Autorentheorie des Films I

Der Begriff des Autoren, der ganz allgemein am Beginn steht, leitet sich von dem lateinischen Begriff des „auctors“ ab, was in seiner späteren Bedeutung Urheber und Schöpfer bedeutet, ursprünglich jedoch „Mehrer und Förderer“ hieß. Im aktuellen Sprachgebrauch bezieht es sich auf den Verfasser eines – wie auch immer medial vermittelten – Textes, also den Urheber eines Werkes der Musik, Bildenden Kunst, Fotografie, Literatur oder Filmkunst. Auch der in unserem Kontext weit geläufigere Begriff auteur, der synonym für „créateur, instigateur“ oder „inventeur“ steht, entspricht diesem Bedeutungsfeld, wurde jedoch weit früher als der deutsche „Autor“ im Kontext der Filmtheorie verwendet: Als Bezeichnung für einen Regisseur mit einem „stark ausgeprägten persönlichen Stil“ (James Monaco). „Stil“ meint hier die streng persönliche Art und Weise, in der das filmische Werk gestaltet ist, ein ebenso gewichtiges wie umstrittenes Konstrukt in der aktuellen Filmtheorie.
Ende der vierziger Jahre forderte der französische Filmkritiker Alexandre Astruc, sein Kino des „caméra-stylo“ solle die „Probleme so exakt formulieren, [...] wie das heute im Essay oder im Roman der Fall ist.“ Sein Aufsatz zum „Caméra-stylò“ (1948) sollte neben Truffauts Aufsatz „Une certaine tendence du cinéma francais“ (1954) zu einer wesentlichen Programmatik der französischen Nouvelle vague werden. – Alain Resnais verlieh dieser Vision bereits Ende der fünfziger Jahre radikal mit seinen von der Literatur inspirierten und dennoch ausgesprochen experimentierfreudigen Filmen Hiroshima Mon Amour (1958) und L’année dernière à Marienbad / Letztes Jahr in Marienbad (1960) Gesicht. Der „caméra-stylo“ wurde in der deutschen Übersetzung zur „Kamera als Federhalter“, die es dem Filmemacher ermögliche, seine innersten Gedanken auf Zelluloid „niederzuschreiben“. In diesem Kontext bekam auch die „mise en scène“ als Akt des Regieführens neues Gewicht: Im Gegensatz zur Montage, die eine nachträgliche Ordnung schafft, ist damit die Schauspielerführung, Lichtsetzung und Kamerapositionierung gemeint, also der unmittelbare Akt der künstlerischen Entscheidung am Drehort. Inzwischen ist bekannt, dass gerade das amerikanische Mainstreamkino durch gewerkschaftliche Regelungen den Einflussbereich des Regisseurs äußerst beschränkt hält. In Astrucs Idealmodell jedoch bedient sich der Filmemacher seines Filmteams und Schauspielerensembles in vollem Bewußtsein von deren kreativen Fähigkeiten als eines Werkzeuges. Der künstlerische Wille des Regisseurs wird zur autonomen letzten Instanz. „Der Autor schreibt mit seiner Kamera wie ein Schriftsteller mit seinem Federhalter.“ In seiner Verabsolutierung des „Autors“ erinnert Astrucs Definition der Filmemachers durchaus dem „Genie“-Begriff des 18. Jahrhunderts. In der kurzen Epoche des „Sturm und Drang“ galt das „Genie“ als gottähnlicher Schöpfer seiner künstlerischen Werke: Seine Individualität sollte Vernunft und Emotionalität umfassen, seine Schaffenskraft keinerlei ästhetischen oder politisch-moralischen Normen unterworfen sein.
Ungeachtet des Idealbildes des „caméra-stylo“ wirft gerade die nachträgliche Analyse dieses grundlegenden, autonomen künstlerischen Willens einige Probleme auf. Zunächst sind subjektiven Selbstaussagen und Selbstauslegungen Beteiligter nur von bedingtem Wert, da sie nicht selten die – so Roland Barthes Stilbegriff – „geheime Mythologie“ des Künstlers verschleiern oder sich derer häufig nicht wirklich bewußt sind. Die von individuellen Aussagen unabhängige semiotische Filmanalyse betrachtet Kombination und Wirkungsmodelle der in einem bestimmten Werk verwendeten Zeichen und Symbolkomplexe, indem sie die einzelnen Zeichen erst decodiert und dann in ihrem jeweiligen Kontext betrachtet. Auf der ersten Ebene, der Denotation, werden die Zeichen auf ihren stabilen, objektiven Bedeutungsanteil hin untersucht, der für alle Zeichenbenutzen einer Kultur verständlich sein sollte. Hier liegt bereits ein Problem, was die Analyse von Kunstwerken anderer Kulturen betrifft, etwa Filme des asiatischen Kinos, deren westliche Rezeption durchaus auf Missverständnissen aufbauen kann. Findet bereits in den Werken eine kulturelle Übertragungsleistung statt, wie in Wong Kar Weis durchaus postmodernen Filmkonstrukten, ist diese Gefahr geringer, bei Takeshi Kitanos Filmen – die in diesem Grund hier auch leider nicht angemessen gewürdigt werden konnten – ist die Differenz zwischen kultureller Tradition und individueller Obsession für den westlichen Filmwissenschaftler jedoch kaum mehr festzustellen. Auf der zweiten Ebene, der Konnotationsebene, kommen die möglichen subjektiven Anteile des Werkes zum Tragen: Hier wird die für das untersuchte Werk spezifische Kombination und Neukombination der bereits kulturell zugeordneten Zeichenelemente untersucht.
Der Begriff des „Autorenfilms“, der in diesem Kontext augenblicklich in den Sinn kommt, ist angesicht seiner Vieldeutigkeit von sehr geringem Wert für unseren Ansatz der „Splitter im Gewebe“, doch spiegelt seine Entwicklung grob den Weg zu dem aktuellen Ansatz der auteur-Forschung, der auch in diesem Buch zum Tragen kommt. – Bereits 1913 spielte der Begriff des „Autorenfilms“ ein Rolle, meinte jedoch nur, dass in jenem Jahr zahlreiche Werke bekannter Schriftsteller verfilmt worden waren. Der hier interessante Begriff wurde erst in den fünfziger Jahren von den Autoren des französischen Filmmagazins Cahiers du cinéma eingeführt. Viele der Cahiers-Kritiker nahmen die „politique des auteurs“ sehr ernst und wandten sich selbst dem Filmemachen zu, nachdem sie die Autorenqualität klassischer Hollywoodregisseure analysiert hatten: Francois Truffaut, Claude Chabrol, Jean-Luc Godard, Eric Rohmer und Jacques Rivette, um nur einige zu nennen. In der Nouvelle Vague des französischen Films jener Jahre versuchten sie, Alexandre Astrucs Vision vom „caméra-stylo“ zu verwirklichen. Besonders Godards Filme wurden in diesem Kontext vor allem in der späten Phase zu filmtheoretischen Essays, am radikalsten in seinem späten Film mit dem bezeichnenden Titel Nouvelle Vague (1989). Der damaligen französischen Filmproduktion der fünfziger Jahre warfen die Vertreter der Nouvelle Vague stilistische und produktionsästhetische Konformität vor und setzten die gegen die Gesetze des Mainstreamfilms behaupteten persönlichen Stilismen von Alfred Hitchcock und Orson Welles als Vorbilder dagegen. Noch Jahrzehnte später wird Martin Scorsese in seiner Reise durch den amerikanischen Film im Werk eines kommerziellen Regisseurs wie Douglas Sirk die Qualitäten des subversiven „Schmugglers“ entdecken. André Bazin, einer der intellektuellen Wortführer der Nouvelle Vague, formuliert die Qualität eines auteur-Films: „Der Stil wird die interne Dynamik der Handlung, er verhält sich zu ihr etwa wie die Energie zur Materie. [...] Er fügt eine zerstückelte Realität in das ästhetische Spektrum der Erzählung ein.“ Auch der deutsche Filmkritiker Norbert Grob verwies auf einer Autorenfilm-Tagung 1991 zurück auf den französischen Autorenbegriff: „Ich habe wie diese französischen Regiseure nie geglaubt, dass ein Autor nur derjenige sei, der erstens das Buch selbst geschrieben, zweitens die Produktionsmittel in der Hand hat und drittens dann noch die mise en scène. Ich habe immer gedacht: Egal wie die Vorlage aussieht, es kommt auf die Art und Weise an, wie ein persönliches Bild in den Film hineinkommt, nämlich durch einen spezifisch neuen oder anderen individuellen Blick.“
Mit der Unterzeichnung des Oberhausener Manifests 1962 drückten auch junge deutsche Regisseure ihren Willen zum unabhängigen, autonomen Kino aus: Wim Wenders, Rainer Werner Fassbinder, Edgar Reitz, Herbert Vesely und andere machten sich in den folgenden Jahrzehnten des Neuen Deutschen Films ebenfalls an eine Umsetzung vergleichbarer Konzepte. Auch sie hatten in den Werken großer Hollywood-Regisseure wie Douglas Sirk subversive und obsessive Konzepte entdeckt, die sie nun für ihr eigenes Kino adaptierten. Der Filmwissenschaftler Andrew Sarris führte den Begriff des „authors“ 1968 in den amerikanischen Filmdiskurs ein. Im Rahmen des New Hollywood, das sich mit den eigenwilligen Werken von John Cassavetes, Robert Altman, Arthur Penn u.a. zu jener Zeit den europäischen Tendenzen anschloss, aber dennoch genuin amerikanisches Kino schuf, kam es zu einer Popularisierung des auteur-Begriffes. In einer strukturalistischen Strömung wandte sich die Filmwissenschaft jedoch vom bisher herrschenden Maßstab des individuellen Künstlers ab. Der Begiff des „Autors“ wurde wieder so vieldeutig, wie er einst war: Wer der Autor, der eigentliche Urheber eines Films, war, konnte die Filmanalyse mit überraschenden Ergebnissen immer wieder neu feststellen: Wer sich z.B. die Produzentendiktatur des Hollywoodkinos vergegenwärtigt, wird gerade in diesem Bereich eine wichtige Urheberschaft suchen können. Aber nicht nur dort...
Susan Hayward beschreibt in ihren „Key concepts of cinema studies“ die Entwicklung des auteur-Begriffs in einem Drei-Phasen-Modell. In den Jahren der „Autorenpolitik“, den fünfziger Jahren, wurde der auteur als die zentrale Instanz betrachtet, Zuschauer und ideologischer Kontext des Filmemachens blieben unberücksichtigt. Die sechziger Jahren brachten den strukturalistischen Ansatz, der sich bemühte die dem Filmemachen zugrunde liegenden Strukturen zu abstrahieren, also den auteur, die „Filmsprache“, den sozialen Kontext sowie die Insitutionen der Produktion, denn all diese Strukturen produzieren letztlich Bedeutung. Trotz dieser Differenzierung und Erweiterung blieben der Zuschauer und die Ideologie unberücksichtigt. Erst seit dem Poststrukturalismus der siebziger Jahre wird er filmische Text im Kontext der Ideologie gesehen. Als analytische Ansätze kamen die Semotik, die Psychoanalyse, die feministische Theorie sowie die Methode der Dekonstrukion hinzu. Kontext und intertextuelle Bezüge konnten nun weitgehend berücksichtigt werden. Ein eingehenderes Verständnis der zuvor isolierten Elemente kann gerade im Zusammenwirken dieser theoretischen Ansätze ermöglicht werden.
Ein „Stil“ lässt sich allerdings lediglich an einigen filmischen Kategorien deutlich feststellen: Kameraführung, Schauspiel, Montage, Ausstattung, Licht und narrative Struktur. Fatalerweise lassen sich jedoch all diese Kategorien nur indirekt mit der Person und kreativen Leistung des Regisseurs in Verbindung bringen. Seine eigentliche Leistung liegt erst im konnotativen Bereich, also der individuellen Kombination der fremden Einzelleistungen. Was sich letztlich aus diesem Gesamtbild filtern lässt, ist neben favorisierten Handlungsmotiven, Themen, Mitarbeitern und Schauplätzen letztlich das Weltbild des Filmemachers, sein Vision du Monde. Hier ist auch die „private Mythologie“ des Künstlers zu suchen, von der Barthes bei seiner Bestimmung des Stil-Begriffs sprach. Der hier vorherrschende Analyseanasatz entspricht unter Verwendung der oben beschriebenen Erkenntnisse dennoch weitgehend der klassischen Methode der hermeneutischen Analyse. In einem zirkulären Verfahren befragen die Autoren das Werk der Filmemacher ihrer Wahl immer wieder aufs Neue, setzten gewonnene Erkenntnisse und einzelne semiotische Elemente miteinander in Beziehung, um im Laufe ihrer Aufsätze ein tieferes Verständnis der Filme zu erzielen. Dabei wird der entscheidende Einfluss des Regisseurs auf alle Teilbereiche des Films (also mise en scène und Montage) vorausgesetzt. Natürlich ist die Gewichtung der vom jeweiligen Zuschauer wahrgenommenen Elemente rezeptionspsychologisch höchst unterschiedlich, doch auch hier schafft das zirkuläre Verfahren der Hermeneutik zusätzliche Sicherheit. Ein vergleichende Analyse aller Werke des Regisseurs ist hier absolut unabdingbar, um überhaupt eine vergleichbarkeit von Themen und Motiven, aus denen sich die künstlerische Vision du Monde abstrahieren lässt, zu ermöglichen. Erst in der vergleichenden Werkanalyse lassen sich Mittel und Schemata der filmischen Komposition identifizieren und letztlich als „Stil“ beschreiben.
Im folgenden Kapitel möchte ich am Beispiel dreier oberflächlich gesehen spekulativer kommerzieller Spielfilme ein und des selben Regisseurs, der zudem nicht seine eigenen Drehbücher schreibt, geschweige denn seine Filme schneidet, verdeutlichen.

Obsessionen im Mainstream
Der ebenso extreme wie für viele vermutlich verwirrende Fall eines „Splitters“ ist der amerikanische Filmemacher William Friedkin. Weithin ist er durch seine preisgekrönten und äusserst erfolgreichen Filme The French Connection / Brennpunkt Brooklyn (1971) und The Exorcist / Der Exorzist (1974) bekannt. Noch heute wird seine Name mit diesen Titeln verbunden. Ginge es darum, das Herzstück von William Friedkins Oeuvre zu untersuchen, würde ich jedoch von zwei wesentlichen, persönlich motivierten Trilogien sprechen: The French Connection, The Exorcist und Sorcerer / Atemlos vor Angst (1977) behandeln durchaus homoerotisch konnotierte Männerfreundschaften unter extremsten Bedingungen; ich nenne sie die ‘buddy-Trilogie’. Die achtziger und neunziger Jahre jedoch werden von Friedkins Vision einer Innenansicht der amerikanischen Gesellschaft dominiert: die Thriller Cruising (1980), To Live and Die in L.A. / Leben und sterben in L.A. (1985) und Jade (1996) entwerfen komplexe, allegorische Modelle aus einer böswilligen Chirurgenperspektive. Auf diese ‘infernale Trilogie’ möchte ich etwas genauer eingehen, insbesondere, da diesen drei Filme bisher kaum Respekt gezollt wurde.
Der Polizeifilm Crusing erregte im Jahre 1980 Aufsehen in der New Yorker Schwulenszene, da William Friedkin seine Verfilmung des Dokuthrillers von Gerald Walker großteils an authentischen Tummelplätzen der Lederszene von Greenwich Village mit originaler Statisterie inszenierte. In den frühen siebziger Jahren hatte dort tatsächlich ein spezialisierter Lustmörder sein Unwesen getrieben. Mit außergewöhnlicher physischer Präsenz verkörpert Al Pacino hier den anfangs etwas überforderten Undercoper-Cop Steve Burns – Steve „brennt“ –, der als Lockvogel für den homophoben Serial-Killer dienen soll. Der Zuschauer begleitet ihn in die düster-infernalisch ausgestattete Welt der Leder- und S&M-Bars, zu Fisting-Happenings, „Polizei“-Bällen und ritualisiertem „Cruising“ im Central Park. Burns changiert zwischen der bürgerlich-heterosexuellen Beziehung zu seiner Freundin (Karen Allen) und der mattschimmernden Welt der Hypermaskulinität, in der Frauen letztlich keinen Platz mehr haben. Mehrere Szenen legen nahe, daß der Polizist nach und nach dieser Faszination für das Morbide erliegt. Er stählt seinen Körper, trägt die Insignien der Dominanz – Lederjacke, Mütze, Motorradstiefel, Ketten – und läßt sich in seiner Funktion als Lockvogel auf schnellen Sex im Stundenhotel ein, wobei er prompt von mißtrauischen den Kollegen unterbrochen wird. Er wird zum Außenseiter, wandert zwischen den Fronten. Sein Vorgesetzter Edelson (Paul Sorvino) bleibt der einzige – durchaus väterliche – Freund.
In komplex verschlüsselten Sequenzen erzählt Friedkin vom schmalen Grat zwischen ritualisierter und destruktiver Gewalt: Zu Beginn des Films, in einer zermürbenden Szene, wird ein junger Schwuler von dem Killer in einem Hotelzimmer erst durch Fesselung wehrlos gemacht und dann brutal rücklings abgestochen. Das zunächst stimulierende ‘Psychodrama’ des sadomasochistischen Aktes mündet nahtlos in ein Verbrechen, das von Friedkin zudem mit kurz aufblitzenden Pornofragmenten unterminiert wird.
Die folgenden Mordakte sind ihrerseits in szenespezifische Handlungen eingebunden: Versteckspiel im Park, Sex im Pornokino. Es gelingt Burns recht früh, den Killer zu stellen; es handelt sich scheinbar um den repressiven Studenten Stuart Richards (Richard Cox), der die Mordaufträge von seinem imaginierten autoritären Vater erhält. Friedkin legt den ganzen Film hindurch stets Wert auf eine allwissende Perspektive: Die Begegnung zwischen Richards und seinem (in Wirklichkeit verstorbenen) Vater inszeniert er als subjektiven Bruch innerhalb des Erzählflusses in einer kontrastierenden, irreal überstrahlten Sequenz im Central Park. Doch dieses Eindringen in die Subjektive eines Charakters ist ähnlich subtil und wenig eindeutig wie die symbolistische Bildsprache, mit der er von Burns’ sexuellem Wandel erzählt: Erst spät wird auch dessen Beischlaf mit der Freundin zum brachialen Akt. Wenn Burns nach erfolgreicher Aufklärung des Falles vor dem Spiegel steht, offenbar der Film schließlich sein eigentliches Anliegen: Burns finaler Blick in den Spiegel legt nahe, daß er selbst das Erbe des Killers übernommen hat. In der vorangehenden Sequenz wurde bereits ein weitere Leiche gefunden; der Tote lag mit Burns in eifersüchtigem Streit. Und Richards weilte zum Zeitpunkt der Tat bereits im Krankenhaus. Edelson scheint die Zusammenhänge zu ahnen... – Der Killerinstinkt gleicht einem Virus, der von den Beteiligten und Unbeteiligten nach und nach Besitz ergreift: Pazuzus dämonisches Erbe aus The Exorcist wirkt in die amerikanische Gegenwart nach. Der Verlust des Glaubens und des Vertrauens, den der vorhergehende Horrorfilm noch auf quasireligiöser Ebene diagnostizierte, verwurzelt sich im Herz der Großstadt. In einer sanften Überblendung endet der Film im Boston River, in dem bereits zu Beginn ein abgeschnittener Arm gefunden wurde. Ein verstörender Kreis schließt sich. Erst jetzt erscheint der Titelschriftzug des Films, begleitet von Willy de Villes niederknüppelnden Gitarrenakkorden. Cruising wurde vor allem hierzulande als effekthascherischer Horrorthriller unterschätzt, sogar als schwulenfeindlich abgetan. Läßt man sich jedoch auf den Film ein, wird folgendes Problem evident: Friedkin bedient sich der apokalyptischen, ‘modern primitiven’ Ausstrahlung der Lederszene als Allegorie: In modrigen Farben, mit gewohnt dokumentarischer Kühle visualisierte er die sexuelle Bizarrerie als Untersicht der auf Gewalt gegründeten, patriarchalen amerikanischen Gesellschaft. Obwohl er dabei nicht gerade respektlos und letztlich voller Faszination zu Werke geht, kann er jener gerade mit Emanzipationsbedürfnissen beschäftigten Randgruppe kaum gerecht werden. Die Akribie, mit der er die Clubszenarien der Prä-AIDS-Ära entfaltet, könnten jedoch authentischer kaum sein. Zahlreiche der Sexakte inklusive des Personals spiegeln einen offenbar authentischen Teil der Szene und werden mit Hilfe harter Rockrythmen und Schnitte behutsam dramatisiert. Mit Steve Burns nähert sich der Zuschauer erst erschreckt, dann fasziniert jener todessehnsüchtigen sexuellen „Vorhölle“, die jedem puritanischen Republikaner nur ein Dorn im Auge sein kann. Über The Exorcist hatte der Regisseur verlauten lassen, er hätte den Film bewußt „stillos“ gehalten, um den erschreckenden Geschehnis durch dokumentarische Wirkung eine eigene Authentizität zu verleihen. Für Cruising gilt diese These nur oberflächlich. Tatsächlich ist dies der Versuch, eine objektiv erzählte Thrillerhandlung in ein apokalyptisches Horrorszenario münden zu lassen, ohne sich der plakativen Spezialeffekte des Horrorkinos zu bedienen.
Erst fünf Jahre später gelang Friedkin erneut eine persönlich gefärbte Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Traum(a): Er beginnt zu den nihilistischen Popakkorden der Popband Wang Chung – ein experimentierfreudiger Soundtrack, der zwischen hämmernden Ryhthmen und unheimlichen Ambientpassagen changiert – mit einem blutrot dräuenden Sonnenaufgang über L.A.. Der Präsident wird kommen; die amerikanische Flagge knattert im Wind. Betulich sichern sonnenbebrillte FBI-Agenten das VIP-Hotel. Ronald Reagan spricht dazu aus dem Fernseher. Der aufstrebende, junge Chance (William L. Petersen) beweist unvermittelt einen sicheren Instinkt: Statt zusammen mit dem Präsidenten verflüssigt sich der palästinensische Kamikaze-Terrorist alleine über den Dächern der funkelnden Stadt. Chance’ älterer Partner jedoch fühlt sich „zu alt für den Scheiß“. Schon am nächsten Tag wird ihn der skrupellose Geldfälscher Rick Masters (Willem Dafoe) für immer in den Ruhestand befördern. To Live and Die in L.A. entfaltet nur vordergründig die Geschichte eines manisch aggressiven Bullen, der seinen väterlichen Freund rächen will. Friedkins Film schildert einen Zustand; den Zustand der staubigen, korrupten Stadt L.A., den Zustand einer verwüsteten, von Haß zerfressenen Gesellschaft: Ein fataler Schmelztiegel – nur wenige Momente vor Rodey King – so scheint es. „I can’t get away / To live and die in L.A.,“ singen Wang Chung. Neben den giftgrünen Lettern des Titels, das nicht von Ungefähr an die verlogene Neonästethik der damals populären Polizeiserien erinnert, schlägt eine Kugel ins Bild: der Blutstropfen rinnt nach unten und formt ein Palme, das Wahrzeichen Kaliforniens. Wieder interessieren den Regisseur komplexe Personenkonstellationen und -transformationen: John Vukovich (John Pankow) wird seinem Partner Chance zunehmend ähnlicher, gewöhnt sich dessen Cowboy-Gang an und übernimmt nach dessen Tod sogar die erpreßte „Geliebte“ (Darlanne Fluegel); als der außergewöhnlich grausame Masters, seines Zeichens gescheiterter Maler, erstmals seine Freundin Bianca (Debra Feuer) in ihrer Garderobe besucht, hält man sie für einen Mann, bis die Kurzhaarperücke ihre langen roten Locken freigibt; später wird Masters ihr eine junge Tänzerin als Geliebte „schenken“; diese übernimmt seinen Platz, nachdem ihn Vukovich erschossen hat. Die Orientierung wird willkürlich, unbedeutend, jeder ist ersetzbar; getötet wird aus Prinzip, und seien es die eigenen Leute. Jeder verrät jeden aus einem diffusen Überlebenstrieb, der letztlich die Meisten auf der Strecke läßt. Vukovich „übernimmt“ zwar Chance’ Position und Leben, Friedkin zeichnet sein Scheitern jedoch mit einem genialen Clou vor: Nach dem Abspann, dem eine nächtliche Autofahrt unterlegt ist, zeigt er erneut den noch lebenden Chance im Halbschatten auf dem Bett der Geliebten, ein ungewöhnliches Wagnis in einer Zeit, in der der Abspann üblicherweise bei voller Beleuchtung ignoriert wird. Aber Friedkin vertraut auf das ‘Gesamtkunstwerk’, die untrennbare Summe der Komposition erlesener Zutaten. Es verwundert heute, daß dieser mittelmäßig erfolgreiche ‘Actionfilm’ von der Kritik seinerzeit als ‘Auswuchs der Videoclip-Produktion’ rezipiert wurde: noch schneller, noch härter, noch lauter. Natürlich hakt er diese Attribute mit der linken Hand ab, sei es durch die rasante Verfolgung durch die Hochwasserkanäle und gegen den L.A.-Freeway, seien es die blutrünstigen Shoot-Outs, in denen nahezu alle Protagonisten ihr Leben lassen (ähnlich wie David Lynch und George A. Romero attackiert Friedkin stets den Kopf, also den Sitz des Intellekts). To Live and Die in L.A. ist die Essenz des Polizeifilms seiner Zeit und in dieser Funktion vergleichbar universell wie sein Titel: Die Geschichte interessiert kaum – sie entstammt einem etwas vulgären Thriller von Gerald Petievich –, Friedkin reflektiert die Befindlichkeit seiner Zeit in allegorischen, teils überspitzten Bildern von niederknüppelnder Heftigkeit. Nicht mehr die Düsternis und Kälte von Cruisings New York, sondern der grelle, hektische Entertainment-Touch der kalifornischen Metropole drängt sich unangenehm in den Vordergrund. Über The Exorcist hatte Friedkin gesagt, er hätte ihn „ohne einen bestimmten“ Stil inszeniert, um durch semidokumentarische „Authentizität“ den Schrecken der irrationalen Ereignisse noch zu steigern. Und gleichzeitig sagt er, jener Film spiegle tatsächliche Ereignisse auf eine „persönliche Weise“ wieder. Akzeptiert man dieses Statement auch für Cruising und To Live and Die in L.A., bleibt letztlich kaum mehr von Interesse, als der Versuch eines infernalen Gesellschaftporträts: labyrinthische, fragmentierte Städte, von Finsternis oder Staub überzogen, virenhaft grassierende Gewalt, korrupte, austauschbare Charaktere auf allen Ebenen. Sexuelle Extremformen bieten ebensowenig ein Entkommen wie Rick Masters an Bacon orientierte Kunstwerke, die er gleich zu Beginn des Films verbrennt.
Friedkins Filme sind komplex, schwer greifbar beim ersten Sehen. Zu einem unverwechselbaren Merkmal seiner Handschrift sind die verstörenden Flashbacks oder Vorausgriffe geworden. Diese Zerstörung einer linearen Zeit, die ähnlich bei Nicolas Roeg vorkommt – wirft Fragen auf, die erst spät, oft zu spät erklärt werden, und den Rezipienten zum immer neuen Überdenken zwingen. Seit The Exorcist benutzt er auch immer wieder Subliminalbilder: Einzelbilder von 1/24stel Sekunde Länge, die vom Betrachter im Idealfall nur unterbewußt wahrgenommen aber dennoch identifiziert werden können. In The Exorcist war es noch eine Dämonenfratze, die an zwei Stellen des Films mehrmals eingeblendet wird. Die Wirkung gleicht der eines raschen deja-vu’s, eines kurzen Irritationsmomentes im alltäglichen Leben. In Cruising und To Live and Die in L.A. kommt diese Technik im weiteren Sinne zur Anwendung, wenn eine große nervliche Anspannung der Protagonisten vermittelt werden soll. Als Vukovich etwa während der Verfolgungsjagd auf dem Rücksitz der Angstschweiß ausbricht, wird Chance’ Adrenalinfieber durch einen minimalen Schnitt auf Chance beim Bungee-Jumping dazu kontrastiert. Auch Vukovich wird später jene Adrenalinsucht übernehmen, wenn er Masters in einer übermenschlichen Anstrengung tötet.
In seiner Kritik an Friedkins Spätwerk, speziell Jade, schrieb Larry Gross in dem britischen Filmmagazin Sight and Sound: „Sein Hauptwerk war drastisch, nahezu pervers persönlich.“ Der von Joe Eszterhas verfaßte Erotik-Thriller Jade schien dagegen auf den ersten Blick nichts weiter zu sein, als ein modischer Trendsetter, einer jener Nachfolger von Paul Verhoevens Basic Instinct (1992). In San Francisco wird ein einflußreicher Politiker brutal mit einer afrikanischen Axt erschlagen. Spontan verdächtig für den etwas melancholischen Detective Corelli (David Caruso) ist die Psychologin Trina Gavin (Linda Fiorentino), die das Opfer als letzte leben gesehen hat. Ihr Mann, der bekannte Rechtsanwalt Matt Gavin (Chazz Palminteri) nimmt sie jedoch bedingunslos in Schutz. Während die Spuren des Verbrechens bis zu dem Gouverneur Kaliforniens (Richard Crenna) führen, der vom Opfer mit Sexfotos erpreßt wurde, machen sich die langsam die Tücken der Personenkonstellation bemerkbar: Trina war früher Corellis Geliebte, entschied sich jedoch für seinen besten Freund Matt. Corelli ist Trina immer noch erlegen, sucht insgeheim nach Indizien ihrer Unschuld... Trina jedoch ist die Prostituierte Jade, die es für den Toten in einem Küstenhaus mit Politikern trieb. Corelli bemerkt, daß seine Ermittlungen aus den eigenen Reihen sabotiert werden; eine Zeugin wird ermordet und es wird deutlich, daß Trina als Sündenbock herhalten soll. Natürlich ist es der Gouverneur, der sich Verdachtsmomente vom Hals halten und auch Trina ermorden lassen will... Am Ende gesteht Matt den ersten Mord gegenüber Trina. Sein letzter Satz ist: „Wenn wir uns das nächste Mal lieben, möchte ich, daß du mir Jade vorstellst!“
Jade präsentiert zunächst ein Konglomerat an Eszterhas’ bevorzugten Handlungsfragmenten; wieder ist eigentlich von Beginn an klar, wer der Mörder ist (die Manschettenknöpfe), wenn auch nicht gar so dreist wie in Basic Instinct, der behauptet, die Mörderin zu Beginn wäre eventuell nicht Sharon Stone... Was Friedkin gereizt haben dürfte, sind neben äußerlichen Versatzstücken die eigentlichen Themen: die umfassende Korruption und das Herausbrechen unterdrückter Leidenschaften in einem System sozialer Masken. In der Welt von Jade sind die Protagonisten ihren Begierden und Träumen wehrlos ausgeliefert. Sie driften zwischen Lüge und Geheimnis. Es ist ihnen kaum möglich, die strengen Rituale der Lederszene aus Cruising zur Initiation zu nutzen oder sich dem selbstmörderischen Adrenalinrausch der FBI-Leute aus L.A. zu ergeben. Folglich ist es auch eine andere Jagd, die in Jade stattfindet: Die Jagd im Kreis. Eine befreiende Weite, die es in L.A. geben muß, fehlt. Gewalt entlädt sich nie nach außen, sondern führt zur Implosion: Das Fluchtauto pflügt langsam durch einen chinesischen Neujahrszug und hinterläßt zahlreiche Verletzte; die kurvigen Straßen taugen kaum zur linearen Bewegung. Jades Jagden sind stockend, unterbrochen, eher von Ruhe als von Atemlosigkeit geprägt. Auch hier spiegelt sich ein eruptives „Aufbegehren“ angestauter Energie. Und stets sind die Verletztungen deutlich und verheerend (etwa, wenn Angie Everhart zweimal von einem Auto überfahren wird). Wieder sind es die Köpfe, die attackiert werden.
Ein kommerzielles Projekt wie Jade läßt einem Regisseur kaum Freiheiten im Umgang mit der Materie. Doch Friedkin hat sein Handwerk gelernt. Er läßt das Geschehen auf unvergleichlich stilvolle Weise von der gleitenden Kamera umschmeicheln, benutzt mit Loreena McKennitts „The Mystic’s Dream“ ein hypnotisches Leitthema und schafft es derart erst recht, aus den Schocksequenzen krass kontrastierende Höhepunkte zu kreieren. Seine Inszenierung von Details, vor allem der afrikanischen Maske im Haus des ersten Opfers, erreicht alptraumhafte Qualitäten. Wieder verweigert der Regisseur eine Erlösung aus dem „freien Flottieren der Begierde“. Von den Kellern New Yorks, über die Freeways L.A.s bis zu den Villen San Franciscos herrscht eine brütende Repression, die den Killervirus gedeihen läßt – jene neue „Krankheit zum Tode“. William Friedkin – Marcel Proust-Verehrer ersten Ranges – hält traurig das Banner von Hollywoods neuem fin de siècle: „Das US-Kino war einmal eine Kunstform, jetzt ist es korrupt und kaputt wie ganz Amerika“ resümierte der „radikale, nahezu pervers persönliche“ Filmemacher William Friedkin 1996.

Die authentische Geste in einer Welt der Simulakren
Bei William Friedkin, wie bei allen anderen Filmemachern, die in diesem Buch gewürdigt werden, gibt es, um wiederum auf Norbert Grob zu verweisen, „jenseits der Stoffebene eine Obsession auf der Ebene von Bildern, von Rhythmen, meinetwegen von Musikalität, womit sowohl die Geschichte als auch der Stoff verwandelt wird. Und genau das ist ein Kinoautor – ob er nun erfolgreich ist oder nicht.“ Dabei ist gerade in den letzten Jahrzehnten ein Problem hinzugekommen: Der Film der neunziger Jahre, der noch immer in einer – wenn man so will – postmodernen oder postklassischen Phase verfangen ist, muß sich der stereotypen Bilder und Klischees, die er benutzt, wohl bewußt sein. Zitat, Intertextualität und Selbstreferentialität sind inzwischen zu Stilmitteln geworden, auf denen gerade eine neue Generation von Filmemachern ihr Kino der Affekte aufbaut, das häufig an seinem bewußten Gestus des Künstlichen krankt. Wenn der Film der unmittelbaren Gegenwart in seiner Funktion als Kunstwerk noch jene ‘Wahrhaftigkeit’ vermitteln möchte, die von jeher beständigen Werken zuerkannt wird, muss sich der Filmemacher zudem – vielleicht sogar innerhalb einer „persönlichen Mythologie“ – auf die Suche nach einer Subversion der in allgemeiner Medienkompetenz verankerten Standardmechanismen machen.
Das künstliche Bild – das filmische Simulakrum – als solches zu kennzeichnen und bloßzustellen, überwindet es nicht gleichzeitig. Jean-Luc Godard hatte bereits seit den fünfziger Jahren nach jenem geeigneten Abstand gesucht, um die latente Unwahrheit des filmischen Systems zu formulieren. Mehrere aktuelle Versuche in dieser Hinsicht unternahm auch der amerikanische Regisseur und Drehbuchautor Oliver Stone: In der Serial-Killer-Groteske Natural Born Killers (1994) betreibt er das eklektische Spiel der Zeichen mit dem ernsthaften Gestus des seherischen Moralisten, der auf den unzähligen Verweisen zunächst einen schwarzen Humor aufbaut, jedoch letztlich die Hoffnung hegt, seine brutale Mediensatire habe kathartischen und bewußtseinserweiternden Charakter. Tatsächlich erzwingt er in einer streng kalkulierten Struktur aus unterschiedlichen visuellen Stilen, Musikgenres und Schauspielertypen eine ‘Implosion’ der Zeichen. ‘Implosion’ bezeichnet die wechselseitige Aufhebung der Bedeutung von benutzten Zeichen. Sein scheinbar konsequent strukturiertes Flechtwerk führt langsam ins delirierende Chaos und richtet durch oft willkürliche Neucodierung eine sich selbst zersetzende Mixtur der Bilder und Töne an. Besonders deutlich wird dieses Phänomen in der zentralen Vergewaltigungssequenz: Auf den Wänden und im Fernseher sind Bilder aus der Geschichte (Drittes Reich, Vietnam) und bekannten Filmen (The Wild Bunch / Sie kannten kein Gesetz, 1968, von Sam Peckinpah und Scarface, 1983, von Brian de Palma) zu sehen. Reduziert auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, die Aggression, spiegeln sie diffus die seelische Verfassung des Protagonisten und bringen bedenkenlos eine zwiesplältige Allgemeingültigkeit ins Spiel, die sich vordergründig auf ein Geschichtsbewußtsein beruft, im Endeffekt jedoch lediglich historische und filmische Gewalt parallelisiert. Stone inszenierte hier und stärker noch in dem folgenden ironischen Thriller U-Turn (1997) ein Simulakrum der neuen Generation: Natural Born Killers – so müsste die Kritik lauten – ist nicht mehr eine funktionierende Satire, sondern nur noch das Modell einer Mediensatire und insofern ein Simulakrum. Es ist zu vermuten, daß Stone in der Vielzahl an Perspektiven – einer Summe von Subjektiven – die Möglichkeit sieht, der Vielschichtigkeit der Realität ein angemessenes Abbild gegenüberzustellen. Einen anderen Weg wählt der Franzose Luc Besson, der mit dem Mysterythriller Subway (1985) dem postmodernen Kino Frankreichs, dem cinema du look, einen viel zitierten Prototyp geliefert hatte. Bereits zu Beginn der neunziger Jahre – und vor allem in Léon (1994) – suchte er nach der Möglichkeit, mit Hilfe populärer und klassischer Genrestrukturen und Zitate ein neues ‘authentisches’ Kino der Gefühle zu erschaffen. Léon genügt sich nicht mehr in seiner Funktion als distanziertes, augenzwinkerndes postmodernes Spiel, sondern will seine groteske Liebesgeschichte zwischen dem tumben Killer und dem zwölfjährigen Mädchen ernst genommen wissen. Besson konstruiert also aus klassischen Versatzstücken und von der Basis einer umfassenden populärkulturellen Medienkompetenz aus ein melodramatisches, „neoklassisches“ Kino. Populäre Versatzstücke aus Film- und Popgeschichte (von der Typenbesetzung bis zur Musik) stellen hier die Medien der ‘ästhetischen Infektion’ des Zuschauers dar und appellieren über die zielsichere Aktivierung der Affekte direkt an dessen Emotionen. Bessons Vision von einer neuen Authentizität ist damit jedoch nicht anti-intellektuell, sondern trans-intellektuell: Sein Film ist sowohl rein affektiv, als auch intellektuell analysierbar, und bemüht sich, durch die Aktivierung der im Mediengedächtnis des Zuschauers gespeicherten Eindrücke eine intensive emotionale Reaktion hervorzurufen. Jürgen Felix zeichnet in seinem Aufsatz „Schnittstellen der Identität“ einen ähnlichen Weg von der gepflegten Künstlichkeit zur Re-Authentisierung des Kinos am Werk von David Lynch nach, dessen rein aus Medienstereotypen konstruierte Figuren in Wild at Heart (1990) bereits vor Lost Highway (1996) – einer radikalen Hinwendung zur Subjektivität – nach einer zwar ironischen aber dennoch rudimentär authentischen Rezeption verlangten: „Wenn ich [...] von ‘Schnittstellen der Identität’ spreche, so meint das zweierlei: einmal die Art und Weise, wie sich diese Identitäten im Anschluß an mediale Vorbilder konfigurieren, zum anderen diejenigen Bruchstellen, die diese Selbstbilder durchziehen.“ Eine derartige Metatechnik korrespondiert mit dem von Roland Barthes beschriebenen „Mythos zweiter Ordnung“ : Die Filmemacher bauen mit ihren Zeichensystemen jeweils auf bereits etablierte Mythen erster Ordnung auf. Die Vertreter des Kinos der Gegenwart sind sich darüber bewußt, daß es lediglich aus der ständigen Wiederholung des Bekannten ein mehr oder weniger perfektes Simulakrum der (historischen) Wirklichkeit konstruieren kann, und die Rezeption ihrer Selbstbilder als ‘authentisch’ nur auf bewußten Brüchen mit den Stereotypen basieren kann. Aber hier liegt zugleich die Chance dieses neuen Kinos. Durch den medienkompetenten Rekurs, die konstruktive Arbeit mit dem Zuschauer, wird die Reauthentisierung der Bilder und der neuen Mythen möglich.
Einige dieser konstruktiven aber dennoch ‘unbequemen’ Splitter im Gewebe der internationen Filmlandschaft, im weitesten Sinne auch des cinematografischen Mainstreams, sollen also hier gewürdigt werden – angefangen bei einem der einflußreichsten Querdenker des modernen Films, Sam Peckinpah, bis zu dem aktuellen, nahezu poppigen Werk des deutschen Filmemachers Tom Tykwer. Ihre grob chronologische Anordnung entspringt weniger einem filmhistorischen Impuls als vielmehr dem Bedürfnis, einer hierarchischen Anordnung vorzubeugen. So wünsche ich dem wachen und aufgeschlossenen Leser und Filmkenner seine ganz eigenen Entdeckungen in diesem Buch, das ebenso überfällig wie – hoffentlich – unbequem in der deutschsprachigen Filmliteratur steht wie seine Protagonisten in der Filmwelt.

Literatur:
Alexandre Astruc: Die Geburt einer neuen Avantgarde: die Kamera als Federhalter, in: Theodor Kotulla (Hrsg.): Der Film, Band 2, München 1964 – Roland Barthes: Am Nullpunkt der Literatur, Frankfurt am Main 1982 – Jan Berg (Hrsg.): Am Ende der Rolle. Diskussion über den Autorenfilm, Marburg 1993 – Werner Faulstich: Die Filminterpretation, Göttingen 1988 – Michel Foucault: Schriften zur Literatur, Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1979 – Susan Hayward: Key Concepts in Cinema Studies, London 1996 – John Hill / Pamela Church Gibson: The Oxford Guide to Film Studies, Oxford 1998 – Thomas Koebner (Hrsg.): Filmregisseure. Biographien, Werkbeschreibungen, Filmographien, Stuttgart 1999 – ders.: Sachwörterbuch Film, Stuttgart 2000 – Ulrich Kurowski: Lexikon Film, München 1972 – James Monaco: Film verstehen. Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg 1996 – Pier Paolo Pasolini: Ketzererfahrungen. ‘Empirismo eretico’, Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1982 – Rainer Rother (Hrsg.): Sachlexikon Film, Reinbek bei Hamburg 1997.