane bei ihrer Karriere unterstützen kann. Gefühle existieren nicht, das Leben der Menschen ist nach Erfolg und Ruhm ausgerichtet. Die Menschen verschließen ihre Gefühle komplett und scheinen ausschließlich im Sinne von C.G. Jung aus ihrer ihrem jeweiligen Umfeld angepassten Persona zu bestehen. Sie spielen permanent Rollen, um den höchst möglichen Profit zu erzielen.
Auch in ihrer Traumversion von der Welt ist Diane als Betty eine angehende Jungschauspielerin. Doch in dieser Version entwickelt sich alles anders: Hier wird tatsächlich Talent belohnt und die Schauspielerei kommt zumindest auf den ersten Blick nur dann zum Einsatz, wenn sie gefragt ist. Im Alltag ist jeder Mensch er selbst.
In einer Szene übt Betty mit Rita für ihr Vorsprechen. Beide sprechen mit verteilten Rollen. Betty gestikuliert dabei wild und spielt völlig übertrieben und unglaubhaft. Das Ganze wirkt wie die Probe zu einer Schultheateraufführung. (Vgl. Lynch, David: Mulholland Drive. 2001. Min. 66:40 – 67:50) Das tatsächliche Vorsprechen später wirkt dagegen wie das genaue Gegenteil: Der Regisseur gibt den Schauspielern die Anweisung, „nicht realistisch zu spielen, es sei denn es werde realistisch“. Danach scheint Betty plötzlich nicht mehr eine Rolle zu spielen, sondern sich in diese Rolle zu verwandeln. Aus der schüchternen, liebenswerten Betty wird eine leidenschaftliche Femme Fatale. (Vgl. Ebd. Min. 72:04 – 76:25) Für den Augenblick scheint es, als habe ein Identitätswechsel stattgefunden. Die Rolle, die sie in dieser Szene verkörpert, erinnert stark an die reale Camilla Rhodes, die Diane Selwyn verführt und enttäuscht hat.

1.2. Spiegelbilder
Das Motiv des Spiegels scheint besonders in einer Szene von großer Wichtigkeit: Die an Gedächtnisverlust leidende, dunkelhaarige Protagonistin hat sich in Bettys Wohnung geflüchtet. Als Betty sie dort entdeckt und nach ihrem Namen fragt, ist sie tief verstört. Ihre Identität ist ihr völlig unbekannt. Nun sieht die Frau in den Spiegel. Dort erblickt sie sowohl ihr eigenes Abbild, als auch die Spiegelung eines Filmplakates im Vergrößerungsspiegel. (Abb. 8) Es ist ein Plakat des Hollywoodklassikers Gilda aus den vierziger Jahren und zeigt die Hollywooddiva Rita Hayworth, die die Hauptrolle spielte. Die Frau nimmt von nun an selbst den Namen „Rita“ an. (Vgl. Ebd.. Min. 22:35 – 24:25)
Die beiden Abbilder der Spiegelungen verschmelzen in der Realität in Gestalt der gedächtnislosen Frau in einer Person zusammen. Ihr Identitäten vermischen sich. Sicherlich wurde dazu nicht zufällig gerade dieses bestimmt Filmplakat gewählt.
Tatsächlich gibt es einige Parallelen zwischen Mulholland Drive und den Motiven in Gilda. Die Protagonistin in Gilda provoziert auf der einen Seite mit ihrer Erotik, während sie auf der anderen Seite eine fast schon unterwürfige Rolle einnimmt. Dasselbe trifft auch auf die brünette Protagonistin in Lynchs Mulholland Drive zu: Als Rita ist sie hilflos und komplett auf Betty angewiesen, während sie als Camilla mit ihrer Erotik sämtliche Männer und Frauen in Hollywood um den Finger wickelt und ausnutzt.
Schauspielerin Rita Hayworth war zudem ein typischer Hollywoodstar der vierziger Jahre: Wenn in Hollywood ein gewisser Typ gesucht wurde, der zum Hollywoodstar gemacht werden sollte, ging man zunächst auf die Suche nach potentiellen Talenten. Hatte man solch ein Talent gefunden, wurde der jeweiligen Person ein Künstlername gegeben und eine passende Biografie dazu erfunden, die zu dem gesuchten Startypen passte. Danach wurde ihm Personal zugeteilt, welches dafür sorgte, dass er sich zu seiner neuen Biografie passend verhielt und kleidete. (Vgl. Sennett, Robert S.: Traumfabrik Hollywood. Wie Stars gemacht und Mythen geboren wurden. Hamburg/Wien: Europa Verlag GmbH 2000. S. 28-30) Auch Rita Hayworths Karriere wurde auf diese Weise organisiert. Aus der schüchternen mexikanischen Tänzerin Margarita Cansino wurde also Rita Hayworth, die sich nach den Vorlieben ihrer Ehemänner und ihrer Fans ihre Haare zuerst rot, dann blond, dann wieder rot färbte. Sie wurde in die High Society eingeführt und zum Sexsymbol gemacht. ( Vgl. Ebd. S. 31,32)
Hayworth erkrankte schließlich an Alzheimer, einer Krankheit, die nach und nach zu immer weiteren Gedächtnisverlusten führt. (Vgl. http://www.imdb.com/name/nm0000028/bio; abgerufen am 18.05.2012) Auch dies kann man sicherlich als Parallele zu der gedächtnislosen dunkelhaarigen Frau in Mulholland Drive sehen.
Bei der Betrachtung des Spiegelmotives in Persona wurde ja bereits herausgestellt, dass ein Spiegel einerseits zur Vergewisserung unseres Selbst dient, andererseits aber auch unsere eigene Identität hinterfragen kann. Für Rita ist der Spiegel zunächst der einzige Anhaltspunkt, den sie über ihre Identität hat. Aber wie in Persona erkennt sie im Spiegel nicht nur sich selbst, sondern in Form von Rita Hayworth auch eine Art Doppelgängerin, mit der sie außerhalb des Spiegels verschmilzt. Sie nimmt Ritas Namen an und macht sie somit zu einem Teil von sich selbst.

1.3. Zwillinge / Rollentausch
In Bergmans Persona konnte man beobachten, wie sich die beiden Protagonistinnen im Verlaufe des Filmes immer ähnlicher wurden. Dies war sowohl optisch als auch innerlich der Fall. Schließlich verschmolzen sogar beide Personen zu einer zusammen. Etwas ähnliches kann man auch bei Mulholland Drive beobachten. (Vgl. Lynch, David: Mulholland Drive. 2001. Min. 92:21 – 98:10)
Nachdem Betty und Rita die Leiche Diane Selwyns gefunden haben, beginnt sich ihre Realität langsam aufzulösen. Die Leiche innerhalb des Filmes befindet sich an der gleichen Stelle wie die schlafende Diane, die gerade die gesamte bisherige Filmhandlung träumt, beziehungsweise an der Stelle, an der am Ende des Filmes Dianes Leiche liegen wird. Traum und Realität überschneiden sich hier also, was dazu führt, dass die doppelten Welten durcheinander geraten. Auf bildlicher Ebene sieht man dies, durch die mehrfach übereinander gelegten Aufnahmen der Protagonistinnen. Sie sind nun, ähnlich wie in der letzten Spiegelungsszene in Persona, mehrmals gleichzeitig zu sehen. Ein Individuum wurde in mehrere Identitäten gespalten, ist nicht mehr klar erkennbar. (Abb. 9) Der Leichenfund bedeutet zudem, dass Ritas letzte Hoffnung herauszufinden, wer sie eigentlich ist, verloren gegangen ist. In der darauffolgenden Szene wird sie sich nun eine neue, künstliche Identität zulegen. Sie schneidet sich ihr Haar ab, bis Betty sie davon abhält und selbst die Kreierung von Ritas neuer Person(a) übernimmt: In der nächsten Einstellung sehen wir Rita mit Perücke. Sie trägt nun dieselbe Frisur wie Betty und sieht ihr auch wie eine Zwillingsschwester ähnlich. Beide betrachten sich im Spiegel, was natürlich wieder das Thema der Selbstidentifizierung aufgreift. Die Szene erinnert stark an die Spiegelszene aus Persona, in der Alma Elisabeths Kopf führt wie eine Puppe. Betty steht neben starren Rita und hat den Arm um sie gelegt, als präsentiere sie ihre Doppelgängerin als lebendige Puppe. (Abb. 10)
Ähnlich wie bei Persona führt die enorme optische Ähnlichkeit der Protagonistinnen gleichzeitig zum Verschmelzen, aber auch zur Trennung der beiden: Während in Persona die Beziehung von Alma und Elisabeth zu körperlicher Nähe und Zuneigung führt, die sich in Hass wandelt, so erreicht die Beziehung von Betty und Rita in einer gemeinsamen Liebesnacht ihren Höhepunkt, dem kurz darauf aber das Ende Dianes Traumes und somit auch ihrer glücklichen Beziehung, folgt.
Auch am Ende von Mulholland Drive, wenn man durch episodische Rückblenden die Vorgeschichte von Diane und Camilla erfährt, kann man das Zwillingsmotiv erkennen. Allerdings in genau anderer Weise als zuvor im Traum: Dort war es Rita, die zum Zwilling Bettys wurde, in der Realität ist es aber Diane, die Camilla als ihre große Liebe und ihr Idol sieht und sich ihr auch optisch versucht anzunähern.

1.4. Alter Ego:
a) Der psychologische Doppelgänger

Lynchs Filme werden häufig mit Theorien der klassischen Psychoanalyse nach Sigmund Freud in Verbindung gesetzt, sei es in Zusammenhang mit dem von ihm beschriebenen Ödipuskomplex, dem Unheimlichen oder seiner Traumdeutung. (Vgl. Nochimson, Martha: The Passion of David Lynch. Wild at Heart in Hollywood. Austin: University of Texas Press 1997. S. 18, 19) Betrachtet man Mulholland Drive im Sinne von Freuds Traumdeutung, so ist der erste Teil des Filmes der Traum von Diane Selwyn, indem sie ihre Erinnerungen und Erlebnisse verarbeitet. Laut Freud stammt alles Material, aus dem sich die Trauminhalte zusammensetzen, auf irgendeine Weise von Erlebtem ab. Das heißt, im Traum wird reproduziert, beziehungsweise erinnert. Dabei kann es sich um Erlebnisse aus der näheren Vergangenheit, aber auch um verdrängte Erinnerungen aus der Kindheit handeln. (Vgl. http://www.uni-koeln.de/phil-fak/fs-psych/serv_pro/skripte/allg2/Traumdeutung.pdf; abgerufen am 19.03.2012) Freud ist der Ansicht, dass ein Traum oft „eine sonst unterdrückte Triebregung (einen unbewussten Wunsch)“ zum Anlass hat. (Vgl. Freud, Sigmund: Abriß der Psychoanalyse. Einführende Darstellungen. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2009. S. 61) Jeder Traum dient zur Befriedigung eines Triebes, beispielsweise der „Auflösung eines Konfliktes, Aufhebung eines Zweifels oder Herstellung eines Vorsatzes“. ( Vgl. Ebd. S. 65)

Übertragen auf Mulholland Drive bedeutet dies, dass der letzte Teil des Filmes aus nicht chronologisch angeordneten Realitätsschnipseln besteht, während die ersten beiden Drittel des Filmes die geträumte Version von Dianes Realität ist, in der sie ihre Erlebnisse verarbeitet. Allen voran wird ihre hoffnungslose Liebe zu Camilla Rhodes und ihr schlechtes Gewissen in Hinsicht auf den Mord, den sie an ihr verübt hat, thematisiert.
Im Film existiert demnach zu jedem Protagonist der Realität auch sein jeweiliger Doppelgänger innerhalb von Dianes geträumter Version der Realität.
Aus der erfolglosen, depressiven Diane, die aus Enttäuschung und Eifersucht ihre große Liebe ermorden ließ (Abb. 11), wird die talentierte, erfolgreiche Jungschauspielerin, die ihr Leben selbst in die Hand nimmt und eine romantische Liebe findet (Abb. 12).
Camilla Rhodes, eine Filmdiva, die durch ihre Beziehungen zu wichtigen Filmleuten in Hollywood erfolgreich wurde, wird zur gedächtnislosen, verschüchterten Rita, die ganz auf Bettys Hilfe angewiesen ist und zu ihr aufschaut. Zwischen beiden entwickelt sich eine romantische Liebesbeziehung.
Betty wirkt im Gegensatz zu Rita viel selbstsicherer, intelligenter und vorbildhafter. Dies steigert sich sogar so weit, dass Rita auch optisch Betty ähneln will und dies mit Hilfe einer Perücke tut. Die Suche nach Ritas Identität, die einer Detektivgeschichte gleicht, führt die beiden Frauen schließlich zur Entlarvung des Traumes und dadurch zu Bettys wahrer Identität.
Neben der Geschichte von Rita und Betty werden parallel noch verschiedene andere Episoden erzählt, die scheinbar nichts mit den Erlebnissen der beiden Frauen zu tun haben. Erst am Ende, als das Traumhafte enttarnt wird und man etwas über die Realität erfährt, scheinen die Geschichten, zumindest teilweise zusammenzulaufen.
So sieht man in einer Episode einen Mann mit seinem Therapeuten in dem Diner „Winkies“ sitzen. Er erzählt ihm von einem Albtraum, in dem er einen Mann hinter dem Diner sieht, der „die Ursache“ für seine nicht näher erläuterte Angst ist. (Vgl. Lynch, David: Mulholland Drive. 2001. Min. 11:12 - 15:57) Als die beiden nachsehen, erscheint tatsächlich ein verdreckter, seltsam statisch wirkender Mann, für einen kurzen Moment und der Patient bricht zusammen. In Dianes Realität sieht man den Therapeuten und seinen Patienten nicht, aber Diane und der Killer sitzen auf denselben Plätzen im Diner wie die beiden, als sie ihm den Mordauftrag an Camilla erteilt. (Vgl. Ebd. Min. 130:30 - 132:18) Zudem ist es derselbe scheinbar obdachlose Mann, dessen Erscheinen zum Zusammenbruch von dem Patienten führt, der am Ende des Filmes in der (vermutlichen) Realität das ältere Ehepaar hinauslässt, welches Diane in den Selbstmord treibt. Man könnte spekulieren, dass es sich bei diesem obdachlosen Mann (der genauso wie die Betty von der Schauspielerin Naomi Watts verkörpert wird) um eine Metapher für Dianes schlechtes Gewissen handelt und die Szene mit dem Therapeuten und seinem Patienten eine Vorausdeutung auf Dianes späteren Selbstmord ist.
In drei unterschiedlichen Zusammenhängen im Film erscheint ein älteres Ehepaar. Ganz am Anfang des Filmes sieht man die beiden zusammen mit Diane (oder Betty?) kurz nach Bildern von Jitterbug-Tänzern. (Vgl. Ebd. Min. 00:00 - 01:47) Desweiteren begegnen sie Betty Elms bei ihrer traumhaft wirkenden Ankunft in L.A. und umsorgen sie liebevoll. Als Betty jedoch weg ist, beginnen sie auf eine seltsame, abstoßende Art zu lachen. Das perfekt wirkende Hollywood bekommt dadurch schon bei Bettys Ankunft einen bitteren Nachgeschmack für den Zuschauer. (Vgl. Ebd. Min. 17:05 - 19:02) Das ältere Ehepaar begegnet Diane schließlich auch in der Gegenwart, allerdings in der Gestalt von kleinen, dämonischen Wesen, die unter ihrer Tür hindurch kriechen, danach plötzlich wieder groß werden und Diane in den Wahnsinn und Selbstmord treiben. (Vgl. Ebd. Min. 132:26 - 135:25) Dem Zuschauer, der die Geschichte um Betty Elms bisher als Traum und die Geschichte um Diane Selwyn als Realität, angesehen hat, wird hier der Boden unter den Füßen weggerissen, da diese völlig surreale Szene am Ende das komplette Realitätsverständnis noch einmal außer Kraft setzt. Desweiteren fällt es schwer, die erste Szene mit dem späteren Auftauchen des älteren Ehepaares in Verbindung zu setzen. Diane erzählt an einer Stelle im Film, dass sie einen Jitterbug-Wettbewerb gewonnen hat und daraus der Wunsch entstanden ist, Schauspielerin zu werden. Könnten die beiden älteren Personen Verwandte von Diane sein, die sie bei ihrer Karriere unter Druck gesetzt haben? Ist es dieser Karrieredruck, der alle weiteren Geschehnisse nach sich zieht? Ein weiteres Mal bleiben viele ungeklärte Fragen.
Adam Kesher ist in der vermutlichen Traumversion, sowie in der Realität ein junger Regisseur in Hollywood. In der Realität scheint er aus einer wohlhabenden Familie zu stammen, die in Hollywood bekannt ist. Wieder einmal spielt Lynch also darauf an, dass Beziehungen und der gute Ruf in Hollywood alles bedeuten, dass man auch außerhalb einer Filmdrehs permanent in einer Rolle sein, also im Sinne von C.G. Jung stark ausgeprägte „Personae“ haben muss. Dafür könnte auch sprechen, dass er mit Camilla Rhodes, die scheinbar alles dafür tut, um ein Star zu sein, verlobt ist. In der Traumwelt hat Kesher es lange nicht so einfach: Er wird von den unterschiedlichsten Instanzen erniedrigt und erpresst, hat keine künstlerische Freiheit. Auch privat könnte es nicht schlechter laufen: Er wird vom Liebhaber seiner Frau aus seinem eigenen Haus geworfen und ist pleite. Die Situation Keshers in der Traumwelt ähnelt der von Diane in der Realität auffällig. Im Gegensatz dazu hat Kesher in der Realität das, was Betty in der Traumwelt hat: Erfolg im Beruf und eine feste Liebesbeziehung zu Camilla (beziehungsweise Rita).
Der Killer, der Camilla im Auftrag von Diane tötet, ist in der Traumwelt ein tollpatschiger Dieb, der eher versehentlich zum mehrfachen Mörder wird. (Vgl. Ebd. Min. 34:47 - 39:11) Auch dies könnte dafür sprechen, dass Diane in ihrem Traum ihr schlechtes Gewissen zu verarbeiten versucht. So wird aus dem blutrünstigen Mörder ein eher bedauernswerter Kleinkrimineller aus der unteren Gesellschaftsschicht.
Die Figur des Cowboys ist sehr ungenau definiert. Er tritt in der Traumwelt als Erpresser Keshers auf. In der Realität weckt er Diane aus ihrem Alptraum auf und ist ebenfalls auf der Party, auf der alle Geschehnisse zusammenlaufen, einmal kurz zu sehen. Alles in allem kann man ihn sehr schlecht zuordnen. Er wirkt wie eine Figur aus einem Western, die irgendwie in diesen Film hineingerutscht ist. Obwohl er eigentlich nichts wirklich Bedeutsames sagt oder tut, wirkt es dennoch, als wäre er wichtig für alle Zusammenhänge.
Interessant ist zuletzt, dass die Haupcharaktere Diane Selwyn und Camilla Rhodes im Traum zu Betty Elms und Rita werden, es aber dennoch auch in der Traumwelt Figuren mit den realen Namen der Protagonisten gibt.
So weist die Diane Selwyn des Traumes einige Parallelen zu der Diane Selwyn der Realität auf. Sie scheint eine einsame Frau zu sein, da ihre Leiche nach ihrem Tod einige Zeit in ihrer Wohnung liegt, ohne dass jemand zu bemerken scheint, dass sich dort nichts mehr tut. Erst Betty und Rita entdecken schließlich Dianes verwesten Körper, als sie auf der Suche nach Ritas Identität sind und finden somit eher Bettys als Ritas wahre Identität.
Über die Camilla Rhodes der Traumwelt erfährt man sehr wenig. Sie ist Schauspielerin und bewirbt sich um die Hauptrolle in Keshers neuem Film. Kesher wird von verschiedensten Seiten unter Druck gesetzt, dass sie die Hauptrolle bekommen soll. Alles wirkt wie eine große Verschwörung, nur der eigentliche Sinn dahinter bleibt verborgen.
Man kann zusammenfassend sagen, dass die realen Personen fast immer das Gegenteil ihrer Doppelgänger in der geträumten Version verkörpern. Oft tragen die Doppelgänger auch dazu bei, das schlechte Gewissen von Diane zu verarbeiten. Doch dies gelingt nicht: Auch in der Realität wird sie von ihrer Tat eingeholt und schließlich in den Wahnsinn und den Selbstmord getrieben.

b) Der soziologische Doppelgänger
Bei der Besprechung von Persona hat sich herausgestellt, dass der Film von der vergeblichen Suche nach dem Sinn des Lebens handelt und die Protagonistinnen auf der Suche danach ihr eigenes Ich verlieren. Es gibt keinen Gott mehr in der Welt, stattdessen existiert nur Leere, das Nichts.
In der Welt von Mulholland Drive kann man eine weitere Entwicklung dieses Motives sehen. Auch hier existiert kein Gott. Stattdessen ist der Kapitalismus an seine Stelle gerückt. Nicht umsonst spielt die filmische Handlung in Hollywood. Die Menschen sind allein darauf ausgerichtet möglichst schön und erfolgreich zu sein. Alles was zählt, ist der Ruhm, die Anerkennung und der Neid der Mitmenschen. Wahre Freundschaft existiert nicht. Zwischenmenschliche Beziehungen finden statt, um den Status in der Gesellschaft zu erhöhen oder die Langeweile zu vertreiben.
Gilles Deleuze und Félix Guattari liefern in ihrem Werk Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie einen Deutungsansatz, der sich dem Phänomen der Identitätsverdoppelung nicht aus psychologischer, sondern aus soziologischer Sicht annähert.
Was in der Psychoanalyse als das Unbewusste bezeichnet wird, fassen Deleuze und Guattari in eine Maschinenbegrifflichkeit. Dabei sehen sie natürliche und gesellschaftliche Vorgänge als miteinander verbundene Prozesse an. (Vgl. Ott, Michaela: Gilles Deleuze zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag 2005. S. 98) Im Gegensatz zur Psychoanalyse, die das Unbewusste im Zusammenhang mit dem ödipalen Verhalten und dem Mangel an etwas sieht, sind die von ihnen eingeführten „Wunschmaschinen“ von Wünschen geleitet. In Verbindung mit dem Kapitalismus führt dies laut Deleuze und Guattari zu einer „ungeheuren schizophrenen Ladung“, da der Kapitalismus nicht aufhört „seine Entwicklungstendenz zu durchkreuzen und zu hemmen wie gleichermaßen sich in sie zu stürzen und zu beschleunigen“ und „seine Grenze wegzustoßen und sich ihr zu nähern“. (Vgl. Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1977. S. 45)
Das heißt, dass der Kapitalismus unseren „Wunschmaschinen“ die echten Wünsche, nach denen sich jeder Mensch von Natur aus sehnt, versagt und ihnen stattdessen eine Ersatzbefriedigung bietet. Wir sehnen uns nach Liebe, Geborgenheit und Anerkennung und befriedigen diese Sehnsüchte im Kapitalismus mit Konsumgütern. Als Schizophrene bezeichnen Deleuze und Guattari nun diejenigen, die sich durch die kapitalistischen Waren nicht ersatzbefriedigen lassen, sondern sich ihren natürlichen Begierden hingeben.
Der Mensch der kapitalistischen Gesellschaft hat keine festen Anhaltspunkte mehr, die Religion verliert an Bedeutung, in den Vordergrund rückt das Streben nach Erfolg, Macht und Geld. Die Dinge wandeln sich rasend schnell, man muss seinen gesellschaftlichen Pflichten hinterhereilen, um sie erfüllen zu können. Wir brauchen einen gewissen gesellschaftlichen Status, um uns behaupten zu können. So sind die in den Wunschmaschinen produzierten Phantasien „niemals individuell“, sondern immer „Gruppenphantasien“. (Vgl. Ebd. S. 40) Der Schizophrene verirrt sich nun „stets taumelnd, strauchelnd, unaufhörlich wandernd, sich verirrend immer tiefer in die Deterritorialisierung“ der kapitalistischen Gesellschaft. (Ebd. S. 46) Er ist also der typische Kranke unserer Gesellschaft, der sich mit der damit verbundenen Unsicherheit nicht arrangieren kann.
Betty ist in der Welt Hollywoods also laut Deleuze und Guattari die Schizophrene, da sie sich in Camilla verliebt und nach wahrer Zuneigung sehnt, diese in ihrer Welt aber nicht bekommen kann. Deswegen spaltet sich ihr Ich.

2. Mulholland Drive als postmoderner Film
Am Anfang dieser Arbeit habe ich anhand von einem Text Umberto Ecos versucht zu verdeutlichen, dass die Kunst der Postmoderne hauptsächlich auf Verunsicherungen beruht, die dadurch entstehen, dass unser Drang nach Interpretation von Zeichen und Symbolen nicht gestillt werden kann.
Bereits bei der Analyse von Bergmans Persona hat sich herausgestellt, dass dies in Verbindung mit dem Doppelgängermotiv in besonderem Maße zutrifft. Dadurch, dass Identität nicht mehr individuell ist, sondern sich aufspalten und mit anderen Identitäten vermischen kann, entsteht eine große Verunsicherung. Als Zuschauer ist man in solchen Fällen fast schon gezwungen, nach einer möglichst logischen Erklärung zu suchen, die keine Fragen mehr offen lässt. Bei Persona konnte man zu keiner befriedigenden Lösung kommen. Auch die Auflösung der Handlung als ein Fall von Schizophrenie warf erneute Fragen auf.
Ähnlich verhält es sich mit Mulholland Drive von David Lynch, der von Filmtheoretiker Chris Rodley als „Mr. Contradiction“ (engl. Ungereimtheit, Zwiespältigkeit) bezeichnet wird. (Vgl. Rodley, Chris: David Lynch: Mr. Contradiction. In: Jim Miller (Hrsg.): American Independent Cinema. A Sight and Sound Reader. London: British Film Institute 2001. S. 206) Der plötzliche Wechsel von Namen und Identitäten, Zeit- und Handlungsebenen verunsichert den Zuschauer extrem.
Man versucht permanent alles zu einem ergiebigen Puzzle zusammenzufügen, aber hat man eine offene Frage scheinbar richtig beantwortet, so stellen sich zugleich mehrere neue Fragen. Auch die Auflösung der Handlung, dass die ersten beiden Drittel die geträumte Version von Dianes Realität sind, bietet keine befriedigende Entschlüsselung des Filmes: So wird sie beispielsweise auch nachdem sie erwacht ist, von ihren Traumgestalten heimgesucht. Zudem gibt es Szenen, die mit der Realität scheinbar in keinerlei Beziehung stehen.
Auch beim Vergleich mit David Lynchs komplettem Œvre wirkt eine solch einfache Auflösung viel zu banal. Personen und Räume in Lynchs Filmen scheinen einer ständigen Negation unterworfen zu sein. Es können keine physikalischen Gesetzmäßigkeiten mehr geltend gemacht werden. Eine Person kann sich hier auch außerhalb eines Traumes in eine andere verwandeln, zwei Figuren verkörpern oder sich an mehreren Orten gleichzeitig befinden. (Vgl. Höltgen, Stefan: Spiegelbilder. Strategien der ästhetischen Verdopplung in den Filmen von David Lynch. Hamburg: Verlag Dr. Kovac 2001. S. 21) Die beiden Konstruktionen erzählerischer Rationalität , das „Und dann“ der Abfolge und das „Deshalb“ der Erklärung werden verweigert. Die Wirklichkeit und der Traum werden zu freien Elementen der Komposition, weil sie sich den traditionellen Ordnungen und Unterordnungen von Sinnbild und Abbild im Kino entzogen haben. ( Seeßlen, Georg: Die Faszination des Schreckens in 'Wild at heart‘ von David Lynch. In: Andreas Rost und Mike Sandbothe (Hrsg.): Die Filmgespenster der Postmoderne. München: Verlag der Autoren 1998. S. 109)

Teil IV
Schlussfolgerung

Bei der Betrachtung der beiden Filme hat sich herausgestellt, dass das Motiv des Doppelgängers allem voran dazu dient, die Verdoppelung von Identität darzustellen.
Dabei finden sich sowohl in Ingmar Bergmans Persona als auch in David Lynchs Mulholland Drive verschiedene Arten des Doppelgängers, die aber eng miteinander verwandt zu sein scheinen und miteinander in Beziehung stehen. So findet man in beiden Filmen das Motiv der Schauspielerei, welches sich auch auf die Realität übertragen lässt, da die Protagonistinnen in beiden Filmen im Sinne von C.G. Jung darauf angewiesen sind, auch in ihrem Alltag stets eine Persona, eine Maske, zu tragen um sich den gesellschaftlichen Normen anzupassen. Dann finden sich in beiden Filmen immer wieder Spiegelbilder, die dazu dienen die eigene Identität zu erkennen, aber auch zu hinterfragen. Das Motiv des Zwillings kann man als Weiterentwicklung einer Spiegelung sehen, da hier beide Doppelgänger unabhängig voneinander agieren können. Dadurch werden oft Gegensätze dargestellt, die aber abhängig sind von ihrem jeweiligen Gegenpart. Beide Zwillinge gehören zusammen, stehen für zwei Teile eines großen Ganzen. Ein Alter Ego schließlich ist eine Doppelgängerfigur, die aus einer Identitätsspaltung entstanden ist. Sie kann entweder psychologische oder soziologische Hintergründe haben.
Ein Doppelgänger kann leicht zu einer Irritierung des Zuschauers führen. Das Wissen um seine eigene Identität bietet ihm Sicherheit. Wenn nun individuelle Identität in Frage gestellt wird, fühlt sich der Zuschauer schnell verunsichert. Typisch für einen postmodernen Film, verspürt der Zuschauer den Drang, seiner Verunsicherung entgegenzuwirken, indem er versucht, eine Erklärung für die einzelnen Handlungselemente zu finden. Auf der Suche danach wird er aber immer weiter in den Interpretationsstrudel hineingezogen, aus dem es kein Entkommen gibt. Es kann keine befriedigende endgültige Entschlüsselung der Filme Persona und Mulholland Drive geben.
Georg Seeßlen beschreibt ein postmodernes Kunstwerk als „eine Art Schizophrenie-Maschine, die sehr viele Menschen mit gänzlich unterschiedlichen Erwartungshaltungen ebenso ansprechen kann, wie einen Menschen zugleich auf sehr unterschiedliche Weise“. (Vgl. Seeßlen, Georg: Ein postmodernes Welt-Bild aus den USA. David Lynch und das amerikanische Mittelalter. In: Jürgen Felix (Hrsg.): Die Postmoderne im Kino. Ein Reader. Marburg: Schüren Verlag 2002. S. 220) Demnach sind nicht nur die Protagonistinnen der Filme immer wieder verdoppelt, sondern auch die Filme an sich haben „multiple Persönlichkeiten“.

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Screenshot aus: Bergman, Ingmar: Persona. 1966. Min. 36:34
Abbildung 2: Screenshot aus: Bergman, Ingmar: Persona. 1966. Min. 36:49
Abbildung 3: Screenshot aus: Bergman, Ingmar: Persona. 1966. Min. 77:33
Abbildung 4: Screenshot aus: Bergman, Ingmar: Persona. 1966. Min. 24:40
Abbildung 5: Screenshot aus: Bergman, Ingmar: Persona. 1966. Min. 65:59
Abbildung 6: Screenshot aus: Bergman, Ingmar: Persona. 1966. Min. 69:55
Abbildung 7 / Titelbild: Screenshot aus: Bergman, Ingmar: Persona. 1966. Min. 71:16

Abbildung 8: Screenshot aus: Lynch, David: Mulholland Drive. 2001. Min. 24:03
Abbildung 9: Screenshot aus: Lynch, David: Mulholland Drive. 2001. Min. 92:31
Abbildung 10: Screenshot aus: Lynch, David: Mulholland Drive. 2001. Min. 93:39
Abbildung 11: Screenshot aus: Lynch, David: Mulholland Drive. 2001. Min. 115:37
Abbildung 12: Screenshot aus: Lynch, David: Mulholland Drive. 2001. Min. 45:13


Quellenverzeichnis

Filme:
- Bergman, Ingmar: Persona. 1966
- Lynch, David: Mulholland Drive. 2001

Literatur:
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- Aristoteles: Elemente der aristotelischen Logik. Hg. v. Adolf Trendelenburg und Rainer Beer. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1969
- Baudrillard, Jean: Agonie des Realen. Berlin: Merve Verlag 1978
- Baum, Patrick/ Höltgen, Stefan (Hrsg.): Lexikon der Postmoderne. Von Abjekt bis Zižek. Bochum/ Freiburg: Projektverlag 2010
- Blask, Falko: Jean Baudrillard zur Einführung. 3. Aufl. Hamburg: Junius Verlag 2005
- Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1973
- Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1977
- Eco, Umberto: Über Spiegel und andere Phänomene. Zitiert in: Herget, Sven: Spiegelbilder. Das Doppelgängermotiv im Film. Marburg: Schüren Verlag 2009
- Eder, Jens: Die Postmoderne im Kino. Entwicklungen im Spielfilm der 90er Jahre. In: Jens Eder (Hrsg.): Oberflächenrausch. Postmoderne und Postklassik im Kino der 90er Jahre. Münster: LIT 2002
- Fichtner, Ingrid: Vorwort. In: Ingrid Fichtner (Hrsg.): Doppelgänger. Von endlosen Spielarten eines Phänomens. Bern: Haupt Verlag 1999
- Freud, Sigmund: Abriß der Psychoanalyse. Einführende Darstellungen. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2009
- Freud, Sigmund: Das Unheimliche. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2000
- Herget, Sven: Spiegelbilder. Das Doppelgängermotiv im Film. Marburg: Schüren Verlag 2009
- Höltgen, Stefan: Spiegelbilder. Strategien der ästhetischen Verdopplung in den Filmen von David Lynch. Hamburg: Verlag Dr. Kovac 2001
- Nochimson, Martha: The Passion of David Lynch. Wild at Heart in Hollywood. Austin: University of Texas Press 1997
- Ott, Michaela: Gilles Deleuze zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag 2005
- Paul, Sean: Blumen-, Frucht- und Dornenstücke, oder: Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs. Zitiert in: Sven Herget: Spiegelbilder. Das Doppelgängermotiv im Film. Marburg: Schüren Verlag 2009
- Rodley, Chris: David Lynch: Mr. Contradiction. In: Jim Miller (Hrsg.): American Independent Cinema. A Sight and Sound Reader. London: British Film Institute 2001
- Roth, Wolfgang: C.G. Jung verstehen. Grundlagen der Analytischen Psychologie. Düsseldorf: Patmos Verlag 2009
- Schreckenberg, Ernst: Was ist postmodernes Kino? – Versuch einer kurzen Antwort auf eine schwierige Frage. In: Andreas Rost und Mike Sandbothe (Hrsg.): Die Filmgespenster der Postmoderne. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren, 1998
- Seeßlen, Georg: Die Faszination des Schreckens in ‚Wild at heart‘ von David Lynch. In: Andreas Rost und Mike Sandbothe (Hrsg.): Die Filmgespenster der Postmoderne. München: Verlag der Autoren 1998
- Seeßlen, Georg: Ein postmodernes Welt-Bild aus den USA. David Lynch und das amerikanische Mittelalter. In: Jürgen Felix (Hrsg.): Die Postmoderne im Kino. Ein Reader. Marburg: Schüren Verlag 2002
- Sennett, Robert S.: Traumfabrik Hollywood. Wie Stars gemacht und Mythen geboren wurden. Hamburg/Wien: Europa Verlag GmbH 2000
- Schwarcz, Chava Eva: Der Doppelgänger in der Literatur. Spiegelung, Gegensatz, Ergänzung. In: Ingrid Fichtner (Hrsg.): Doppelgänger. Von endlosen Spielarten eines Phänomens. Bern: Haupt Verlag 1999

Internet:
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- http://www.vdfk.de/img/user/0609_final.pdf, abgerufen am 16.03.2012

- http://www.imdb.com/name/nm0000028/bio; abgerufen am 18.05.2012
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